Die Pflegerevolution kommt zu dir nach Hause
Sie kommt aus den Niederlanden und heißt »Buurtzorg«. Ihre Mission: Menschen besser pflegen als Akten – und dabei Kosten sparen.
Jeder, der schon einmal in einem Altenheim zu Besuch war, hat wohl ähnliche Erfahrungen gemacht: die eigentümliche Mischung aus abgestandener Luft und Desinfektionsmittel, die immer gleichen, anonymen Gänge und das irgendwie befreiende Gefühl, wenn man wieder heimgehen kann.
Dabei verdrängen wir allzu leicht, dass die meisten von uns eines Tages vom Besucher zum Bewohner werden könnten. Möchtest du deinen Lebensabend an so einem Ort verbringen?
Oder ziehst du deine eigenen 4 Wände vor?
80% der Menschen wollen zu Hause alt werden.
80% der Menschen wünschen sich laut einer aktuellen Befragung genau das:
Aber ist in Zeiten des
Ein Konzept mit dem Namen
Buurtzorg – besser, günstiger, einfacher
Die Revolution der Altenpflege nahm 2006 in Enschede ihren Anfang: Jos de Blok, Gründer von Buurtzorg und selbst Pfleger, begann mit einem Team von 4 Mitarbeitern, Menschen in ihrem Zuhause zu versorgen. Das Besondere daran: Das Buurtzorg-Team bot nur eine einzige Leistung an – Pflege. Nicht im Angebot waren hingegen
So setzte Jos de Blok ein Ausrufezeichen gegen dieses durchbürokratisierte Pflegesystem, in dem die Versorgung alter und kranker Menschen zu einem Produkt geworden und der Patient nichts weiter als ein Leistungsempfänger war. Buurtzorg ist radikal anders: Es ist kein Unternehmen, sondern eine Non-Profit-Organisation, frei von Effizienzregeln irgendwelcher Managementberater. Und damit auch frei von Managern, Dienstleitern und Zeitvorgaben.
Buurtzorg hat die Pflege in den Niederlanden revolutioniert – ganz ohne Manager und Zeitvorgaben.
Die Teams aus maximal 12 Pflegeprofis organisieren fast alles selbstständig. Sie teilen das Personal ein und planen ihre täglichen Touren. Unter dem Motto »Menschlichkeit statt Bürokratie« hat Buurtzorg so den gesamten Pflegebereich in den Niederlanden revolutioniert: In den letzten 10 Jahren haben sich 800 Teams mit über 10.000 Pflegekräften neu gegründet und versorgen inzwischen über 70.000 Patienten. Beide Seiten – Pflegekräfte und Patienten –
Spätestens jetzt mag man sich fragen, was das alles gekostet haben muss. Die Antwort: weniger als das alte System. Zwar steigen die Kosten pro Stunde leicht an, die Gesamtzahl der benötigten Pflegestunden sinkt jedoch
Kritik am Modell übt vor allem die Pflegekonkurrenz: Buurtzorg-Patienten seien bei unvorhergesehenen Ereignissen dann doch auf die Hilfe klassischer Pflegedienste angewiesen – und würden sogar häufiger in der Notaufnahme landen. Zudem würden sich die Teams nur besonders
Internationales Interesse ließ nicht lange auf sich warten. Inzwischen wird Buurtzorg in 24 Ländern erprobt, darunter
Mit dem sich seit Jahren verschärfenden
Altenpflege in Deutschland – Kontrollzwang statt Vertrauen
Von den Zuständen in den Niederlanden können Altenpfleger in Deutschland zurzeit nur träumen. Die Krankenkassen und Ärzte geben den Pflegekräften bei uns genau vor, was sie tun dürfen: Essen zubereiten, waschen,
Udo Janning kennt die Probleme des Systems. In seinen 26 Jahren Berufserfahrung hat er beide Perspektiven kennengelernt – er war sowohl als Altenpfleger als auch als Pflegedienstleiter tätig. Heute ist er bei einem ambulanten Pflegedienst für die Koordination des ersten Buurtzorg-Pilotprojekts im münsterländischen Emsdetten zuständig. »Wenn der Patient fragt: ›Kannst du mir mal bei etwas helfen?‹, dann muss die Kasse das erst genehmigen, der Arzt muss es verschreiben und ich darf nichts machen. Ich sitze immer zwischen den Stühlen.«
Das Resultat ist wenig verwunderlich: Pflegekräfte arbeiten laut dem Deutschen Pflegerat schätzungsweise nur 10 Jahre in ihrem Beruf, selbst die größten Idealisten scheiden früh wieder aus oder arbeiten nur noch in Teilzeit. Bereits jetzt fehlen 40.000 Fachkräfte, bis 2030
Die Zeit drängt also.
