So kann das Baltikum verhindern, die zweite Krim zu werden
Knapp eine Million Russen leben in Estland, Lettland und Litauen. Viele ohne Pass und kaum integriert. Dass sich das ändert, liegt im Interesse ganz Europas.
Estland, Lettland und Litauen haben die Seiten gewechselt: Bis 1990 Teil der Sowjetunion, gehören die Staaten heute zur EU und zur NATO. Aber seit der Krim-Annexion geht die Angst um, dass Russland wieder nach ihnen greifen könnte.
Denn wie auf der Krim gibt es auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen Minderheiten, die als Vorwand einer russischen Invasion dienen könnten. Um solche Pläne Russlands bereits im Keim zu ersticken, entsendet die NATO nun rund 1.000 Soldaten in die 3 baltischen Bündnisstaaten, darunter auch 500 deutsche Soldaten, die in
Selbstverständlich könnte solch bescheidende Präsenz eine Attacke der übermächtigen Russen nicht verhindern – sie ist eher symbolisch gemeint. Dennoch, oder gerade deshalb, hat die NATO-Präsenz an der »Ostflanke« die Beziehung zwischen Russland und dem Westen belastet.
Eine Minderheit, die keine Minderheit ist
Im Baltikum leben viele
In Litauen dagegen, wo deutsche Soldaten stationiert sind, liegt der Anteil der ethnischen Russen nur bei knapp unter 5%. Der Anteil der Russischsprachigen wird aber auch hier auf
Die Russischsprachigen in den baltischen Staaten sind keine Migranten, sondern teils seit Generationen dort verwurzelt: Schon seit Jahrhunderten leben Russen neben Esten, Letten und Litauern im Baltikum. Bereits im 18. Jahrhundert geriet die Region unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches, das bis zum Ersten Weltkrieg andauerte. Nach dem Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht im Herbst 1944 wurden Estland, Lettland und Litauen als Sozialistische Sowjetrepubliken in die Sowjetunion eingegliedert. Während der Besatzung und mit der starken Arbeitsmigration aus anderen sowjetischen Republiken veränderte sich der Bevölkerungsmix der Region
Staatenlose sind Bürger zweiter Klasse
Nach dem Zerfall der Sowjetunion unterschieden die 3 Staaten zwischen den Bürgern, die bereits vor dem Kalten Krieg dort lebten, und denen, die als sowjetische Arbeitsmigranten ins Baltikum gezogen waren. Erstere wurden automatisch als Staatsangehörige anerkannt – letztere nur in Litauen, das allen Bürgern der vormaligen Litauischen Sowjetrepublik automatisch
In Estland und Lettland hingegen gibt es seit der Unabhängigkeit reale Ängste um den
Das machte bis 1995 rund 1/3 der gesamten Bevölkerung staatenlos, hauptsächlich ethnische Russen und Russischsprachige – sie erhielten »graue Pässe«. Zwar konnte inzwischen ein großer Teil der Staatenlosen
Wladimir Linderman weiß, wie es sich anfühlt, staatenlos zu sein. Der Mann mit dunklem Bart und strengem Blick ist Aktivist in der lettischen Hauptstadt Riga. Dass er keinen lettischen Pass hat, hindert den 59-Jährigen nicht daran, die lettische Regierung ab und zu
Auch Linderman selbst durfte nicht mitwählen. Wie alle Staatenlosen darf er kein Beamter, Polizist oder Armeeoffizier werden und auch viele andere Berufe im öffentlichen Dienst nicht ausüben. Zudem werden Staatenlose oft bei der Rentenberechnung benachteiligt, da Arbeitsjahre außerhalb Lettlands oder der
Grundsätzlich können auch Angehörige einer Minderheit vollwertige Staatsbürger werden,
Politische Teilhabe ausgeschlossen
Bis heute besitzen staatenlose und eingebürgerte Personen kein
Das führt dazu, dass es derzeit keine Partei zum Schutz der Interessen der russischen Minderheit in Estland gibt. Die russischen Teile der Bevölkerung sind politisch nicht vertreten. Die lettische Partei Harmonie, die bei den Parlamentswahlen 2011
Sprache als Machtfaktor
Die Sprachpolitik in Estland und Lettland zielt seit der Unabhängigkeit auf die allseitige Stärkung und Verbreitung der estnischen oder der lettischen Sprache. Russisch hingegen wurde aus dem öffentlichen Leben verdrängt.
