Diese Schuld hat Deutschland nie beglichen
Und übt sich im Vergessen. Oder weißt du, was vor über 100 Jahren in der deutschen Kolonie in Namibia passierte?
Im Bundesarchiv in Koblenz liegt ein unscheinbares Stück Papier. Es ist alt, leicht vergilbt und die schwarze Schreibmaschinenschrift ist verblasst. Der Inhalt hat es in sich:
Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.
Dieser sogenannte
Ein ganzes Volk wurde ermordet. Doch bis 2015 bezeichnete die Bundesregierung dieses Verbrechen nicht als
Wie kann das sein?
Teste dich: Was weißt du über damals?
Berlin, Düsseldorf, Bottrop und Mühlheim an der Ruhr haben eines gemeinsam: eine Lüderitzstraße. Wer dort wohnt, weiß wahrscheinlich nicht, dass sie nach dem ersten deutschen Großgrundbesitzer in Namibia benannt ist, der
Doch in den letzten Jahren wird der deutsche Kolonialismus langsam sichtbarer für die Öffentlichkeit: Gerade macht die Kunsthalle Bremen in einer
Nun will Berlin die Lüderitzstraße und 2 weitere Straßen umbenennen, die nach deutschen Kolonialherren benannt wurden. Sie sollen demnächst wie
Doch mit ein paar Straßennamen ist es nicht getan. Denn Deutschland hatte
Hand aufs Herz, wie gut kennst du dich eigentlich mit der deutschen Kolonialgeschichte aus?
Du wusstest nichts von alledem? Keine Angst, da bist du nicht allein.
Du willst noch mehr über Kolonialgeschichte wissen? Am Ende des Artikels findest du eine kompakte Zusammenfassung der deutschen Kolonialgeschichte!
Koloniale Amnesie: Warum wir nicht über unsere koloniale Geschichte nachdenken
Viele Deutsche haben keine Kenntnisse von der deutschen Kolonialgeschichte. Der Historiker Jürgen Zimmerer bezeichnet das als
- Kurze Dauer: Die Deutsche Kolonialgeschichte hat nur 30 Jahre gedauert. Das ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kurz, da Deutschland erst spät mit der Kolonialisierung begann und, durch den Versailler Vertrag gezwungen, auch deutlich früher damit aufhören musste. Das führt dazu, dass die deutsche Kolonialisierung weniger ernst genommen wird.
- Überlagerung: Die Verbrechen des NS-Regimes überlagern die des Kolonialregimes. Es ist uns zeitlich näher und hat 1945 die deutschen Geschichtsbücher dominiert.
Unserer NS-Vergangenheit begegnen wir nicht nur in unseren Geschichtsbüchern, sondern auch in unseren Städten in Form von Denkmälern und
Die vielen getöteten Herero haben einen »Stolperstein« in Deutschland, und der lebt in Berlin Schöneberg: Israel Kaunatjike. Er ist einer der wenigen in Deutschland lebenden
Im Gespräch mit einem, der den Kolonialismus nicht vergessen kann
Israel Kaunatjike hält Vorträge an Schulen und Universitäten. Er gibt Interviews und demonstriert bei öffentlichen Veranstaltungen – um auf den Völkermord an seinem Volk aufmerksam zu machen. »Ich bin Herero unter Denkmalschutz«, sagt Israel und lacht. Es ist ein herzliches, ansteckendes Lachen, das während des Interviews oft den Raum füllt, obwohl es um ein sehr dunkles Kapitel der Geschichte geht.
Israels persönliche Geschichte begann vor 70 Jahren in der namibischen Stadt Okahandja. Sein Großvater war Deutscher: Otto Müller. Ob sein Vater das Kind einer geheimen Liebschaft oder einer Vergewaltigung war, kann niemand aus der Familie sagen. »Das war nicht so ein Thema«, sagt Israel leise, die blauen Augen zu Boden gerichtet. Der Verdacht jedenfalls ist da.
In Namibia fand die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit erst nach dem
»Wir haben uns erst mal mit der Apartheid beschäftigt. Man kann ja nicht 2 Sachen gleichzeitig bekämpfen«, sagt er und schaut auf die vielen vertrauten Gesichter, die gerahmt an seiner Wohnzimmerwand hängen.
