Diese Städte haben Touristitis
In Barcelona, Berlin und Amsterdam brennt es. Bist du Teil des Erregers – oder Heilmittel im Organismus Stadt?
Wer sollte schon etwas gegen das Reisen haben? Streifzüge durch fremde Städte und Länder erweitern den Horizont, machen Begegnungen mit anderen Menschen und
Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.
Und schließlich: Reisen ist ein enormer Wirtschaftsfaktor. Einer von 10 Jobs weltweit hängt im Jahr 2017 direkt oder indirekt an der Tourismusindustrie. Immer mehr Menschen packen ihren Rucksack oder ihren Rollkoffer.
Doch es formiert sich Widerstand.
Im Juli dieses Jahres lädt eine Aktivistengruppe aus Barcelona auf Facebook ein
Tourismus tötet unsere Stadtviertel.
Das Video wird über 12.000-mal aufgerufen, fast 300 Facebook-Nutzer bekunden per »Like« ihre Zustimmung.
Weniger krawallig, aber genauso bestimmt in der Botschaft klingen jüngste Meldungen aus Amsterdam. Im Stadtzentrum dürfen keine Geschäfte mehr eröffnen,
Darüber hinaus zeigt ein Flickenteppich aus lokalen
Wie konnte das passieren? Wann wurde das Reisen zum Konsumerlebnis, der Reisende zum Tourist und als solcher zum Hassobjekt von Einheimischen? Und wie können wir unsere Wochenendtrips zu einer Erfahrung machen, von der wirklich alle Beteiligten profitieren? Ich habe in Amsterdam, Barcelona und Berlin nachgefragt.
Amsterdam: Multi- statt Monokultur!
Stephen Hodes lacht, als er hört, wie ich ihn und seine Organisation Amsterdam in Progress gefunden habe: Die Suchbegriffe »Amsterdam« und »Anti-Tourismus« führten mich auf die
»Wir sind natürlich gar nicht gegen Tourismus«, sagt Stephen Hodes, der lange selbst in der Branche gearbeitet hat. In den 1970er-Jahren war der gebürtige Südafrikaner Direktor der niederländischen Tourismusagentur in New York. Heute arbeitet er als Berater. Amsterdam in Progress hat er als Thinktank gegründet, um die politischen Entscheidungsträger seiner Herzensstadt zu beraten.
Das Verhältnis zwischen den Menschen, die im Stadtzentrum leben oder arbeiten, und den Touristen muss ausgeglichen sein. Es ist die gute Balance, die Amsterdam zu einer besonderen und auch zu einer sicheren Stadt macht. Aber langsam übernehmen die Touristen. Die Stadt wird
Er möchte gegensteuern: Im Vorfeld der Kommunalwahlen 2018 werden er und seine rund 70 Mitstreiter sich die Programme der antretenden Parteien ganz genau anschauen: »Erkennen sie das Problem? Welche Lösungsvorschläge bieten sie an? Was ist ihre Strategie?« Mit den Ergebnissen will Amsterdam in Progress die Bürger bei ihrer Wahlentscheidung beraten.
Diese finden in der Innenstadt immer weniger Apotheken, Reinigungen oder Schuster für ihren täglichen Bedarf – dafür ständig neue Fahrradvermietungen, Fast-Food-Läden oder Ticketschalter für die beliebten Grachtentouren. Anfang Oktober zog die Stadtverwaltung die Notbremse und verbot Neueröffnungen dieser Art.
»Eine fantastische Maßnahme«, findet Stephen Hodes. Leider glaube er nicht daran, dass sie vor Gericht Bestand haben werde.
Tourismus ist ein Geschäft mit vielen
Berlin: mit Gesetzen gegen die Wohnungsnot
Berlin, derzeit auf Platz 3 der beliebtesten europäischen Städte, bemüht sich ebenfalls mit gesetzlichen Regelungen um Schadensbegrenzung für seine Bürger. Im Fokus der Berliner »Tourismus-Feinde« steht dabei vor allem der an Besucher vermietete Wohnraum – etwa über den Anbieter Airbnb.