Degi Karaew ist wie Wladimir Linderman ein Staatenloser aus Riga, der sich für die Rechte der russischsprachigen Minderheit einsetzt. In diesem Herbst hat er
Wladimir Linderman glaubt, die lettische Regierung habe kein Interesse daran, die Situation der Russischsprachigen zu verbessern oder politische Rechte auszuweiten – was den Integrationsprozess fördern würde. »Sie will, dass wir uns entweder assimilieren und Letten werden oder das Land verlassen. Wir wollen weder das eine noch das andere.«
Die strengen Regeln sind für uns demütigend. Die Sprache dient nicht zur sozialen Integration, sondern zum Ausschluss der nicht-lettischen Bevölkerung aus Politik, Gesellschaft und von Schlüsselpositionen in der Wirtschaft
Benachteiligung im wirtschaftlichen Bereich
Russen und Russischsprachige werden seit dem Zerfall der Sowjetunion auch im wirtschaftlichen Bereich benachteiligt. Im Zuge der Privatisierung, als Ressourcen neu verteilt wurden,
Noch heute sind in beiden Ländern anteilig deutlich
Dass der Arbeitsmarkt im heutigen Lettland entlang ethnischer Grenzen aufgeteilt ist, bestätigt Soziologe Wladislaw Wolkow. Die russischsprachige Minderheit ist im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung in Bereichen wie Bildung und Verwaltung unterdurchschnittlich vertreten, während ihr Anteil in der Industrie und im Transportwesen – also bei Berufen für gering Qualifizierte – überproportional hoch ist. Die staatliche Administration sei sogar zu 95% von ethnischen Letten besetzt, sagt Wolkow. »Die lettische Staatsangehörigkeit und gute Lettisch-Kenntnisse erhöhen die Chancen von Russischsprachigen auf dem Arbeitsmarkt, aber meist nur innerhalb der eigenen Gruppe.« Zwischen Nicht-Letten und Letten entscheidet sich der Arbeitsgeber für letztere.
Die nächste Krim?
Bietet das Misstrauen zwischen Mehr- und Minderheiten einen Nährboden für Abspaltungsbewegungen? Welche Interessen verfolgt Russland im Baltikum?
Die Experten des US-Forschungszentrums
Fördern statt fordern
Der Staatenlose Degi Karaew will nicht Teil Russlands werden. Er nennt sich selbst einen »Patrioten Lettlands«, obwohl er Russland als seine kulturelle und
Seiner Meinung nach brauchen beide Seiten mehr Aufrichtigkeit. Viele Russen waren überrascht davon, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft als
Um wieder in einen Dialog treten zu können, schlägt Wladimir Linderman vor, als Erstes das negative Russenbild zu korrigieren, welches durch die baltischen Medien verbreitet wird. »Die Regierung bezeichnet uns Russen als Feinde und Okkupanten. Dabei sind wir schon längst bereit, friedlich zusammenzuleben.«
Wir sind immer noch nicht weg – trotz der Benachteiligung, grauer Pässe, sozialen Erniedrigung und der Wirtschaftskrise. Haben wir damit unsere Loyalität nicht bewiesen?
Linderman betont, dass Integration ein freiwilliger und gegenseitiger Prozess sein müsse. Die Minderheit lernt die Kultur und Sprache der Mehrheit, aber umgekehrt müsse die Mehrheit auch die Kultur der Minderheiten akzeptieren. »In Wirklichkeit werden nur Zugeständnisse und Bemühungen der Russen erwartet. Lernt Lettisch! Sprecht nicht Russisch! Die lettische Seite steht nur da und fordert«.
Diese Feindseligkeit solle man bekämpfen, nicht fördern, und die Nationalitätenpolitik müsse feinfühlig sein. Nationalitätenfragen seien nun einmal explosiv, fasst Wladimir Linderman zusammen. Man müsse Benachteiligung entgegenwirken und die russische Sprache endlich als die Sprache der nationalen Minderheit anerkennen. Denn: »Wenn ein Mensch in seinem Land zufrieden ist, sehnt er sich nicht auf die andere Seite der Grenze.«
Titelbild: wikicommons / kremlin.ru - CC BY-SA 3.0