Warum uns die Täter mehr interessieren als ihre Opfer
19. Dezember 2017Oder an welche Namen denkst du, wenn du Breitscheidplatz und NSU hörst? So werden die Opfer zu lauten Stimmen.
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Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Tunesier Anis Amri einen polnischen Lkw-Fahrer tötete und dessen Fahrzeug in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz lenkte. Als der Sattelschlepper dpa-Meldung bei FAZ.net zu Verletzten des Berliner Anschlags (2016) mehr als 50 verletzt. Amri selbst entkam nach Italien, wo er von einem Polizisten erschossen wurde.
waren undEin Jahr später ist klar, dass die Behörden genug belastendes Material gehabt hätten, um Amri bereits vor seiner Tat zu verhaften – zwar nicht allein wegen terroristischer Aktivitäten, aber Bericht der Süddeutschen Zeitung über den Abschlussbericht des Amri-Sonderermittlers Bruno Jost (2017) wegen Drogenhandels und Ausweisfälschung. Wahrscheinlich hätte man ihn sogar nach Tunesien abschieben können.
Immer wieder fügen Sonderermittler und Ausschüsse weitere Puzzleteile zu einem Bild hinzu. Am Ende wird es vielleicht einmal zeigen, wer wie viel Schuld daran trägt, dass der behördenbekannte Amri von niemandem an seiner Terrorfahrt gehindert wurde. (So wurde erst vor anderthalb Wochen bekannt, dass das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt Ende Oktober 2016 seine Berliner Kollegen fragte, wo Amri sich aufhalte – die Nachfrage aber Der Tagesspiegel über die NRW-Anfrage, die in Berlin ignoriert wurde (2017) unbeantwortet blieb.) Die Aufklärung im Fall Amri und die Berichterstattung darüber ist wichtig. Aber der Fokus auf den Täter trübt den Blick auf seine Opfer. Das wirft die Frage auf: Wie sollten wir als Gesellschaft mit den Opfern umgehen?
»Ja – Berlin. Das war so eine Idee von mir gewesen. Ich hatte meiner Mutter den Vorschlag gemacht: Wie sieht’s denn aus? Hättest du mal Lust, nach Berlin zu reisen? Und dann habe ich ihr die Reise geschenkt.«
So Geschichten von Opfern des Anschlags auf dem Breitscheidplatz in der Süddeutschen Zeitung (2017) erzählt Sascha Klösters in der Süddeutschen Zeitung, Ausführlicher schildert Ibrahim Arslan die Nacht des Anschlags im Deutschlandfunk (2017) wie es dazu kam, dass seine Mutter und er den Abend des 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz verbrachten. Sie standen gerade an einem Glühweinstand, als es »geknallt hat«, »immer lauter wurde.« Sascha Klösters wurde von dem Lkw erfasst und auf die Budapester Straße geschleudert. Selbst schwer verletzt, suchte er seine Mutter, konnte noch ein paar Minuten mit ihr reden, bevor Helfer ihn wegtrugen. Sascha Klösters Mutter überlebte den Abend nicht.
Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz hat Deutschland erschüttert und verändert – ein Jahr später finden Weihnachtsmärkte in der ganzen Bundesrepublik hinter schweren Betonblöcken statt. Aber wie geht Deutschland mit den Opfern um, für die sich in dieser Nacht alles geändert hat?
Ibrahim Arslan ist Opfer, ohne passiv zu sein
Kaum jemand hat sich so intensiv mit dieser Frage beschäftigt wie Ibrahim Arslan: Vor 25 Jahren warfen Neonazis Molotowcocktails ins Haus seiner Familie in der norddeutschen Kleinstadt Mölln – seine Großmutter rettete ihn vor den Flammen, starb dann aber selbst beim Versuch, seine Schwester und seine Cousine zu retten, Ausführlicher schildert Ibrahim Arslan die Nacht des Anschlags im Deutschlandfunk (2017) die ebenfalls ums Leben kamen. als die ersten 3 Todesopfer rechtsradikaler Anschläge seit der Wiedervereinigung.
Über die Ereignisse dieser Nacht spricht Ibrahim Arslan seit 2 Jahren an Schulen in ganz Deutschland. Mittlerweile haben schon 10.000 Schüler an seinen Zeitzeugengesprächen teilgenommen. Am Telefon habe ich ihn gefragt, was die wichtigste Aussage dieser Gespräche ist:
– Ibrahim Arslan
Wenn er zum Beispiel frage, wer
oder kenne, gehe nie ein Finger nach oben – der Name Beate Zschäpe hingegen sei allen bekannt.
– Ibrahim Arslan
Sind die Täter in unserer Gesellschaft tatsächlich viel präsenter als die Opfer? Auch dieser Text hat mit dem Attentäter vom Breitscheidplatz begonnen. Wenn du magst, kannst du den Text noch einmal neu anfangen – schalte hier um und lies einen Einstieg, der die Opfer in den Mittelpunkt stellt.
Du willst noch einmal zu dem Einstieg, der den Täter in den Mittelpunkt stellt? Schalte hier um.
