Das hilft, wenn kein Antibiotikum mehr wirkt
Moderne Antibiotika verlieren immer häufiger den Kampf gegen resistente Supererreger. Ein seit 100 Jahren wirksames Mittel kommt aus der ehemaligen Sowjetunion – die Phagen.
Sie bedrohen den medizinischen Fortschritt eines gesamten Jahrhunderts: Jeder kennt die Geschichten über resistente Keime wie das aggressive
Antibiotikaresistente Keime bedrohen den medizinischen Fortschritt eines gesamten Jahrhunderts.
Auch unsere Gewässer werden inzwischen von multiresistenten Keimen bevölkert: Anfang 2018 wurde nachgewiesen, dass antibiotikaresistente Erreger inzwischen auch Bäche, Flüsse und Badeseen in Niedersachsen besiedeln – wahrscheinlich ist das aber
Diese »Supererreger« lauern in immer größerer Zahl an immer mehr Orten. Antibiotika, die revolutionären Medikamente, die uns seit Jahrzehnten vor gefährlichen Bakterien schützen, verlieren an Stärke.
Um gegen die Bakterien aufzurüsten, müssen neue, noch stärkere Antibiotika her, oder?
In Osteuropa geht man seit Jahrzehnten einen ganz anderen Weg, um Bakterien zu vernichten und Menschenleben zu retten. Dringt die wundersame Phagen-Therapie nun auch Richtung Westen vor?
Fragen über Phagen
Phagen, das sind die zahlenmäßig häufigsten Lebewesen auf der Erde. Sie leben sowohl überall in der Umwelt als auch im Darm eines jeden Menschen. Schon einmal gehört?
Phagen, das sind die zahlenmäßig häufigsten Lebewesen auf der Erde.
Es handelt sich um Viren, die keine Menschen, sondern Bakterien befallen und zerstören. Sich im Kampf gegen Bakterien nun aber ausgerechnet mit Viren zu infizieren, klingt erst einmal wenig verlockend. Schließlich haben wir gelernt, dass einige Viren Herpes, Grippe oder sogar AIDS auslösen und wir daher einen Bogen um sie machen sollten. Aber Phagen sind spezielle Viren, die nur Bakterien etwas anhaben können – also die Erreger selbst krank machen.
Der kanadische Biologe Félix Hubert d’Hérelle hat die »Bakterienfresser« bereits 1917 entdeckt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Menschheit den Erregern schutzlos ausgeliefert. Entsprechend enthusiastisch wurde d’Hérelles Entdeckung gefeiert: Es kam zu einem regelrechten Phagen-Boom in Europa und den USA, nahezu alle Pharmafirmen setzten auf Phagen-Präparate – zum Beispiel gegen die tödliche Ruhr.
Mit dem Beginn der industriellen Produktion von Penicillin im Jahr 1942 fand diese kurze Blütezeit ein jähes Ende. Die Ära des Antibiotikums hatte begonnen – die Forschungsgelder für Phagen wurden zusammengestrichen.
Nicht so in Osteuropa: Im Kalten Krieg waren Antibiotika dort
»Zu Sowjetzeiten wurde jeder – ob Groß oder Klein – erfolgreich mit Phagen behandelt, entweder mit Tabletten oder per intravenöser Injektion«, berichtet mir Zemphira Alavidze, medizinische Mikrobiologin des Phage Therapy Center in der Hauptstadt Tiflis.
Doch dann fiel der Eiserne Vorhang und innerhalb kürzester Zeit brach die großzügige Finanzierung des Kremls für Phagen weg. Der
100 Jahre Medizingeschichte, bewahrt in Georgien
Trotz des Siegeszuges der Antibiotika blieben die Phagen im Osten – bis heute. »Phagen-Cocktails sind in jeder georgischen Apotheke rezeptfrei erhältlich und kommen in allen Kliniken zum Einsatz«, erklärt Zemphira Alavidze – gewissermaßen als Äquivalent zu unserem Breitband-Antibiotikum.
Die Zusammensetzung basiert auf den Erfahrungen aus 100 Jahren Medizingeschichte, die in den Virenbänken Georgiens bis heute überdauert hat. In der Praxis funktioniert das so: Haben Phagen den passenden Wirt gefunden, docken sie mithilfe ihrer Greifarme an (1), bohren die Zellwand auf und injizieren ihre DNA in die Zelle (2). Das gekaperte Bakterium stellt jetzt selbst Phagen her (3), bis seine Hülle zerstört wird und es eine Armada neuer Phagen auf ihren Beutezug entlässt (4). Vermehren sich die krank machenden Bakterien noch weiter, wächst die Phagen-Population mit, sind alle Bakterien getötet,
Auf diese Weise wurden zu Sowjetzeiten Millionen von Menschen therapiert – auch die Rote Armee zählte zu den Großabnehmern. Berichte über Nebenwirkungen sind nicht überliefert. Der Grund: Anders als Antibiotika beschränken sich die Phagen bei ihrer Arbeit nur auf Krankheitserreger, während Antibiotika nützliche
Die Vorteile der Phagen-Therapie werden so langsam von Patienten aus aller Welt wiederentdeckt. »Aktuell kommen monatlich bis zu 10 ausländische Patienten zu uns, die in ihren Heimatländern aufgegeben wurden«, so Alavidze. Seit 2005 sind so über 1.300 Patienten behandelt worden. Sie kommen von allen Kontinenten nach Georgien – aus den USA, Kenia, Malaysia, Australien und auch aus Deutschland. Die Erfolgsrate liegt laut Alavidze bei 85–90%.
Wunderheilung gibt es nicht
Warum aber wird nicht längst bei uns mithilfe von Phagen Jagd auf die multiresistenten Bakterien in Kliniken, Fleisch und Gewässern gemacht?
3 Faktoren bremsen den Siegeszug der Virenarmee aus:
- Image- und Datenproblem: Die georgischen Wissenschaftler haben ihre Erfahrungen auf Russisch, Georgisch oder (nicht selten) gar nicht publiziert. So kommt ihre jahrzehntelange Forschung im Wissenschaftskosmos, in dem Englisch quasi Amtssprache ist, fast nicht vor. Damit gab es auch kaum Budgets für großangelegte – und damit kostspielige – Langzeitstudien nach westlichen Standards. Nur eine Handvoll kleinerer Studien aus den USA und Großbritannien untersuchten Phagen –
Ein 100 Jahre altes Konzept lässt sich – wenn überhaupt – nur schwer patentieren.
- Marktlogik greift nicht: Pharmaunternehmen stemmen kostspielige Studien und Zulassungsverfahren,
Auch private Investoren hegen Vorbehalte gegen eine »sowjetische Therapie«. »Seit vielen Jahren finden wir keine Kapitalgeber, die bereit sind, in Georgien zu investieren«, sagt Chris Smith, der früher für Apple und IBM tätig war und heute als CEO von - Langwierige Zulassungsverfahren: Verständlicherweise müssen Wirkmechanismus und Unbedenklichkeit neuer Arzneien bei den Gesundheitsbehörden detailliert nachgewiesen werden. Dabei wird in der Regel eine chemisch klar definierte Substanz bewertet. Ein sich ständig selbst veränderndes Heilmittel, das vielleicht sogar noch aus der Kombination verschiedener Phagen besteht, passt hier nur schwer hinein.
Glücklicherweise gibt es trotz dieser Hindernisse Menschen, die Menschenleben mit Phagen retten wollen – oder es sogar in Europa schon tun.
Es gibt eine europäische Phagen-Lobby – und das ist gut so
Professor Andrzej Górski, Leiter der Phagen-Therapie-Einheit des
In Breslau wird MRSA seit 12 Jahren mit der Phagen-Therapie behandelt.
Mit dem großen Wort »Heilung« möchte er vorsichtig sein. »Ich kann auf Basis unserer Daten sagen, dass wir den Gesundheitszustand von 40% unserer Patienten verbessern können.« Eine beachtliche Quote, wenn man bedenkt, dass er nur Patienten aufnimmt, die zuvor jahrelang erfolgslos mit der ganzen Bandbreite von Antibiotika behandelt wurden.
Górski kann nicht nachvollziehen, warum nicht schon viel mehr Menschen mit Phagen geholfen wird: »Das größte Problem ist mangelndes Wissen. Die
Ein belgischer Kollege von Professor Górski traut sich und leistet in Brüssel wichtige Pionierarbeit: Thomas Rose ist einer der Vorkämpfer, die die Phagen-Therapie auch in Westeuropa salonfähig machen wollen. »Wir behandeln seit einiger Zeit Verbrennungswunden, Atemwegs- und Blaseninfektionen mit verschiedenen Phagen«, lässt er mich wissen. Über 20 Patienten behandelte der Arzt am belgischen Militärkrankenhaus Königin Astrid in Brüssel.
Alle Behandlungsmethoden waren ausgeschöpft. Mit den Phagen konnten die Entzündungen deutlich zurückdrängt oder sogar auskuriert werden.
Die Not der Patienten war der Ansporn, sich wie in Polen auf die Deklaration von Helsinki zu berufen. Da es sich auch hier meist um hoffnungslose Fälle handelte, stieß er auf keine Widerstände. »Alle anderen Behandlungsmethoden waren ausgeschöpft. Mit den Phagen konnten wir die jeweiligen Entzündungen deutlich zurückdrängen oder sogar gänzlich auskurieren.«
Das unerbittliche Engagement von Rose und seinem Team trägt Früchte: »Seit Januar 2018 dürfen wir die Behandlung in Belgien unter Einhaltung vorgegebener Protokolle wie jede andere nutzen«, so Thomas Rose.
Das könnte auch in anderen europäischen Ländern funktionieren. Tut es auch: Die Phagen sind in Deutschland angekommen.
Phage4Cure – das deutsche Modellprojekt
Die Schraube der Antibiotikaresistenz lässt sich nicht mehr zurückdrehen.
Die erste deutsche Studie nach westlichen Standards heißt
»Nun wollen wir in Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden einen Modell-Zulassungsweg für Phagen-Präparate entwickeln.«
»Eine Zukunft ganz ohne Phagen-Therapie ist nicht mehr denkbar – die Schraube der Antibiotikaresistenz lässt sich nicht mehr zurückdrehen«, sagt Christine Rohde ruhig, aber bestimmt. Nun gibt es aber einiges zu tun, um das Zulassungsproblem zu lösen: »Phagen sind eben anders als klassische Medikamente – kein anderes Arzneimittel repliziert sich am Infektionsort selbst.« Daher müssen die beteiligten Mediziner an der Charité in Berlin im Rahmen der Studie nachweisen, dass das Immunsystem der Patienten keine sich negativ auswirkende Abwehrreaktionen zeigt.
Die Behörden haben mittlerweile auch mitbekommen, welches Potenzial die Phagen haben.
Abwehrreaktionen sind aktuell vom BMBF jedenfalls keine zu erwarten – die Zeichen stehen auf Kooperation: »Uns wurde mitgeteilt, dass auch kleinere Studien genügen, weil 100 Jahre Erfahrung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion vorliegen, die für wenig nennenswerte Nebenwirkungen sprechen.«
Fahrplan für die Phagen-Geheimwaffe
Damit die Bakterienfresser auch in unserem Kulturkreis auf die Jagd nach resistenten Keimen gehen können, muss im Anschluss an »Phage4Cure« noch eine geeignete Infrastruktur geschaffen werden. Die Vision von Christine Rohde und ihren Kollegen umfasst 4 Ebenen:
- Suche: Das Fundament bilden Mikrobiologen, die ständig nach neuen Phagen suchen und deren Eigenschaften analysieren. Dazu gehören klinische Studien. Die nötigen Millionen müssen mangels Investoren von der EU oder den Einzelstaaten bereitgestellt werden.
- Produktion: Anschließend werden die Phagen an eine Produktionsstätte weitergegeben, gereinigt und nach höchstem pharmakologischen Standard reproduziert.
- Spezialisierte Kliniken: Die produzierten Phagen werden an einige spezialisierte Unikliniken geliefert, die als Zentren für die Phagen-Therapie fungieren.
- Kombination und Therapie: Ärzte legen eine Sammlung von genutzten Phagen an und entscheiden, welche Phagen-Kombination bei der individuellen Therapie zum Einsatz kommt.
»Wir hoffen sehr, dass sich die Politik nun weiterhin so kooperativ zeigt wie bisher.« – Christine Rohde, Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen
Dabei ist »individuell« das Schlüsselwort für die künftige Rolle der Phagen. Damit ist auch ihr Einsatz im Einzelfall gemeint: »Es kann nicht das Ziel sein, Antibiotika durch Phagen zu ersetzen«, stellt Christine Rohde vom DZMS klar. Denn: Phagen sind kein Allheilmittel. Vielmehr können sie unsere neue medizinische Geheimwaffe werden, um im Kampf gegen zähe »Supererreger« endlich wieder die Oberhand zu gewinnen.
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