Israel Kaunatjike ist in den 1960er-Jahren nach Berlin gekommen, nachdem er vor dem südafrikanischen Regime geflohen war, und bekam hier Asyl. Er heiratete, zog nach Schöneberg, wurde Familienvater von 3 Töchtern.
Israels hat mit seiner Arbeit ein erklärtes Ziel: Die Bundesregierung soll den Völkermord offiziell anerkennen und Reparationen an die Herero und Nama in Namibia zahlen. Doch davon ist man noch weit entfernt. Bisher hat sich das Auswärtige Amt noch nicht mit Vertretern der Herero getroffen, sondern nur
Die deutsche Regierung aber bleibt zurückhaltend und das hat einen Grund. Für Deutschland geht es hier auch um Geld. Im Januar 2017 fand in New York eine Gerichtsverhandlung statt, bei der Herero die deutsche Regierung wegen Völkermordes verklagt haben. Deutsche Regierungsvertreter waren vorgeladen, erschienen allerdings nicht.
Auf die Frage hin, ob ihn seine Arbeit als Aktivist gerade in solchen Momenten nicht zermürbt, sagt Israel: »Nein, das macht mich eigentlich nicht fertig. […] Was mich deprimiert, ist das, was hier passiert. Was mit dem Rassismus hier in Deutschland passiert.«
Rassismus als direktes Erbe des Kolonialismus
Der deutsche Rassismus und der Kolonialismus sind eng miteinander verbunden. Denn um die Gräueltaten an den afrikanischen Bewohnern der deutschen »Schutzgebiete« zu rechtfertigen, beschworen die Kolonialherren die angebliche »Unterlegenheit der schwarzen Rasse«. Schwarze wurden als primitiv und teils sogar als unmenschlich angesehen – so rechtfertigten von Trotha und Co. ihre Gewalt.
Heute sollten wir diese Ideologien weitgehend überwunden haben. Und dennoch bleiben rassistische Vorurteile in unserem Alltag bestehen – in Büchern, Filmen, anderen Medien und auch in unserem Sprachgebrauch. Das sagt auch Tahir Della. Er ist Vorstandsmitglied der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und war selbst Opfer von Rassismus sowie Ausgrenzung. Er ist der festen Überzeugung: »In dieser Gesellschaft ist es faktisch unmöglich, nicht zu diskriminieren, weil die Gesellschaft davon durchtränkt ist.«
Und wie geht es weiter?
Tahir Dellas Lösung heißt: Dekolonisieren! Daran arbeitet er seit über 30 Jahren – also daran, die kolonialen Denkmuster in unseren Köpfen aufzulösen. So vernichtend sein Urteil über unser Denken ist, so konstruktiv geht er mit dem Thema um.
Um unsere kolonialen Denkstrukturen abzubauen, sieht er folgende Schritte vor:
- Persönliche Dekolonisierung: Jeder einzelne Mensch sollte sein Denken und seinen Sprachgebrauch kritisch hinterfragen. Einen Menschen mit einer anderen Hautfarbe nach seiner Herkunft zu fragen, ist seiner Ansicht nach schon diskriminierend, weil es diesem Menschen zeige, dass man ihn nicht als zugehörig empfindet. Natürlich könne man Menschen nach ihrer Heimatstadt fragen, aber wer mit der Frage »Wo kommst du wirklich her?« nachhakt, der diskriminiert sein Gegenüber, gewollt oder ungewollt.
- Öffentliche Dekolonisierung: Der Abbau kolonialer Denkmuster muss auch im öffentlichen Raum stattfinden. Nicht nur durch die Umbenennung von Straßennamen, sondern auch durch einen reflektierten Umgang in öffentlichen Institutionen. Ein aktueller Aufhänger dafür: das Humboldt-Forum in Berlin. Bei der Debatte geht es um ein 650 Millionen Euro teures Kulturprojekt, das ab 2019 außereuropäische Kunst ausstellen soll. Im Fokus stehen Exponate aus der ethnologischen Sammlung, deren Herkunft die Museumsleitung nicht offenlegt. Viele dieser Exponate stammen aus ehemaligen Kolonien, sind also von Bewohnern der kolonisierten Regionen gestohlen worden. Würde die Museumsleitung die Herkunft und die (unrechtmäßige) Aneignung kennzeichnen, wäre das ein klares Signal dafür, dass kritisch mit der eigenen Kolonialgeschichte umgegangen werden muss. In einem weiteren Schritt müsste dann ermittelt werden, wer Besitzanspruch auf die Exponate hat.
