Warum uns die Täter mehr interessieren als ihre Opfer
Oder an welche Namen denkst du, wenn du Breitscheidplatz und NSU hörst? So werden die Opfer zu lauten Stimmen.
Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Tunesier Anis Amri einen polnischen Lkw-Fahrer tötete und dessen Fahrzeug in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz lenkte. Als der Sattelschlepper
Ein Jahr später ist klar, dass die Behörden genug belastendes Material gehabt hätten, um Amri bereits vor seiner Tat zu verhaften – zwar nicht allein wegen terroristischer Aktivitäten, aber
Immer wieder fügen Sonderermittler und Ausschüsse weitere Puzzleteile zu einem Bild hinzu. Am Ende wird es vielleicht einmal zeigen, wer wie viel Schuld daran trägt, dass der behördenbekannte Amri von niemandem an seiner Terrorfahrt gehindert wurde. (So wurde erst vor anderthalb Wochen bekannt, dass das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt Ende Oktober 2016 seine Berliner Kollegen fragte, wo Amri sich aufhalte – die Nachfrage aber
»Ja – Berlin. Das war so eine Idee von mir gewesen. Ich hatte meiner Mutter den Vorschlag gemacht: Wie sieht’s denn aus? Hättest du mal Lust, nach Berlin zu reisen? Und dann habe ich ihr die Reise geschenkt.«
So
Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz hat Deutschland erschüttert und verändert – ein Jahr später finden Weihnachtsmärkte in der ganzen Bundesrepublik hinter schweren Betonblöcken statt. Aber wie geht Deutschland mit den Opfern um, für die sich in dieser Nacht alles geändert hat?
Ibrahim Arslan ist Opfer, ohne passiv zu sein
Kaum jemand hat sich so intensiv mit dieser Frage beschäftigt wie Ibrahim Arslan: Vor 25 Jahren warfen Neonazis Molotowcocktails ins Haus seiner Familie in der norddeutschen Kleinstadt Mölln – seine Großmutter rettete ihn vor den Flammen, starb dann aber selbst beim Versuch, seine Schwester und seine Cousine zu retten,
Über die Ereignisse dieser Nacht spricht Ibrahim Arslan seit 2 Jahren an Schulen in ganz Deutschland. Mittlerweile haben schon 10.000 Schüler an seinen Zeitzeugengesprächen teilgenommen. Am Telefon habe ich ihn gefragt, was die wichtigste Aussage dieser Gespräche ist:
Ich versuche, den Schülern immer wieder die Opferperspektive näherzubringen. Die Schülerinnen und Schüler merken nach der Veranstaltung immer wieder, dass sie sich bisher nur mit dem Täter befasst haben, und genauso sind wir in der Gesellschaft.
Wenn er zum Beispiel frage, wer
Wir sind eine Täter-Gesellschaft und schauen uns jeden Tag an, was der Täter gemacht hat, wie er aussieht, was er anzieht, was er trinkt. Aber wir kümmern uns überhaupt nicht darum, was das Opfer ausmacht.
Sind die Täter in unserer Gesellschaft tatsächlich viel präsenter als die Opfer? Auch dieser Text hat mit dem Attentäter vom Breitscheidplatz begonnen. Wenn du magst, kannst du den Text noch einmal neu anfangen –
schalte hier um und lies einen Einstieg, der die Opfer in den Mittelpunkt stellt.
Du willst noch einmal zu dem Einstieg, der den Täter in den Mittelpunkt stellt? Schalte
hier
Wie sollte die Gesellschaft also mit den Opfern von Anschlägen umgehen? »Wir müssten das Ganze einmal umdrehen und über die Opfer reden statt über die Täter«, sagt Arslan. »Dann würde sich vieles ändern in unserer Gesellschaft.«
Titelbild: Gaelle Marcel - CC0 1.0