So hat der frühe Wecker dir geschadet
Jeden Morgen diskriminiert er Millionen junger Menschen, deren biologische Uhr anders tickt. Eine einfache Lösung sorgt für mehr Gerechtigkeit – und bessere Noten.
Das ist echt der größte Kulturschock für uns gerade, jeden Morgen ein einziges Elend für uns selbst und die Kinder. Wir müssen um 6:30 Uhr raus, um es pünktlich zur Schule zu schaffen. Die preußischen Schulzeiten in Kombination mit Zeitumstellung lassen uns fast das ganze Jahr im Dunkeln aufstehen. Und die Menschen gehen hier nicht früher ins Bett als im Rest der Welt, wo »9–5« gilt. Kein Wunder, dass Deutschland ein Land der miesen Laune ist!
Das schrieb ein Freund aus London, der vor einigen Monaten gemeinsam mit Frau und 3 Kindern (2 davon schulpflichtig) zurück nach Deutschland gezogen ist. Recht hat er. Doch die
Sie sind hochgradig diskriminierend!
Warum? Weil sie die Zukunft und Gesundheit zahlreicher junger Menschen aufs Spiel setzen.
Ich warte auf die ersten Gerichtsurteile, die Schulen verurteilen, weil ihre Anfangszeiten die Biologie von Schülern diskriminieren.
Was unsere 3 Uhren mit Diskriminierung zu tun haben
Um zu verstehen, warum frühe Schulzeiten für die meisten Beteiligten diskriminierend sind, müssen wir uns nur 3 Dinge klarmachen. Das geht am besten in einem Mini-Grundkurs zu unserer inneren Uhr. Die Forschung dazu trägt zwar den gähnend langweiligen Namen
Erste Lektion: 3 Uhren bestimmen unseren Takt
Unser Schlaf-Wach-Rhythmus und unsere Müdigkeit werden durch 3 Uhren bestimmt.
- Die erste Uhr ist rein biologisch und wir nennen sie umgangssprachlich gern »die innere Uhr«. Tatsächlich sitzt sie in jeder
Unser - Die zweite Uhr ist die auf- und untergehende Sonne, also der 24-Stunden-Rhythmus eines Tages. Fällt wenig Licht auf unsere
»Wir brauchen immer dann einen Wecker, wenn wir biologisch noch nicht zu Ende geschlafen haben.« – Till Roenneberg, Schlafforscher
- Die dritte Uhr ist die jüngste: unsere präzise, weltweite Zeitmessung, die wir erst seit der Industrialisierung nutzen. Seit 1884 können wir mit der Einteilung der Erde in Zeitzonen weltweit minutengenaue Verabredungen treffen.
Diese Uhr wird von Forschern als soziale Uhr bezeichnet, weil sie unsere Schul- und Arbeitszeiten, unsere Freizeit und täglichen Abläufe bestimmt. Im Gegensatz zu den ersten beiden Uhren ist sie nicht biologisch und
Zweite Lektion: Wir können nicht zwischen Eule und Lerche wählen
Es kann passieren, dass 2 Menschen sich ein Bett teilen, ohne sich darin zu begegnen.« – Till Roenneberg, Schlafforscher
In wie vielen Beziehungen führt das (gemeinsame) Frühstück wohl des Öfteren zum Streit? Der eine ist um 7 Uhr fit, die andere kommt nachts nicht zur Ruhe und würde das Frühstück am liebsten ganz ausfallen lassen. Die Unterschiede haben nichts mit Faulheit, wenig mit
Um herauszufinden, welcher Chronotyp du bist, kannst du einen einfachen Trick anwenden: Verzichte eine Zeit lang auf einen Wecker und beobachte,
Entgegen aller »preußischen Ansprüche«, um 6 Uhr in den Tag zu starten,
Eulen und besonders die extremen Spättypen können also nichts für ihre Müdigkeit am frühen Morgen – ihre Biologie sorgt buchstäblich dafür, dass ihre inneren Uhren anders laufen als die der Lerchen.
Das bringt uns zu Lektion Nummer 3:
Dritte Lektion: Dein Alter beeinflusst, ob du Eule oder Lerche bist
Egal ob du heute eine Lerche oder eine Eule bist, warst du mit großer Wahrscheinlichkeit zu Schulzeiten eher eine Eule. Denn während Kinder klare Lerchen sind, werden sie im Jugendalter langsam zu Eulen.