Wie sollte die Gesellschaft also mit den Opfern von Anschlägen umgehen? »Wir müssten das Ganze einmal umdrehen und über die Opfer reden statt über die Täter«, sagt Arslan. »Dann würde sich vieles ändern in unserer Gesellschaft.«
Die sehr verschiedenen Opfer vom Breitscheidplatz
Opfer zu sein, der Begriff kennt viele Abstufungen.
der nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz eingesetzte Opferbeauftragte der Bundesregierung, spricht von rund 100 Opfern. Am Telefon erklärt er mir, damit meine er nicht nur die 12 Toten und mehr als 50 Verletzten des Anschlags, sondern auch deren Hinterbliebene bzw. Angehörige. Außerdem schließt er jene mit ein, die als Augenzeugen oder Ersthelfer vor Ort waren und die das Erlebte traumatisiert hat.Daraus ergibt sich bereits, dass man keine allgemeinen Richtlinien zum richtigen Umgang mit Opfern festlegen kann, die uneingeschränkt gelten. »Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf eine solche emotionale Situation«, sagt Beck. »Wenn eine junge Frau beide Eltern verloren hat, ist sie in einer anderen Situation als jemand, der nur einen Elternteil verloren hat.«
In der vergangenen Woche hat Beck seinen Abschlussbericht des Opferbeauftragten Kurt Beck (2017) Abschlussbericht vorgestellt, in dem er Vorschläge für den Umgang mit künftigen Opfern unterbreitet.
Denn auch wenn statistisch betrachtet Frederik v. Paepcke hat die Wahrscheinlichkeit eingeordnet, bei einem Anschlag zu sterben: Eher gerät man unter die Räder eines senilen Senioren nur wenige zum Opfer von Gewalttaten werden, steht zu befürchten, dass es nicht der letzte Anschlag in Deutschland gewesen ist. Becks zentraler Vorschlag ist, seine befristete Position in eine dauerhafte Ansprechstelle umzuwandeln, damit beim nächsten Anschlag die Opfer sofort staatliche Hilfe erfahren.
»Der Amri und andere Terroristen greifen ja nicht jene ganz bestimmten Personen an, sondern diese Gesellschaft«, sagt Kurt Beck. »Die Angehörigen sagen natürlich zurecht, der Staat war angegriffen, also muss er uns auch in besonderer Weise zur Seite stehen.« Diesen Beistand leistet Beck, seitdem er im März dazu beauftragt wurde – ansonsten kam von der Bundesregierung wenig. Darüber waren die Hinterbliebenen vom Breitscheidplatz zeitweise so frustriert, dass sie einen offenen Brief an Angela Merkel verfasst haben:
Der Spiegel druckte den Offenen Brief im Wortlaut (2017)
Offenen Brief
der Hinterbliebenen vom Breitscheidplatz, 1. Dezember 2017
– aus dem
Immerhin hat sich die Kanzlerin am Vorabend des Jahrestags mit den Angehörigen getroffen – »das wird von vielen als zu spät eingeordnet«, sagt Beck. Sonst ist nicht üblich, dass die Bundeskanzlerin auf Offene Briefe reagiert, insofern kann diese Einladung als Versuch der Wiedergutmachung nach einem Fehler verstanden werden.
Lange verdächtigt, spät entschädigt: die Opfer des NSU
Eine besonders drastische Geschichte, voller öffentlicher Vorverurteilung und jahrelangem Warten auf Anerkennung und Entschädigung, verbindet die Hinterbliebenen der NSU-Mordserie: Zwischen 2000 und 2007 tötete die rechtsextreme Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« 10 Menschen in deutschen Großstädten, Franziska Grillmeier hat sich vor dem Verfassungs-Referendum in der Türkei mit der Situation der Türkeistämmigen in Deutschland befasst 8 davon waren türkischer In mehreren Fällen hielten die Ermittler die Opfer selbst für kriminell und vermuteten türkische Banden dahinter – die »SoKo Bosporus« ermittelte fallübergreifend, in einigen Medien war abwertend von »Döner-Morden« zu lesen. Dieser aus Vorurteilen heraus gebildete Verdacht wurde erst fallengelassen, als das NSU-Trio nach einer am 4. November 2011 Mein Interview mit Tanjev Schultz über die Lehren aus dem NSU-Komplex aufgeflogen war. Erst nach der Festnahme von Beate Zschäpe wurden die Opfer und Hinterbliebenen vollumfänglich als solche anerkannt und konnten ihren Weg der gesellschaftlichen Rehabilitation beginnen.
