Wie mich das BAföG fast das Studium gekostet hätte
Gleiche Chancen für alle? Nicht bei 2 »Bildungs-Pipelines«. Als Arbeiterkind steckte ich zwangsläufig in der falschen fest.
Am schwersten fiel es mir, abends einzuschlafen. Wenn sich das Gedankenkarussell in Gang setzte, das mit jeder neuen Runde durch eine andere Ungewissheit neuen Schwung aufnahm: Was passiert in 2 Monaten, wenn mein BAföG ausläuft? Wie kriege ich meine 3 Nebenjobs mit der Masterarbeit unter einen Hut? In wie vielen Jahren werde ich schuldenfrei sein, mit meinem Abschluss in Politikwissenschaft?
Wer sich als Erster aus der Familie an die Uni wagt, hat mit diversen Lecks in der »Bildungs-Pipeline« zu kämpfen.
Auch wenn in Deutschland jeder fast kostenfrei studieren kann und der Staat nahezu 600.000 junge Menschen mit BAföG unterstützt, lassen solche Fragen Tausende Studierende – wie mich damals – nicht in den Schlaf finden. Wenn keiner der Eltern selbst studiert hat, ist der Sprung an die Uni nicht nur ein Abenteuer, sondern vor allem eine zusätzliche Herausforderung.
Wer sich als Erster aus der Familie an die Uni wagt, hat neben Prüfungen und Abschlussarbeiten mit diversen Lecks in unserer »Bildungs-Pipeline« zu kämpfen.
Steckt man in so einer Situation, sehnt man sich nach einer Lösung, die zwar nicht alles abdichtet, aber unkompliziert die größten Löcher stopft. Die gibt es.
Die Lecks in der Pipeline
Meine Eltern hatten nicht die Möglichkeit, mich nach dem Abitur finanziell zu unterstützen. Dank
Dennoch: Die »Bildungs-Pipeline« von Nicht-Akademikerkindern – also Kindern, von denen nicht mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss hat – hat jede Menge Lecks, durch die nach jeder Abzweigung deutlich weniger übrig bleiben. In Zahlen bedeutet das: Von 100 Grundschülern machen 44 Abitur, von denen dann nur 21 ein Studium beginnen. Von dort »fließen« noch 15 bis zum Bachelor, 8 zum Master und ein Einzelner macht dann noch seinen Doktor. Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat, haben 10-mal so oft am Ende einen Doktortitel in der Tasche.
Am dramatischsten ist der Unterschied der beiden Pipelines aber beim Übergang zur Hochschule. Für die Akademikerkinder gilt: Fast jeder, der die Zugangsberechtigung schafft, nutzt diese auch (95%).
Schuld an diesen Ergebnissen sind mindestens 3 Lecks in der Pipeline der Nicht-Akademikerkinder.
Leck 1: »Verdien’ lieber erst mal Geld!«
Mein BAföG fiel mir nicht einfach so in den Schoß, es wollte hart erkämpft werden. Als ich das bürokratische Ungetüm aus
Der BAföG-Antrag ist ein Antrag von Akademikern für Akademiker.
»Das ist ein Antrag von Akademikern für Akademiker, der Abiturienten und deren Familien überfordert«, weiß Katja Urbatsch, Gründerin der Initiative
Arbeiterkind.de berät mit inzwischen bundesweit 6.000 Ehrenamtlichen in 75 lokalen Gruppen Menschen, die in ihrer Familie die Ersten sind, die studieren – um sie vor den Lecks in der Pipeline zu bewahren. Das ist dringend nötig:
Leck 2: »Hast du keine reiche Tante, die dir Geld leiht?«
Nachdem der BAföG-Antrag bewältigt war, wollte sich nicht so recht Besserung einstellen. Ich musste mein trautes 9.000-Seelen-Dorf verlassen, eine Wohnung in Bielefeld finden, Kaution und Miete stemmen. Hoffentlich würde das Geld irgendwie reichen …
Die Startkosten für ein Studium können schnell Löcher in die Bildungs-Pipeline reißen.
Kein finanzielles Polster zu haben, ist kein schönes Gefühl und machte mir Angst. Es hatte etwas von einer Wette, bei der ich erst am Ende wissen konnte, ob ich mich verspekuliert hatte – nur dass der Einsatz hier ein größerer war als auf dem Schulhof. Meine Wette auf BAföG dauerte bis zum dritten Monat nach Studienbeginn – was laut Auskunft des Studentenwerks, die meine panischer werdenden Anrufe abfingen, nicht ungewöhnlich wäre.
Die Startkosten für ein Studium können schnell Löcher in die Bildungs-Pipeline reißen. »Die soziale Herkunft und damit der finanzielle Hintergrund der Eltern sind der stärkste Faktor für Benachteiligung.« Katja Urbatsch betont einen fast banalen Zusammenhang, der trotzdem immer noch oft unterschätzt wird. »Wir haben ganz viele Studierende, die haben kein Geld auf der hohen Kante, die haben keine Eltern, die das unterstützen können, die haben nichts.« Andere Faktoren – wie Herkunft, Religion oder auch Geschlecht – kommen hinzu.
Muss also einfach die Gießkanne ausgepackt und
Bleiben diese Informationen aus, wird häufig erst
Leck 3: »Sieh zu, dass du fertig wirst!«
Nachdem die ersten Hürden genommen waren, ging es mit der Praxiserfahrung los. Ein Praktikum von 3 Monaten sollte es schon mindestens sein. Nach einigen Anläufen bekam ich eine Zusage für das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn – Volltreffer!, dachte ich –, bis ich erfuhr, dass Praktikanten mit 300 Euro im Monat entlohnt werden. Immerhin, dachte ich mir, ein Großteil der anderen Angebote war schließlich
Es ging so lange gut, bis mich eine Panikattacke komplett aus der Bahn warf.
Dennoch geriet ich ins Zweifeln: So kurzfristig fand ich keinen Zwischenmieter für mein WG-Zimmer, mit der Vergütung konnte ich mir vielleicht eine Abstellkammer im teuren Bonn leisten. Ich musste mein BAföG also während des Praktikums zum Leben nutzen, mit dem Resultat, dass ich meine Masterarbeit außerhalb der Regelstudienzeit – sprich komplett ohne BAföG – schreiben musste.
Ich suchte mir mehrere Nebenjobs, um mich über Wasser zu halten, in der übrigen Zeit schrieb ich. Das ging so lange gut, bis mich eine Panikattacke komplett aus der Bahn warf und ich psychische Probleme bekam. So wäre auch ich nach dem Bachelor fast aus der Pipeline geflogen.
Wer sich als Arbeiterkind doch für die vermeintliche Risikovariante entscheidet, muss vor allem eines tun: sich ranhalten! Seit der Bologna-Umstellung auf Bachelor und Master weht ein rauer Wind an den Universitäten. Es geht vor allem darum,
Gerade die Gruppe, die es besonders schwer hat, muss in Regelstudienzeit studieren – das schaffen selbst die Akademikerkinder nicht, obwohl sie viel bessere Voraussetzungen haben und seltener neben dem Studium arbeiten müssen.
Fakt ist: 2014 wurden gerade einmal 40% aller Hochschulabschlüsse
Meinen wir es ernst mit dem sozialen Aufstieg?
Als es vorm Ende meines Studiums doch noch holprig wurde, kamen mir immer wieder die einseitigen Bemerkungen von Familie und Verwandtschaft in den Sinn. Statt ehrlichem Interesse oder gar Verständnis für meinen Weg drehte sich auf Familienfeiern immer alles um die Frage, wann ich denn nun endlich ans Arbeiten und Geldverdienen kommen würde – oder ob ich noch immer irgendwo Praktikant sei. »Als ich in deinem Alter war, hatte ich schon 10 Jahre malocht.
Während meiner Recherche war ich erschrocken darüber, mit welcher Vehemenz die Chancen-Ungleichheit im Bildungsbereich in den (Sozialen) Medien verleugnet wird. Das kennt auch Katja Urbatsch: »Manchen Menschen fällt es schwer zuzugeben, wie privilegiert sie sind.« Das Problem sei doch nicht real, jeder könne es schaffen,
An diesem Unverständnis wird deutlich, dass sozialer Aufstieg nicht nur eine Frage der Bildungspolitik ist:
Viele machen sich nicht klar, wie tief die Ungleichheit in Deutschland verankert ist. Wir haben hier eine Haltung, die Durchlässigkeit nicht fördert.
Oft geht es dabei auch um die Angst, dass bald alle studieren würden und das doch auch nicht gut sein könne. Diese Argumentation zeigt einen grundsätzlichen Fehlschluss: Es geht nicht darum, dass jeder studieren soll, sondern darum, dass jeder studieren kann, der diesen Weg gehen möchte – ohne dass die familiäre Herkunft und finanzielle Situation darüber entscheiden.
Wenn wir es mit dem sozialen Aufstieg gesellschaftlich ernst meinen, bleibt die Frage, wie wir die Lecks in der Bildungs-Pipeline stopfen können.
Was ich mir gewünscht hätte – und anderen wünsche
Natürlich wäre eine Generalüberholung das Mittel der Wahl, bis dahin bleibt aber vor allem eine Stellschraube interessant: das schnöde Geld – beginnend mit einer BAföG-Reform, über die Nebelkerzen pauschaler Leistungserhöhung hinaus.
Im jetzigen System herrscht eine Kultur der Holschuld – wer nicht weiß, wie er an Unterstützung kommt, bleibt auf der Strecke. Gerade wenn das familiäre Umfeld wenig Wissen oder sogar Verständnis für die eigene Zukunftsplanung aufbringt, muss der Zugang zu Informationen und Angeboten optimiert werden. Das geht zum Beispiel so:
- Gleichberechtigter Zugang zu Informationen: Das Berliner Studienberechtigten-Panel zeigt, dass kostengünstige Aufklärungsarbeit an Schulen
Arbeiterkind.de versucht dieses Leck seit Jahren abzudichten, kann aber nicht jede Schule im Bundesgebiet abdecken. Da Schulpolitik Ländersache ist, sind an den Schulen die Landesregierungen in der Pflicht. Nordrhein-Westfalen könnte hier Vorreiter werden: Nach dem Vorbild eines Förderkonzepts der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen werden inzwischen 50 sogenannteDie Logik, in der sich Bildungsaufsteiger ihre Hilfe irgendwie selbst suchen müssen, muss sich komplett umkehren. – Katja Urbatsch, Gründerin von Arbeiterkind.de
- Mehr Planungssicherheit: Für einen gerade volljährig gewordenen Studieninteressierten sind 10.000 Euro Schulden eine hohe mentale Hürde. Um die zu nehmen, brauchen wir eine zentrale Anlaufstelle, bei der jeder erfragen kann, ob und wie viel BAföG gezahlt werden wird und welche Rückzahlungsmodelle es gibt. Aktuell bündelt das Studierenden-Forum »Studis-Online« verschiedene Informationsangebote und hat einen BAföG-Rechner auf der Website.
- Effiziente Verwaltung: Damit der erste Kredit nicht schon vor der ersten Vorlesung aufgenommen werden muss, müssen die BAföG-Anfragen schneller bearbeitet werden. Die Studierendenwerke der Unis brauchen also ausreichend Personal. Um Umzug und Kaution zahlen zu können, muss die erste Zahlung vor Studienbeginn erfolgen, zum Beispiel als unkomplizierte Einmalzahlung – da die Zusagen der Unis häufig auch kurzfristig kommen.
Gibt es einen politischen Willen, um die beiden Bildungs-Pipelines von Akademiker- und Nicht-Akademikernachwuchs anzugleichen? Zuletzt ließen lediglich
Gibt es einen politischen Willen, um die beiden Pipelines anzugleichen?
Die Neuauflage der GroKo lässt für das BAföG wenig Bewegung erhoffen – im Wahlprogramm der
Unabhängig vom politischen Lager muss klar sein: Wer sich ernstlich soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit auf die Fahnen schreibt, muss sich als ersten Schritt endlich an die Reform des BAföG-Systems wagen.
Das hätte mir viele schlaflose Nächte und eine Psychotherapie erspart. Der Statistik nach bin ich einer von 8, die bis zum Master gekommen sind – aber nicht, weil ich so eine helle Leuchte bin, sondern weil ich zum Glück viele Menschen hatte, die mich unterstützt haben. Mit mehr finanzieller Sicherheit als Grundgerüst müssten sich Hunderttausende Studierende nicht mehr so sehr auf Glück verlassen.
Mit Illustrationen von Isabell Altmaier für Perspective Daily