Wo genau liegt das Problem? Das weiß wohl jede, die schon einmal mit zentimeterdicken Bewerbungsmappen in der Hauptstadt auf Wohnungssuche war: In Berlin ist Wohnraum knapp und begehrt.
Immer mehr Wohnungen wurden als Ferienwohnungen genutzt. Die Berliner haben sich auch oft über den Lärm auf den Straßen beschwert. Wir hatten keine konkreten Zahlen, aber es gab Portale, die 12.000 Ferienwohnungen in Berlin meldeten, Tendenz steigend. Dem sollte ein Riegel vorgeschoben werden.
Seit Mai 2014 gilt ein »Zweckentfremdungsverbot« für Wohnraum, das die Vermietung von Ferienwohnungen auf dem ohnehin angespannten Berliner Markt grundsätzlich illegal macht. Viele Eigentümer haben dagegen geklagt. Und nach wie vor liefert die Suche nach Ferienwohnungen in der deutschen Hauptstadt
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes seien 3.500 ehemalige Ferienwohnungen wieder regulär vermietet. »Für Menschen, die in Berlin Wohnungen suchen, ist diese Zahl beachtenswert«, sagt Petra Rohland von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen.
Barcelona: nachhaltiger Tourismus dringend erwünscht
Dass auch in Barcelona Handlungsbedarf besteht, zeigt
Der Tourismus in Barcelona hat sich sehr schnell verändert. Die Einheimischen fühlen sich als Fremde in ihrer eigenen Stadt.
Xavier Font ist Professor für nachhaltiges Marketing an der britischen Surrey-Universität.
Für die Tourismusagentur seiner Heimatstadt Barcelona hat er einen »Action Plan« für nachhaltigen Tourismus entwickelt. Er glaubt nicht daran, dass man alles dem Markt überlassen sollte – aber daran, dass geschicktes Stadt-Marketing ein Schlüssel für die Tür in eine nachhaltige Zukunft sein könnte.
Der Professor kritisiert, dass die Tourismusagenturen oft nur 2 Zahlen im Blick hätten: Die Zahl der Besucher und die Summe dessen, was diese Besucher täglich in der Stadt ausgeben. »Wir müssen auch darüber nachdenken, wofür die Touristen Geld ausgeben.«
Es sei zwar erwiesen, dass Besucher beim ersten Mal mehr Geld ausgeben als beim zweiten oder dritten Trip. Dafür hätten die wiederholten Gäste aber ein anderes Konsumverhalten, von dem die lokale Wirtschaft mehr profitiere. Niemand zahle 2- oder 3-mal Eintritt für den Eiffelturm, »stattdessen kaufen die Touristen vielleicht guten Käse« –
Wir müssen die Leute dazu kriegen, andere Sachen zu machen. Lasst uns Tourismus vermarkten, der eine ehrliche und echte Interaktion zwischen Einheimischen und Gästen befördert – und bei dem die Einheimischen das Sagen haben.
5 Lösungen für die Invasion der Innenstädte
Stephen Hodes weiß, wie schwer Touristen verstehen, dass Barcelona mehr ist als die Sagrada Familia, Berlin mehr als der Checkpoint Charlie und Amsterdam nicht nur aus Rotlichtviertel und Van-Gogh-Gemälden besteht. »Wir sind Herdentiere«, seufzt der Berater.
Er erzählt von einer 3 Jahre alten Studie, bei der GPS-Geräte an jeweils 20 Touristen in einem 5-Sterne-Hotel und in einem Hostel für junge Leute verteilt wurden. »Die Hostelgäste kamen für Sex, Drugs und Rock’n’Roll. Und trotzdem haben sie sich genau wie alle anderen durch die Stadt bewegt. Alle gehen ins Van-Gogh-Museum, alle besuchen das Anne-Frank-Haus, alle gehen entlang der Grachten spazieren.« Für diese Sehenswürdigkeiten sei die Stadt eben bekannt. Die touristischen Hotspots und ihre Anwohner ächzen unter dem Ansturm.
Um das Leben für die Einheimischen erträglicher zu machen und um die echten Begegnungen zu befördern, die auch Xavier Font sich wünscht, greifen die Städte zu kreativen Maßnahmen.
- Berlin bietet eine kostenlose
- Amsterdam wirbt für Hotelaufenthalte außerhalb des Stadtzentrums und hat den Strand im rund 20 Kilometer entfernten Zaandvoort kurzerhand in
- Ebenfalls in Amsterdam ist außerdem ein neuer Terminal für Kreuzfahrtschiffe außerhalb des Zentrums in Planung – ebenso wie in
- Viele Städte verbannen besonders lästiges Touristen-Entertainment wie Segway-Touren oder Bierbikes aus ihren Stadtzentren. Auch der Alkoholkonsum im öffentlichen Raum wird nach jahrelanger Ruhestörung durch laute Junggesellenabschiede oder kommerzielle Kneipentouren mit Hunderten Teilnehmern auf den Prüfstand gestellt – aktuell zum Beispiel
- Barcelona hat den Zutritt zu beliebten Attraktionen wie dem Park Güell beschränkt. Früher kam hier jeder kostenlos rein; nachdem die Besucherzahlen jahrelang wuchsen und Gefahr für die Bausubstanz im Gaudí-Park drohte, müssen Touristen nun Eintritt zahlen. Anwohner können bei der Stadt eine kostenlose Sondergenehmigung beantragen.
Dass es Ärger gibt, wenn vormals öffentlicher Raum zum Teil der Attraktion Barcelona wird, ist klar. Auch im Gespräch mit dem Tourismus-Experten Xavier Font fällt der Vergleich mit einem Disney-Park. Und selbst den Touristen wird es manchmal zu viel mit den anderen Touristen – auch deshalb werden Plattformen wie Airbnb immer populärer.
Früher sind wir an den Strand gefahren, heute fahren wir in Städte. Und wir wollen nicht einfach nur in der Stadt sein, wir wollen in denselben Vierteln wohnen wie die Einheimischen. Jemand hat uns gesagt, dass wir wie Einheimische reisen sollen. Natürlich wollen wir billigen Urlaub – und Ferienwohnungen sind billiger als Hotels. Aber ich glaube nicht, dass das der einzige Grund ist.
Wer muss jetzt handeln?
Länder und Städte geben gesetzliche Rahmenbedingungen vor. Tourismusagenturen entscheiden, wie sich Reiseziele auf dem Markt positionieren. Einzelne Anbieter kümmern sich um das Entertainment und reagieren damit auf die Nachfrage der Touristen – also auch auf deine. Und schließlich haben noch die Bewohner ein Wörtchen mitzureden, die wiederum mit ihrem Kreuz am Wahltag darüber entscheiden, wer für sie die Rahmenbedingungen regelt. Wenn wir nach der Verantwortung für einen guten Tourismus fragen: Haben wir es mit einem Henne-Ei-Problem zu tun?
Xavier Font hält es mit Spider-Man: »Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.« Je wichtiger eine Organisation sei, umso mehr Verantwortung habe sie, den Anfang zu machen. »Wir haben nur eine Regierung und nur eine Tourismusagentur. Dann gibt es die großen Reiseveranstalter und Millionen von Touristen. Ich glaube daran, dass die positiv auf einen nachhaltigeren Tourismus reagieren,
Sowohl Xavier Font aus Barcelona als auch Stephen Hodes aus Amsterdam glauben daran, dass Städte vor allem eines brauchen: eine Vision und einen integrierten Plan, der zuerst die Interessen der Anwohner berücksichtigt.
Das entlässt dich aber nicht aus der Verantwortung.
»Der Tourist muss sich seinen Einfluss auf die lokalen Communities bewusstmachen«, sagt Stephen Hodes.
In meinem Universum ist der ideale Tourist ein Entdecker. Jemand, der wissen will, wie andere Menschen leben und was ihre Werte sind.
Und vielleicht lässt sich das abseits der ausgetretenen Pfade ja viel besser erfahren. In Utrecht, Belgrad oder Pilsen soll es auch ganz schön sein.