Weil sie aber um 8 Uhr oder noch früher die Schulbank drücken müssen, entsteht unter der Woche automatisch ein Schlafdefizit, gegen das die Jugendlichen gar nicht ankämpfen können:
Wenn man sich die Bevölkerung in Deutschland anschaut, sieht man, wie wenige wirkliche Frühtypen es gibt: Das ist die absolute Minderheit. Interessant, wie so eine Minderheit es geschafft hat, das Schulsystem so zu prägen.
Wenn der Wecker um 6:30 Uhr (oder noch früher) klingelt,
Genau diese Besonderheit der jugendlichen inneren Uhr bringt uns zur doppelten Diskriminierung.
Doppelte Diskriminierung durch den frühen Start
Im Jugendalter geht es um Schulabschlüsse und Zukunftschancen – wer dann ein Spättyp ist, wird durch den frühen Schulstart doppelt bestraft:
- Morgens werden die Schüler während ihrer biologischen Nacht geweckt, in die Schule geschickt und in ihrer natürlichen Schlafenszeit zum Lernen gezwungen. Das kann nicht funktionieren, weil sie nicht in der Lage sind, Informationen richtig aufzunehmen.
- Nachts können sie die Informationen nicht richtig abspeichern.
Das bleibt nicht ohne Folgen:
Und nein, das hat nichts mit Faulheit, sozialen Medien, Videospielen oder Serien zu tun: Nach ein paar Jahren, wenn sich der Student oder Arbeiter Lern- und Arbeitszeiten freier einteilen kann, verschwinden die Leistungsunterschiede zwischen Eulen und Lerchen wieder – ohne dass sich das Freizeitverhalten dafür ändern muss.
Dass die Unterschiede im Notenschnitt während der Pubertät nichts mit der Intelligenz zu tun haben, zeigt auch ein Blick auf die Mitglieder des
Der frühe Schulstart versetzt die Schüler im Jugendalter dauerhaft in den erwähnten social Jetlag, vergleichbar mit Menschen, die jeden Tag die Nacht- oder Frühschicht arbeiten müssen. Till Roenneberg forscht seit mehreren Jahrzehnten zum Thema Chronobiologie und seine Stimme wird lauter, als er über das Thema spricht:
Die Tatsache, dass ein Spättyp eine Abiturnote bekommt, die ihn nicht Medizin studieren lässt, ist vergleichbar mit einem jungen Menschen, der keinen Studienplatz für Jura bekommt, weil er am Reck nicht turnen kann wegen einer schiefen Wirbelsäule. Das ist auch biologisch und genau auf diese Bilder muss man die Situation runterbrechen.
Sein erklärtes Ziel ist es, den Menschen klarzumachen, dass wir nicht länger gegen unsere innere Uhr ankämpfen sollten. Denn neben Diskriminierung, die in verbauten Zukunftschancen endet, hat der morgendliche Kampf des Nachwuchses (und ganzer Familien) auch gesundheitliche Folgen. Dazu gehören:
- Fettleibigkeit:
- Leichtsinn:
- Abhängigkeit:
- Motivationsmangel:
Wir brauchen generell ein Umdenken in der Gesellschaft, die den Menschen verständlich macht, dass sie durch ein Leben gegen ihre innere Uhr früher sterben. Ganz einfach.
In der Schule nicht mitkommen, dösen, vielleicht sogar im Unterricht einnicken, das gefällt keinem Lehrer. Dadurch kann leicht ein gewisser Druck entstehen und vielleicht beginnt die Hänselei durch Mitschüler: »Du bist ja ein Penner!« Dabei kann viel in der Psyche eines jungen Menschen beschädigt werden.
Auch wenn nicht jeder übermüdete Schüler direkt psychisch erkrankt, wissen wir mittlerweile, dass der späte Chronotyp häufiger an
Dabei gibt es eine fast banale Änderung, die dafür sorgen würde, dass von heute auf morgen Schluss wäre mit der Diskriminierung – und die Noten nach oben schießen würden.
Es geht auch anders: Andere Länder machen es vor!
Es ist geradezu ein wissenschaftliches Gebot, dass wir mit dem Schulanfang auf die Biologie des Schülers eingehen, und nicht umgekehrt.
