Weißt du noch? An der EU-Grenze wartet die Revolution
Bei der Ukraine denkst du nur an die Krim und Sanktionen gegen Russland? Vor 4 Jahren begann in Kiew eine Revolution, die immer noch andauert – und auch von uns abhängt.
Olena Tregub erinnert sich noch gut an die Tage der Revolution im November 2013. Tausende von Menschen demonstrierten damals auf dem Kiewer
Die damals 31-jährige Politologin Olena Tregub saß vor ihrem Rechner in Washington und verfolgte die Livestreams im Internet. Obwohl die gebürtige Ukrainerin zu diesem Zeitpunkt schon seit 10 Jahren in den USA lebte, haben die Bilder der
Auslöser der Proteste im November 2013 war die Entscheidung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, nach jahrelangen Verhandlungen das
Obwohl es
Das System im Neustart-Modus
»Europäische Integration« heißt der politische Kurs, der unter Janukowytschs Nachfolger Petro Poroschenko seit Juni 2014 wieder offiziell angestrebt wird.
Die Europäische Union fördert
- Was bedeuten die Reformen für das Land?
- Markieren sie wirklich die gewünschte Annäherung an die EU?
- Halten die politischen Ideale des Maidan langsam Einzug in die ukrainische Politik?
Eine Ära voller Chancen?
Olena Tregub wollte dazu beitragen, die Ziele ihrer Landsleute zu verwirklichen: einen besseren, gerechteren, europäischen Staat aufzubauen.
Als wir jetzt, 4 Jahre später, an einem November-Abend ein Telefonat über Facebook führen, wirkt sie nachdenklich. »Heute ist mir klar, dass die Revolution damals nicht zu Ende gebracht wurde. Sie dauert immer noch an.« Ihre Geschichte ist dafür der beste Beweis.
In den USA hat Olena Tregub nach einem Abschluss an der Fletcher School of Law and Diplomacy bei den Vereinten Nationen gearbeitet, danach gründete sie mit Partnern aus Polen
Doch dann überfiel Russland die Ukraine: Im März 2014 wurde
»Europa ist der Traum von Freiheit und Würde«
4 Jahre nach dem Maidan und viele Probleme später ist die EU für Ukrainer attraktiver denn je zuvor.
Im Gegensatz zu der repressiven Tradition der Sowjetunion verkörpert »Europa« für viele Ukrainer den Traum von Freiheit und einem Leben in Würde. In Alltagsgesprächen kommt es dabei auch zu überzogenen Idealisierungen, die der Komplexität der Prozesse in der EU nicht entsprechen. Oft wird angenommen, in den EU-Ländern gebe es keine Armut, alle Straßen seien sauber und alles würde immer funktionieren. »Aber im Kern der Sache geht es um die Werte«, erklärt Olena, »um Demokratie, Gleichheit, Toleranz und Rechtstaatlichkeit.« Auch deshalb stieß Janukowytschs Rückzieher von den EU-Assoziierungsverhandlungen im Jahr 2013 auf so viel Empörung.
Für die Ukrainer war das Assoziierungsabkommen immer mehr als nur ein Dokument: Es ging um eine Zukunftsvision. Und in der Zukunft sehen sich viele Ukrainer als Teil der Europäischen Union.
Ein unerwartetes Jobangebot
Im Februar 2015 erhielt Olena Tregub eine unerwartete Nachricht: Aivaras Abromavičius, der Wirtschaftsminister der Ukraine, wollte mit ihr sprechen. Der gebürtige Litauer Abromavičius gehörte zu der Riege
»Können Sie morgen anfangen?« Tregub sagte zu – im Glauben, dass man sie nur als Beraterin anstellen wolle. Stattdessen ernannte Abromavičius sie zur Direktorin der Abteilung für die Koordination internationaler Programme im Wirtschaftsministerium. Tregub war nun für die Verwaltung aller ausländischen Finanzhilfen zuständig – mehr als 10 Milliarden Euro.
»Ich werde von meinen Ersparnissen leben und meinen Lebensstil auf ein Minimum reduzieren. Aber ich will diese Aufgabe annehmen.«
»Es waren revolutionäre Zeiten«, erinnert sich Tregub. »Die Verantwortung war riesig.« Ihr Gehalt dagegen war mager: Die Politologin bekam umgerechnet weniger als 300 Euro pro Monat.
Viele Reformer seien bald in ihre gut bezahlten Jobs im Ausland zurückgekehrt, erzählt sie. »Ich habe mich dann entschieden: Ich bleibe trotzdem im Amt. Ich werde von meinen Ersparnissen leben und meinen Lebensstil auf ein Minimum reduzieren. Aber ich will diese Aufgabe annehmen.«
Abgesehen vom Finanziellen war die Arbeit im Ministerium vielversprechend. Alte Mitarbeiter wurden überprüft und viele alte Kader mussten ihre Posten räumen –
In einer Studie über die Effizienz der neu besetzten Ministerien im Jahr 2015 bekam das Wirtschaftsministerium
Doch so leicht ließ sich die Vergangenheit nicht abschütteln.
