Warum es bei uns keine Opioidkrise geben kann
In den USA stirbt alle 10 Minuten ein Mensch wegen seiner Schmerzmittelabhängigkeit. Wie es so weit kommen konnte und welche Regeln uns in Deutschland davor schützen.
Ein einziger Tag reichte aus, um die USA über Jahre hinweg zu traumatisieren. Die Angriffe am 11. September 2001 löschten in kürzester Zeit
Der Missbrauch von opioidhaltigen Schmerzmitteln hat sich seit der Jahrtausendwende in den USA zu einer derartigen Epidemie ausgeweitet, dass überdosierte Schmerzmittel zwischenzeitlich für
Wie konnte die Situation dermaßen eskalieren? Und kann uns das in Deutschland auch passieren?
Opioide – Fluch und Segen
Um direkt zu Anfang Missverständnissen vorzubeugen:
Anfang der 1990er-Jahre wurde die medizinische Fachwelt auf einen schwerwiegenden Missstand aufmerksam: Millionen von Amerikanern litten unter chronischen Schmerzen, auf die es keine adäquate Antwort gab. Das passte nicht in das Selbstverständnis der modernen Medizin. Dafür aber ins Geschäftsmodell der Pharmakonzerne.
OxyContin – ein Opioid »to start with and to stay with«?
1995 hatte das Unternehmen
Doch der Preis war hoch: Der in OxyContin enthaltene Wirkstoff Oxycodon ist ein chemischer Verwandter von Heroin, welches wiederum doppelt so stark wirkt wie Morphium. Das erhebliche Suchtpotenzial des Stoffes hielt Mediziner vormals meist davon ab, solche Medikamente leichtfertig zu verschreiben.
Um diese Vorbehalte zu zerstreuen, startete das Unternehmen eine massive Marketingkampagne. Studien wurden finanziert, Schmerzspezialisten bezahlt. Dabei streute Purdue nachweislich bewusst irreführende Informationen
Was die Vertreter dabei wohl selten erwähnten: Werden die Wundermittel überdosiert, droht der Tod durch Atemstillstand – ein Schicksal, das
Vom Schmerzpatienten zum Drogenabhängigen
Die neuen Kontrollen führten zu einem Mangel an Nachschub für die Abhängigen. Unter den ehemals regelmäßigen Konsumenten von OxyContin und ähnlichen Arzneien wuchs die Verzweiflung. Ohne staatliche Auffang- oder Entzugsprogramme blieb vielen wenig anderes übrig, als sich dem günstigeren und leichter zu beschaffenden Heroin oder dem noch gefährlicheren
75% der Heroinabhängigen in den USA sind durch opioidhaltige Medikamente zum Heroin gekommen.
Mit dramatischen Folgen: Da diese Stoffe schwerer zu dosieren und – weil auf dem Schwarzmarkt oft gestreckt und gepanscht wird – weniger rein sind, stieg die Zahl der Todesopfer nochmals massiv an und machte die Schmerzmittelkrise so zur heutigen Opioid-Epidemie.
Zwar gingen die Verschreibungen von Mitteln wie OxyContin seit 2011 leicht zurück. Dennoch hätte allein die 2015 verschriebene Menge ausgereicht, um jeden einzelnen Amerikaner rund um die Uhr zu benebeln –
Die Katastrophe hat einige wenige Gewinner: Bis heute spülte OxyContin ca. 35 Milliarden US-Dollar in die Kassen von Purdue Pharma. Der Verkaufsschlager verschaffte den Firmeninhabern, der Familie Sackler, ein Privatvermögen von 14 Milliarden Dollar und somit einen Platz
Unbeeindruckt von der Millionenstrafe machte sich das Unternehmen auf, sein bestes Pferd im Stall
OxyContin goes global – auch in Münster?
Purdue Pharma beschränkt seine Aktivitäten nicht allein auf den US-amerikanischen Markt. Über Firmenableger und Tochterunternehmen wie
Purdue Pharma ist global aktiv – auch in Deutschland.
Deutschland bildet hier keine Ausnahme: 2003 initiierte und finanzierte Mundipharma zunächst das
Über Inhalte der Schulungen lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren. Zwar meldete sich Mundipharma Deutschland schriftlich auf eine Anfrage zurück – blieb aber die Beantwortung der Fragen über Förderumfang und Inhalte schuldig. Die Presseabteilung teilte zu dem Projekt lediglich wenig konkrete Allgemeinplätze mit, etwa: »Ziel war es, Wissens- und Versorgungslücken an den Schnittstellen von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeeinrichtungen, Schmerzpraxen und Hospizen zu erkennen und zu schließen.«
Projekte wie das »Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster« können zwar viel Gutes bewirken, etwa wenn dadurch wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden und die Versorgung alter und kranker Menschen verbessert wird.
In diesem Fall bleibt aber ein bitterer Beigeschmack: »Wenn ein Pharmaunternehmen – egal in welcher Größenordnung – an Projekten beteiligt ist, dann ist das Werbung«, so Christiane Fischer, ärztliche Geschäftsführerin der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte,
Die Pharmaindustrie soll die Medikamente liefern, aber nicht bestimmen, wie diese eingesetzt werden. Sie sollten da eindeutig nicht mit drinstecken.