Zeit, dass die Pfleger wieder pflegen dürfen
Johannes Technau, Geschäftsführer des
Mit den autarken Teams können wir den Pflegekräften wieder die Möglichkeit geben, selbstbestimmt zu arbeiten. Sie können ihre Einsätze selber planen und ihre Arbeitsbelastung steuern. Wir hoffen, dass der Beruf so wieder attraktiver wird, dass die Fachkräfte motivierter sind und sie sich in jeder Hinsicht wieder auf ihre eigentliche Profession konzentrieren können.
Kurz gesagt: Der Beruf des Pflegers wird aufgewertet und mit wesentlich mehr Vertrauen ausgestattet. In den selbstorgansierten Teams entscheiden sie vor Ort in enger Zusammenarbeit mit den Gepflegten und deren Bezugspersonen, was getan werden muss.
Dabei stellen Pfleger erst einmal fest, was der Patient noch selbst erledigen kann. Und ermutigen ihn dazu, genau das auch weiterhin zu tun – etwa sich selbst zu waschen.
Im aktuellen System ist das nicht vorgesehen. Die Pfleger sind aufgrund des permanenten Zeitdrucks zur Hektik gezwungen: Es bleibt kaum Zeit, um die Patienten bei der Körperpflege zu begleiten, denn der nächste Termin wartet schon. So lernen die Patienten, dass sie sich nicht selbst kümmern sollen – es kommt ja schließlich jemand, der die morgendliche Körperpflege für sie übernimmt.
»Die Pfleger reagieren nur auf Anweisungen und haben das eigene Denken verlernt.« – eine Pflegefachkraft
Bei Buurtzorg können die Teams aktivierend pflegen, was nichts anderes heißt, als länger dazubleiben, dem Patienten den Waschlappen in die Hand zu drücken und zu sagen: »Wasch dich selbst, wenn du nicht mehr weiterkommst, helfe ich dir.« Das funktioniert, weil sie diese Zeit auch bezahlt bekommen – nur eben pro Stunde, nicht pro Einzelleistung.
Allein dieser Aspekt macht für die Pfleger sehr viel aus. Da ist sich Udo Janning sicher: »Wir müssen zeigen, wie entspannt die Pfleger sind, wenn sie nicht mehr 24 Patienten pro Tour haben, sondern nur noch 6 – für die sie dann auch noch Zeit haben.«
Den Alten etwas zutrauen – eine lohnende Investition
Auch wenn das am Anfang mehr Zeit – und somit Geld – kostet, zahlt sich die Investition auf lange Sicht aus. Eine Untersuchung aus Großbritannien zeigt, dass die Patienten durch diese Herangehensweise in vielen Fällen ihre Selbstständigkeit zurückerlangen, seltener in die Notaufnahme müssen und bei geplanten Krankenhausaufenthalten viel früher
In der Praxis sehen solche Einsparungen dann so aus:
Ich muss den Patienten nicht mehr jeden Tag duschen, weil wir festgestellt haben, dass er das noch gut alleine hinkriegt, wenn er nur eine Dusche mit niedrigem Einstieg bekommt. […] Letztendlich ist das große Ziel dabei, […] zu Hause bleiben zu können. In einer guten Umgebung sind die Menschen ohnehin fitter als im Heim.
Pflege sollte Menschen ein möglichst selbstbestimmtes, schmerzfreies Leben ermöglichen. Daher
- Menschen wollen so lange wie möglich selbstständig leben und handeln
- Menschen wollen ihre Lebensqualität aufrechterhalten oder steigern
- Menschen brauchen soziale Interaktion und Nähe
Nehmen wir diese Bedürfnisse ernst, ist klar, dass Gepflegte keine »Konsumenten« sein können, die Pflege von einem »Dienstleister« »einkaufen« müssen. Diese ökonomische Denkweise ist die Wurzel des Pflegenotstands in Deutschland.