– Barbara John, Ombudsfrau für die Opfer des NSU
Das sagte mir Barbara John, die kurz nach dem Auffliegen des NSU von der Bundesregierung beauftragt wurde, die Opfer als
zu vertreten. Es sei zwar richtig gewesen, schnell eine Ombudsfrau zu berufen, allerdings habe der Staat einen anderen Fehler begangen: »Was peinlich war für die Bundesregierung, war das sogenannte Schadensgeld«, sagt Barbara John. »Wir wissen alle, dass nichts, das da geschehen ist, mit Geld in irgendeiner Weise kompensiert werden kann. Aber das Geld wurde gebraucht, weil die Familien noch für Kosten aufkommen mussten im Zusammenhang mit dem kleingewerblichen Betrieb des Ermordeten, beispielsweise Mieten, Waren, Renovierung.«
Einige der Opfer besaßen Läden, und die Hinterbliebenen mussten Lieferanten und Vermieter weiterbezahlen. Dazu kamen Begräbniskosten, teilweise auch die Überführung in die Türkei. Barbara John organisierte seit der Enttarnung des NSU viele Treffen der Angehörigen untereinander. Um die Kosten für Fahrten und Unterkünfte zu decken, sammelte sie Spenden von der Zivilgesellschaft, insgesamt gingen 120.000 Euro auf dem Konto ein. So konnten die Treffen auch ohne zentrales Budget stattfinden.
»Es ist selbstverständlich, dass da in großzügiger Weise geholfen werden muss und nicht für jede Hilfestellung ’zig Formulare ausgefüllt werden müssen.« Das, sagt Barbara John, habe sie über die vielen Jahre gelernt – »und wenn ich das Gutachten von Herrn Beck richtig gelesen habe, hat er das in dem einen Jahr auch gelernt.«
Mölln, NSU, Breitscheidplatz – was hat Deutschland daraus gelernt?
Tatsächlich lautet ein konkreter Vorschlag in Becks Abschlussbericht, die Härtefall-Leistungen – also jene Zahlungen, die keiner komplizierten Begründung bedürfen –
Auch die Entschädigungen sollen erhöht, materielle Schäden und einfacher ersetzt werden.
Als besonders wichtig dürften sich Kurt Becks strukturelle Vorschläge erweisen: Er fordert, wie schon erwähnt, Opferbeauftragte dauerhaft einzusetzen – und zwar parallel beim Bundesjustizministerium und bei den Ländern. So soll im Fall des Falles ein Ansprechpartner sofort zur Verfügung stehen; die Angliederung ans Ministerium hätte den Vorteil, dass man schnell auf zusätzliches Personal zurückgreifen könnte. Beck zeigte sich mir gegenüber optimistisch, dass alle seine Vorschläge umgesetzt
Bis seine Tätigkeit im März 2018 ausläuft, setzt er sich für die Umsetzung weiter ein und berät einzelne Opfer vom Breitscheidplatz, zum Beispiel in Rentenfragen.
– Kurt Beck, Opferbeauftragter der Bundesregierung
Was ist noch zu tun?
In Deutschland gibt es zwar NGOs wie den »Weißen Ring«, die Opfern umfangreiche Unterstützung zuteilwerden lassen. Einen dauerhaften Verband, eine Interessenvertretung der Opfer selbst gebe es jedoch noch nicht, sagt Barbara John: »Was wir dringend brauchen, ist eine Selbstvertretung der Opfer rechtsradikaler Anschläge.« Dasselbe könnte es auch für die
geben. Dort könnten Opfer sich selbst vertreten, eine Plattform bilden und als Ansprechpartner für Politik, Polizei, Zivilgesellschaft und Medien dienen.
– Barbara John
Frankreich und Spanien wären Deutschland da schon ein Stück voraus, findet John: Dort gibt es solche Foren. Auch eine EU-Arbeitsgruppe namens Überblick über die EU-Arbeitsgruppe RAN RVT (englisch) RAN RVT bietet dafür Raum – Barbara John kämpft dafür, auch in Deutschland eine solche Stelle aufzubauen. »Ich stelle mir vor, dass eine Stiftung das finanziert. Das würde der ganzen Sache einen anderen Dreh geben, wenn die Zivilgesellschaft das Geld zusammenbringt.«
»Es fehlt eine Opfer-Beratungsstelle, geleitet von Betroffenen«, sagt auch Ibrahim Arslan. Er findet wichtig, dass auch andere Opfer die Gelegenheit erhalten, wie er ihre passive Rolle zu verlassen: »Ich habe so viele Menschen kennengelernt, die gesagt haben ›ich möchte niemals in die Öffentlichkeit gehen‹, die aber jetzt im Fernsehen auftreten und Gedenkveranstaltungen selbst organisieren. Das ist geschehen, weil sie sich untereinander vernetzt und gegenseitig dazu ermutigt haben.«
»Opfer sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen.«
Als Beispiel nennt Arslan die Nikola Schmidt über Bürgertribunale NSU-Tribunale, eine nichtjuristische Aufarbeitung des NSU-Komplexes, der im Mai in Köln Website der Kölner NSU-Tribunale vor insgesamt 3.000 Theaterzuschauern stattfand. Aber auch auf die Gesellschaft selbst wirken die Aktionen von Opfern migrantischer Herkunft, ist Arslan überzeugt: Er erzählt, dass seine Zeitzeugengespräche schon 3-mal bei Schülern, die selbst »aus der rechten Ecke kamen«, zu einem echten Umdenken führten – einer wollte sich sogar für Flüchtlinge engagieren. Letztlich könnte eine lautere Stimme der Opfer in der Gesellschaft vieles ändern, sagt Ibrahim Arslan: »Opfer sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen.«
Titelbild: Gaelle Marcel - CC0
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