Besteht also die Gefahr, dass durch Marketing von Pharmakonzernen nach einem ähnlichen Muster wie in den USA auch bei uns mehr und mehr Menschen abhängig werden?
Aktuell sieht es nicht danach aus. Zwar gibt es auch in Deutschland ein Problem mit Mitteln, die nicht nur heilen, sondern auch süchtig machen – schätzungsweise
Im Gegensatz zu den USA gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Die meisten Betroffenen hierzulande sind nicht von opioidhaltigen Schmerzmitteln abhängig, sondern kommen nicht mehr
Auf Anfrage teilte die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin mit, dass in Deutschland lediglich bei 1–3% der mit Opioiden behandelten Schmerzpatienten Abhängigkeitssymptome auftreten. Nochmals geringer ist somit die Zahl potenzieller Umsteiger auf
Zudem folgten dem Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster keine ähnlichen Projekte – ein mögliches Indiz, dass die Initiative für Mundipharma nicht den gewünschten Erfolg mit sich brachte. Zuletzt wurde gar das Hauptwerk inklusive Produktion und Forschung in Limburg komplett aufgegeben – die 174 Mitarbeiter aus dem Bereich Marketing und Vertrieb bleiben allerdings.
Was macht also den Unterschied?
Die 4 Dämme gegen die Opioidflut
Mindestens 4 Dämme sorgen in Deutschland dafür, dass opioidhaltige Schmerzmittel den Markt noch nicht überflutet haben:
- Strengere gesetzliche Vorgaben: Die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung legt fest, dass starke Opioide wie OxyContin hierzulande nur mittels
- Gut organisierte Ärzteschaft mit verbindlichen Standards: Nicht jeder Arzt darf Patienten mit chronischen Schmerzen behandeln. Zunächst muss er einen von der Ärztekammer anerkannten Kurs zur Schmerztherapie absolvieren, in dem interdisziplinäre
- Gut ausgebautes Gesundheitssystem als Sicherungsnetz: Bei allen Vorgaben ist es trotzdem nie ganz auszuschließen, dass Menschen von Medikamenten abhängig werden. Tritt dieser Fall doch ein, werden Betroffene
- Strengere Regeln für Medikamentenwerbung: Verschreibungspflichtige Arzneien dürfen in Deutschland zwar beworben werden – allerdings nur gegenüber Fachleuten wie Ärzten oder Apothekern. Aggressive Fernsehwerbung für starke Schmerzmittel, wie sie in den USA im Rahmen der Marketingkampagnen gesendet wurde, ist durch das Heilmittelwerbegesetz
Diese 4 Faktoren bilden aktuell ein gutes Bollwerk gegen den Missbrauch von opioidhaltigen Schmerzmitteln in Deutschland. Das Beispiel Mundipharma hat jedoch angedeutet, dass es noch Luft nach oben gibt, damit Pharmaunternehmen so wenig unlauteren Einfluss wie möglich ausüben können.
Ärzte gegen den Einfluss der Pharmafirmen immunisieren!
Die Ärzte bilden das Nadelöhr bei der Behandlung von Schmerzpatienten. Sie müssen Opioide als Arznei sinnvoll einsetzen und über Zeitpunkt, Dauer und Menge entscheiden. Christiane Fischer von MEZIS betont, dass Ärzte dafür frei von Beeinflussung sein müssen: »Es muss unabhängige Schulungen geben, um die gleichzeitige Über- und Unterversorgung aufzubrechen.«
Das ist jedoch oft nicht der Fall. Zwar ist das direkte Werben für verschreibungspflichtige Medikamente untersagt. Dennoch fließt häufig ein Großteil des Budgets der Pharmafirmen in das Marketing ihrer Produkte. Wohin führt der Weg des Geldes?
Nicht jeder geflossene Euro ist pauschal schlecht: Ärzte, die beispielsweise bei der Entwicklung neuer Medikamente beratend für Unternehmen tätig sind, müssen dafür natürlich bezahlt werden. Dennoch ist die von Christiane Fischer geforderte Unabhängigkeit bei anderen Zahlungen immens bedroht. Der Interessenkonflikt ist klar:
Diese Leute sind keine Gesundheitsexperten, sondern Verkaufsleute. Ich würde gerne die Pharmaindustrie zu dem machen, was sie ist. Nämlich ein Hilfssektor des Gesundheitsbereichs.
Da das derzeit jedoch wenig realistisch ist, müsse zumindest mehr Transparenz geschaffen werden. In diesem Punkt können wir wiederum von den USA lernen. Dort gibt es seit 2010 den »Physician Payments Sunshine Act«, ein Gesetz, das die Pharmakonzerne dazu zwingt, ihre Geldzahlungen an Ärzte und Kliniken offenzulegen. Die US-Gesundheitsbehörde ist als staatliche, unabhängige Stelle für die Umsetzung verantwortlich und veröffentlich einmal jährlich die Zahlungen in einer
Mit einem solchen Gesetz könnte sich auch bei uns jeder Patient vor der Arztwahl schlaumachen, auf wessen Gehaltsliste der Mediziner eventuell steht – und so einen der 430.000 Ärzte aufsuchen, die frei von Zuwendungen der Industrie sind. Das sind – trotz allem Pharma-Marketing – noch immer stolze 87%.
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