Wer gegen Korruption kämpft, lebt gefährlich
Abromavičius warf der Präsidialadministration von Petro Poroschenko vor, sich in Kompetenzen des Ministeriums einzumischen: Vertreter hätten versucht, Einfluss auf Staatsunternehmen auszuüben, um sich alte Pfründe zu sichern. Schließlich trat Abromavičius im Jahr 2016 zurück.
Olenas Position im Wirtschaftsministerium veränderte sich schnell. Alte Kräfte übernahmen wieder die Macht. »Menschen, denen wir gekündigt hatten, kehrten wieder auf ihre alten Posten zurück.« Die Politologin stieß auf immer mehr Widerstand.
»Ich habe Verstöße gegen die Regeln gemeldet. Das gefiel den Betroffenen natürlich nicht«, sagt Olena. Im Sommer 2017 wurde ihr das Amt entzogen. Dagegen klagt sie nun vor Gericht.
Das alte System kam zurück – und damit seine destruktiven Methoden. Es ist auf die Interessen von Politikern und Unternehmen ausgerichtet, nicht auf die der Bürger.
Als sie mit einem Kollegen über zusätzliche Mittel für die besetzten Gebiete im Donbass sprach, habe er gefragt: »Und was bekomme ich dafür?«
Nach 2 Jahren als Beamtin ist Olena Tregub vorerst im NGO-Sektor untergekommen – dort begleitet sie das Thema Korruption weiter. Sie ist nun Generalsekretärin des »Unabhängigen Antikorruptions-Komitees in Verteidigungsfragen«, einer Abteilung von Transparency International in Kiew.
»Wir brauchen mehr Druck von der EU!«
Im Korruptions-Ranking der Organisation befindet sich die Ukraine aktuell auf Platz 131, zusammen mit Russland, Nepal, Kasachstan und dem Iran. Tregub betont: »Es wird sich nur dann etwas ändern, wenn korrupte Politiker endlich hinter Gittern sitzen. Die Ukraine braucht dringend ein unabhängiges
»Es wird sich nur dann etwas ändern, wenn korrupte Politiker endlich hinter Gittern sitzen.«
Die Debatte um ein Antikorruptions-Gericht ist nicht nur zentral für die Reformen in der Ukraine, sondern zeigt auch, welche Rolle die EU als Partner für die Ukraine spielen kann. Erst nachdem die
Auch
Olena Tregub reicht das nicht: Sie fordert noch mehr Druck seitens der EU, vor allem bei den Antikorruptions-Maßnahmen.
Die EU sollte in dieser Hinsicht hart bleiben, damit die ukrainischen Politiker sich richtig anstrengen, bevor sie weitere Finanzhilfen bekommen.
Gleichzeitig kritisiert sie die Zurückhaltung der EU, wenn es um Anreize geht: »Die EU hätte einen viel stärkeren Einfluss auf die Ukraine haben können, wenn sie das konkrete Versprechen einer potenziellen Mitgliedschaft gäbe.«
Die EU rückt näher – und bleibt doch unerreichbar
In der Tat befindet sich das Land in einer paradoxen Situation: Es strebt in die EU, ohne dafür eine Einladung zu haben. 2016 konstatierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sogar: »Die Ukraine kann mit Sicherheit in den nächsten 20–25 Jahren
Das sind sicher nicht die Worte, auf die die Demonstranten während der Maidan-Revolution gehofft haben.
Trotzdem sind sich in den letzten Jahren beide Seiten deutlich nähergekommen:
- 2014 wurde das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU unterzeichnet, am 1. September 2017 ist es endgültig in Kraft getreten.
- Seit 2016 gilt ein umfassendes Freihandelsabkommen. Die EU ist nun auf dem ersten Platz unter den Handelspartnern der Ukraine –
- Generell schätzt der jüngste Bericht der EU-Kommission den Reformprozess positiv ein, bemängelt aber sein unzureichendes Tempo.
Auch wenn das Land in naher Zukunft wohl kein Teil der Europäischen Union wird, ist eine reformierte Ukraine ein zuverlässigerer Partner für die EU.
Ein Land zwischen den Fronten
Wie Olenas Beispiel zeigt, tobt hinter den Kulissen weiterhin der Kampf zwischen Reformkräften und
4 Jahre nach der Maidan-Revolution führt die Ukraine also immer noch 2 Kriege. Den einen gegen die russische Aggression im Donbass. Den anderen gegen die alte politische Kultur, die Macht der Oligarchie und das alte System. Von einem Sieg der Revolution kann tatsächlich (noch) nicht die Rede sein. Aber Olena meint: »Es gibt viel mehr Menschen als vorher, die bereit sind, für einen echten europäischen Kurs der Ukraine zu kämpfen«.
Sogar im Parlament gibt es seit 2015
Olena Tregub bleibt trotz aller Niederlagen der letzten Jahre optimistisch. Ihr Ziel für die nächsten Monate ist es, mit der Korruption in einem der problematischsten Bereiche der Ukraine aufzuräumen: dem
Titelbild: Inga Pylypchuk - copyright