Die Beweislast könnte größer nicht sein: Zahlreiche Studien und ganze Länder zeigen, wie wir das Problem erfolgreich beheben können. Die Schule muss einfach später anfangen – frühestens um 8:30 Uhr, am besten noch später. In Studien mit Tausenden von amerikanischen Schülern über mehrere Jahre
Mit unseren »preußischen Schulzeiten« hinken wir nicht nur hinter der ehemaligen Heimat des Freundes aus England hinterher. Dort
Ein Szenario, das in Deutschland undenkbar erscheint. Denn obwohl nicht nur Schlafforscher wie Till Roenneberg und der
Es ist vollkommen unverständlich, warum es unpraktikabel sein sollte. In England und anderen Ländern fängt die Schule schon immer um 9 an. Die schaffen das doch auch.
Dazu muss man wissen, dass Bildung von den Ländern geregelt wird. Sie stellen jeder Schule frei, wann der Unterricht beginnt. Wer sich gegen einen späteren Unterrichtsbeginn sträubt, sind die Lehrer und Schulleiter. Sie erkennen das Ausmaß der Lage nicht, verweisen auf ausgedünnte Busfahrpläne (die auf den frühen Schulstart optimiert sind) und
Deutschlands erste Gleitzeit-Schule
Nicht für Martin Wüller, stellvertretender Direktor des ersten »Gleitzeit-Gymnasiums« in Deutschland. Die Ergebnisse der Schlafforschung haben ihn wachgerüttelt:
Wir machen ja Unterricht für Schüler. Natürlich muss es den Lehrern dabei nicht schlecht gehen, aber der Stundenplan wird schon für die Schüler gemacht.
Seit dem Frühjahr 2016 können die Oberstufenschüler am Gymnasium in Alsdorf bei Aachen selbst entscheiden, ob sie um 8 oder 9 starten. Ein idealer Ort für Till Roenneberg, der
Ich bin eigentlich nie wirklich ausgeschlafen in der Schule. Schlafe ich eine Stunde länger, bin ich ein bisschen wacher als sonst und kann besser arbeiten.
Angesteckt von Till Roennebergs Begeisterung machen wir uns auf den Weg nach Alsdorf. Die älteren Schüler dort haben den Wechsel vor knapp 2 Jahren mitbekommen und sich schnell an die Umstellung gewöhnt. Jetzt profitieren sie doppelt: Die Zeit abends vor dem Schlafengehen ist entspannter, weil sie wissen, dass sie morgens eine Stunde länger schlafen können, und sie genießen die Freiheit, selbst darüber entscheiden zu können.
Ich finde das sehr schön. Das erlaubt mir, eine gewisse Freiheit zu haben, was das Arbeiten betrifft.
Es müssen aber keine Stunden doppelt angeboten werden, weil in der ersten Stunde kein Fachunterricht stattfindet. Schüler, die zur ersten Stunde um 8 kommen, arbeiten selbstständig an Aufgaben, die die anderen in einer ihrer Freistunden nachholen. Zugebenermaßen war die Umstellung auf Gleitzeit in Alsdorf leichter als für andere Schulen, weil dort schon vorher
Wenn eine Schule etwas ändern will – ist meine These –, wird sie einen Weg finden können.
Martin Wüller ist nicht nur stellvertretender Schulleiter, sondern unterrichtet in Alsdorf auch Biologie und Chemie. Er spricht gern und offen über die Umsetzung der Gleitzeit an seiner Schule; die Gesundheit und Chancen seiner Schüler liegen ihm am Herzen. Nachdem die Schülervertreter zu Beginn einstimmig für die Umstellung auf Gleitzeit gestimmt haben, haben sie die Entscheidung nicht bereut, und Martin Wüller beobachtet im Schulalltag eine größere Zufriedenheit seiner Schülerschaft.
Müssen wir also alle Schulen auf Gleitzeit umstellen? Nein, es geht viel leichter: Wenn alle Schulen einfach erst um 9 Uhr beginnen würden, wäre die doppelte Diskriminierung auf einen Streich vorbei.
Katharina Lüth studiert Cognitive Science in Osnabrück, hat von Mai – August 2017 ein Praktikum in der Redaktion von Perspective Daily gemacht und forscht zum Thema Schlaf und Traum.
Titelbild: Kinga Cichewicz - CC0 1.0