Nachbarschaftshilfe hat viele Gesichter
Auch pflegebedürftige alte Menschen sind Individuen mit einem sozialen Umfeld. Ohne dieses Umfeld wäre der gesamte Pflegebereich schon längst kollabiert, denn der Löwenanteil der häuslichen Pflege wird in Deutschland in fast 1,4 Millionen Fällen
In der Theorie könnten ihnen weitere Unterstützer zur Seite stehen: Freunde, Nachbarn und je nach Region und Religion vielleicht sogar noch die Kirchengemeinde inklusive Dorfpfarrer. Ein enormes Potenzial – wenn es denn genutzt würde. Man braucht dazu lediglich jemanden, der die Kräfte koordiniert. Die Buurtzorg-Teams fungieren hier als Manager und bauen gezielt ein Netzwerk aus allen Beteiligten auf.
Dem Pflegedienst ist aufgefallen: Wir kommen jeden Tag, um Strümpfe anzuziehen, Medikamente zu stellen und Essen anzureichen, während die Tochter im Haus wohnt oder der Ehepartner dabeisitzt. Dann stellt sich die Frage: »Können sie das nicht übernehmen?
Doch keine Angst: Niemand wird gezwungen, künftig die Oma von nebenan zu waschen. Es geht vielmehr um die effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen, um Zeit für Patienten zu schaffen, die gar keine Unterstützung durch Pflegedienste bekommen können – und das ist aktuell nicht nur im Pilotprojektgebiet im Münsterland
Warum kann die befreundete Nachbarin beim täglichen Einkauf nicht einfach etwas mitbringen? Oder die Tochter, die in derselben Straße wohnt, einmal die Woche die Medikamentendose vorbereiten?
Das soll keinesfalls heißen, dass die Pflegedienste die Arbeit auf die Angehörigen abwälzen wollen. Es gibt kein Muss. Wenn jemand mit der Situation überfordert ist oder nichts damit zu tun haben will, dann übernimmt das Buurtzorg-Team. Das kommt aber gar nicht so häufig vor:
Wir haben einfach mal mit den Angehörigen gesprochen, die im gleichen Haus wohnen. Das hat vorher niemand gemacht. Da kam dann raus, dass sie am Wochenende ohnehin zu Hause wären und gerne etwas tun wollten. Nur unter der Woche waren sie auf Hilfe angewiesen. Seitdem müssen wir sonntags um 6 nicht mehr hin und das ganze Haus aufwecken.
Kann das auch bei uns funktionieren?
Angesichts der demografischen Entwicklung ist klar, dass zwangsläufig mehr und mehr Gelder in den Pflegebereich fließen müssen. So fordert das unabhängige Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung für die kommenden Jahre einen
Allein 500 Millionen Euro sollen für die Erforschung neuer Versorgungskonzepte und innovativer Technologien bereitgestellt werden. Mit Buurtzorg ist bereits ein über Jahre erprobtes Konzept zur Hand. Aktuell sind zunächst die Kranken- und Pflegekassen am Zug: Sie müssen mit den laufenden Pilotprojekten im Münsterland klären, wie die Rahmenbedingungen angepasst werden müssen, damit die Kostenabrechnung pro Stunde funktionieren kann.
In unseren Gesprächen zeigen sich Johannes Technau und Udo Janning optimistisch: Die Kostenträger hätten das Problem erkannt und stehen dem Projekt Buurtzorg positiv gegenüber. Wenn alles nach Plan verläuft, können die ersten Teams ab Februar 2018 in einem System arbeiten, in dem die Alten genauso sorgfältig gepflegt werden wie die Akten.
Wenn der eigene Vater die Tür aufmacht, Sie anlächelt und sagt: ›Ich habe mir heute mein Brot wieder alleine geschmiert!‹, dann wissen Sie: Er ist glücklich, er kann alleine essen, und zwar wann er will. Und nicht erst, wenn der Pfleger kommt.
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