Zumindest für die Aufarbeitung des Kolonialismus gibt es langsam immer mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit in Deutschland – nicht nur beim Thema Straßennamen. Die Nachfahren von General Lothar von Trotha
Der deutsche Herero-Aktivist ist inzwischen 70 Jahre alt. Aber müde wird er nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass wir noch lange nicht mit unserer kolonialen Vergangenheit abgeschlossen haben. Was er sich für die Zukunft wünscht: »Dass die Deutschen die Geschichte anerkennen. Anerkennung ist das Wichtigste – nur so kann die Aufarbeitung weitergehen. So können wir die Zukunft zwischen den Hereros und den Deutschen gestalten.«
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Die Staatsgründung des Deutschen Kaiserreiches brachte auch neue Vorstellungen von einer deutschen Außenpolitik mit sich: Deutschland wollte Weltmacht sein. Immer mehr Politiker, Händler und Banker plädierten für eine Expansion des deutschen Reiches. 1882 gründeten einige von ihnen den Deutschen Kolonialverein, der später um die 15.000 Mitglieder hatte. Das Ziel des Vereins war es nicht nur, wirtschaftlich zu expandieren und neuen Wohnraum für die wachsende deutsche Bevölkerung zu erschließen; das Deutsche Reich sollte weltpolitisch mitmischen können.
Mitmischen wollte auch der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz, der im April 1884 im Südwesten von Afrika Land kaufte. Was dann geschah, sollte später als die Geburtsstunde des deutschen Kolonialismus gelten: Reichskanzler
Auf der berüchtigten Kongo-Konferenz, die von November 1884 bis Februar 1885 in der Reichshauptstadt Berlin tagte, war das Deutsche Reich endgültig in der Mitte des damaligen weltpolitischen Geschehens angekommen. Hier diskutierte Otto von Bismarck mit 13 anderen Staatsoberhäuptern die Aufteilung des afrikanischen Kontinents. Dabei ging es vor allen Dingen darum, Flagge zu hissen und Einflusssphären zu markieren. Die praktische Verwaltung der Territorien oder die Ausbeutung der Bodenschätze war noch kaum Thema. Nach Bismarck war das Ziel der Konferenz, »den Eingeborenen Afrikas den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen, indem das Innere dieses Kontinents für den Handel erschlossen« werde. Wer nicht zu Wort kam bei diesen Verhandlungen? Die Bewohner der neu erworbenen Gebiete. So funktionierte die koloniale Denkstruktur.
Nach Bismarcks Rücktritt im Jahr 1890 wurden die Rufe nach einer noch expansiveren deutschen Kolonialpolitik laut – und das, obwohl der wirtschaftliche Ertrag der deutschen Schutzgebiete relativ gering war. Nach wie vor spielten außenpolitische und Prestigegründe eine Rolle, ebenso wie die Hoffnung, deutsche Auswanderer nicht an fremde Staaten zu verlieren. »Einen Platz an der Sonne« – den wollte Bernhard von Bülow, damals Außenminister im Deutschen Reich, 1897 in einer Rede vor dem Reichstag. Im gleichen Jahr kam zu den deutschen Kolonien in Afrika Kiautschou an der Ostküste Chinas als verpachtetes Gebiet des Deutschen Kaiserreiches hinzu. 1899 folgte Deutsch-Samoa in der Südsee.
Die deutsche Kolonialherrschaft endete nach dem Ersten Weltkrieg. Durch den Versailler Vertrag verlor das Deutsche Reich alle Kolonien, wegen »erwiesener Kolonialunfähigkeit«.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily