So machen wir Schluss mit langen Wartezeiten!
Ärzte gibt es genug. Wir müssen sie nur an die richtigen Orte locken. Wie das gelingt, ist bereits erprobt.
Eigentlich dauert es immer zu lange. Wenn der Kopf dröhnt, die Lunge pfeift oder die Glieder schmerzen, werden die anderen Patienten im Wartezimmer zu Konkurrenten um ein knappes Gut: die Zeit des Arztes.
Das Fundament unseres Gesundheitssystems kränkelt seit Jahren, und die »Infektion« breitet sich zunehmend auch auf Mittel- und Großstädte wie Duisburg oder Bielefeld aus.
Mit Ärztemangel hat das allerdings wenig zu tun.
Das hat Thomas Rampoldt, Geschäftsführer der
Vor der Therapie steht die Diagnose
Am Anfang fiel Thomas Rampoldt eine scheinbar paradoxe Situation auf: Ein Blick auf die Ärztezahlen in Deutschland lässt vermuten, dass alles in bester Ordnung sei. Auf 1.000 Einwohner
Ein Ende dieser Entwicklung scheint nicht in Sicht, denn der Nachwuchs steht weiter Schlange. Die Studienplätze für Medizin sind nach wie vor
Von (zukünftigem) Ärztemangel also keine Spur.
Gleichzeitig aber fehlen bundesweit aktuell mindestens 2.737 Hausärzte. Das sind
Wie kann das sein?
Die 5 Krankheitsherde der Hausarztversorgung
Mit diesem Rätsel vor Augen ging Thomas Rampoldt vor 7 Jahren auf Spurensuche. Wäre er ein Mediziner, hätte er die Antworten vielleicht in der eigenen Praxis gesucht. Als unabhängiger Interessenvertreter für Ärzte konnte er aber einen unbefangenen Blick auf die Gesamtsituation richten. Mit der analytischen Brille auf der Nase machte er 5 zentrale Probleme ausfindig:
- Zu viele Spezialisten:
Dieses System ist darauf angewiesen, dass das Verhältnis zwischen Generalisten und Spezialisten stimmt. Das ist allerdings nicht mehr der Fall. Während Hausärzte fehlen, gibt es bei den Fachärzten kaum offene Stellen. Oder überspitzt gefragt:
Was bringt dir der Urologe bei einer Lungenentzündung?
- Sie wollen dahin, wo’s schön ist: Auch ein junger Arzt auf der Suche nach einem Praxis-Standort wünscht sich eine hohe Lebensqualität, einen Job für den Partner, Kitaplätze für den Nachwuchs.
Um als frisch gebackener Arzt direkt
Können wir es jemandem Anfang 30 vorwerfen, lieber in Berlin als in der Uckermark leben zu wollen? - Sie brauchen ein Privatleben: Aktuell sind über 50% der niedergelassenen Ärzte unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. Sie klagen über zu
Oder soll die Hausärztin während der Behandlung ihrem Säugling die Brust geben? - Die Hausärzte sind zu alt: In vielen Regionen ist rund
Was nutzt es, wenn in einer Kleinstadt zwar noch 5 Hausärzte praktizieren, diese sich aber gesammelt innerhalb der nächsten Jahre in den Ruhestand verabschieden? - Der Hausarzt hat ein Imageproblem: Wessen Leben wirkt aufregender? Das der lässigen Krankenhausärzte von »Grey’s Anatomy«, »Dr. House« und »Emergency Room« oder das des »Landarztes«?
Die meisten Medizinstudenten eifern ersterem nach und die wenigsten wollen als Arzt für »Husten, Schnupfen, Heiserkeit« gelten. Das Spezialistentum verspricht mehr Prestige und Aufregung. So fallen aktuell nur 10% der Facharztabschlüsse auf die Allgemeinmedizin. Um den Bedarf in den kommenden Jahren decken zu können, müsste sich der Anteil nach Schätzungen der ärztlichen Berufsverbände
So viel zu Statistik und grundlegender Theorie des Gesundheitssystems. Auch wenn das System an vielen Ecken und Enden krankt, ist der »Patient Hausarzt« keineswegs ein hoffnungsloser Fall.
Schritt 1: Die Erstuntersuchung
Mit diesen Erkenntnissen im Gepäck organisierte Thomas Rampoldt mit der Ärztegenossenschaft Nord zum Thema neue Versorgungsmodelle erstmals eine Informationsveranstaltung, zu der auch Lokalpolitiker aus Schleswig-Holstein eingeladen wurden.
Wir haben die Bürgermeister gefragt: ›Mensch, wisst ihr denn überhaupt, was da auf euch zukommt?‹
An diesem Abend entstand der Kontakt zu Harald Stender, dem Koordinator der ambulanten Versorgung des Kreises Dithmarschen. Hans-Jürgen Lütje, der Bürgermeister Büsums, komplettierte die Runde, und so wurde sein kleiner Badeort zur ersten »Versuchsperson« für ein bis dahin einzigartiges Modell, um die künftige Hausarztversorgung zu sichern. Wir begeben uns also (zumindest gedanklich) in den kleinen Kurort an der Nordseeküste.
Büsum stand vor der Behandlung exemplarisch für die oben genannten Probleme. Der kleine 5.000-Einwohner-Ort war mit 5 Hausärzten über mehrere Jahrzehnte hinweg medizinisch überdurchschnittlich gut versorgt. 4 von ihnen arbeiteten unter einem gemeinsamen Dach.
Es waren wirklich 4 abgeschlossene Einzelpraxen, jede mit eigenem Tresen, eigener EDV, alles komplett getrennt.
Neben den Einheimischen gehören zu den Patienten auch zahlreiche Touristen, die für eine
Alles lief gut, bis die lokale Ärzteschaft 2014 ein Durchschnittsalter von 63 Jahren erreicht hatte und der kollektive wohlverdiente Ruhestand näher rückte. So begannen die Hausärzte, auf klassischem Wege über
Doch niemand kam. Büsum zeigte erste Symptome des gefürchteten Landarztmangels und drohte vom gesunden Kurort zum kränkelnden Dorf zu werden.
Wie beim Menschen gilt auch hier: Eine langfristig erfolgreiche Therapie behandelt nicht nur die Symptome, sondern versucht, die Ursachen zu beseitigen – und die beginnen bei der Infrastruktur.
Schritt 2: Die Behandlung vorbereiten
Als Erstes wollte die Büsumer Stadtverwaltung einen modernen Ort schaffen, an dem für Ärzte und Patienten in Zukunft aktiv Gesundheit und Prävention stattfinden.
Trotz knapper Stadtkasse wurden 3,6 Millionen Euro in Kauf und Umbau der gemeinsamen Immobilie der 4 Hausärzte investiert. Die
Seit dem 1. April 2014 arbeiten die Mediziner dort in einer Gemeinschaftspraxis zusammen statt nebeneinanderher. Trennende Mauern wurden niedergerissen und aus Einzelpraxen wurde schließlich ein modernes
Schritt 3: Alte Kräfte mobilisieren …
Ein modernes Gebäude allein zaubert noch keine neuen, jungen Ärzte aus dem Hut. Bevor der Nachwuchs in der Tür steht, müssen die erfahrenen Hausarztveteranen noch so lange wie möglich
Es geht ja nicht nur um Versorgung, es geht auch um die Frage: Finde ich überhaupt noch einen Praxisnachfolger? Die Ärzte kommen alle aus ihren eigenen Praxen und sollen zugunsten einer Anstellung auf ihre Selbstständigkeit verzichten. Da gehört am Anfang ein bisschen Überzeugungsarbeit dazu.
Denn die Arbeit in Anstellung hat für ältere Ärzte kurz vorm Ruhestand einige Vorteile: Sie können sich ganz allmählich
Erst jetzt geht es an die eigentliche Kernaufgabe: die Personalgewinnung.
Schritt 4: … und neue Kräfte finden!
Stellen wir uns vor: Eine frischgebackene Fachärztin für Allgemeinmedizin, Anfang 30 und Mutter eines 3-jährigen Kindes, stöbert durch Stellenanzeigen. »Nachfolger für alteingesessene Praxis gesucht« oder »Bieten flexible Anstellung in Voll- oder Teilzeit in modernem Ärztehaus ohne Investitionskosten«. Für welche Stelle würde sie sich wohl eher entscheiden?
Die Möglichkeit zur Teilzeit ist heutzutage zwingend, insbesondere weil 70% der Medizinstudenten Frauen sind. All sowas kann eine Einzelpraxis nicht bieten.
Die neue Struktur (Schritt 2) und die Unterstützung der älteren Kollegen (Schritt 3) geben frischen Kandidaten die Flexibilität, die sie sich wünschen, inklusive Vertretungen bei Krankheit und Urlaubswünschen sowie Teilzeitmodellen. Verwaltungsaufgaben landen nicht auf den Schreibtischen der Ärzte, sondern werden von der
Die Kombination der 4 Maßnahmen hat den Patienten Büsum nachhaltig gesünder gemacht. Der aktuelle Stand zeigt eine klare Richtung: Einer der 4 alteingesessenen Hausärzte konnte sich guten Gewissens in den Ruhestand verabschieden, weil 2 jüngere Kolleginnen in Teilzeit hinzugekommen sind. Das Ärztezentrum entwickelte sich schnell zu einem Gesundheitszentrum, das im Juli 2016 eingeweiht wurde. Denn die neue Einrichtung hat auch andere Neuankömmlinge angezogen, inklusive einer Praxis für Physiotherapie, eines Kurmittelhauses, einer Heilpraktikerin und einer Apotheke.
Das Gesundheitszentrum
Fast klingt es zu schön, um wahr zu sein …
Wo bleiben die Risiken und Nebenwirkungen?
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen zum Konzept: Ärztevertreter fürchten, dass das Prinzip der
2 Befürchtungen, die Thomas Rampoldt zu entkräften weiß:
Es ist nie vorgekommen, und es würde auch nirgendwo vorkommen, dass im Wartezimmer noch Patienten sitzen, und der Arzt sagt: Ich gehe jetzt nach Hause. Die Ängste, dass Angestellte Dienst nach Vorschrift machen und um 16:30 Uhr den Kugelschreiber fallenlassen und das Stethoskop an die Wand hängen, kann ich nicht nachvollziehen.
Eine solch hohe Einsatzbereitschaft muss natürlich entsprechend entlohnt werden. Daher wird im Büsumer Ärztehaus
Trotzdem betont Thomas Rampoldt zum Ende des Interviews erneut, dass die Anstellung von Ärzten durch Kommunen nur als letzte Lösung dienen kann, um die hausärztliche Versorgung im Härtefall sicherstellen zu können:
Für uns ist der Königsweg: Die Ärzte bleiben selbstständig und ziehen in eine größere Einheit zusammen, weil die ambulante Versorgung von der Selbstständigkeit getragen wird.
Am Ende bleibt die Frage nach dem lieben Geld. Ein Projekt wie in Büsum erfordert Investitionen, die den meisten klammen Kommunen sicher nicht leichtfallen. Doch wenn wir kein Geld für die Gesundheitsversorgung von Menschen in die Hand nehmen, wofür dann? Auch wenn niemand eine Erfolgsgarantie geben kann, so ist der potenzielle Gewinn für die Zukunft ganzer Landkreise das Risiko sicher wert.
All das macht das Büsumer Modell zu einer Lösung, die auch an anderen Orten Schule machen könnte. Nach der Übertragbarkeit gefragt, ist Thomas Rampoldt grundsätzlich optimistisch, verweist aber auch auf eine wichtige Bedingung:
Man muss in der Region ein gemeinsames Bild entwickeln zwischen Ärzten und Kommunen.
Denn: Ein innovatives Betreibermodell allein nutzt wenig, wenn nicht alle Betroffenen – (Lokal-)Politik, Ärzte, Kassenärztliche Vereinigungen und nicht zuletzt auch die Bürger – gemeinsam an der Heilung des Hausarztwesens arbeiten.
Titelbild: Nick Savchenko - CC BY-SA 3.0