Konfrontation und vielleicht ein paar Pillen: Was hilft gegen Angst?
Kannst du dir ein Leben ohne Angst vorstellen? Es gibt sie, die furchtlose Frau – weil ihr Gehirn keine Angst kennt. Was können wir von unserer Neurobiologie über Furcht und Angst lernen?
Sie ist auf dem Weg nach Hause. Im Park fordert ein Mann sie auf, sich neben ihn zu setzen. Als sie Platz nimmt, zückt er ein Messer und hält es ihr an die Kehle. Ihr Puls bleibt ruhig, ihre Gesichtszüge entspannt. Hat sie keine Angst?
»Ich hatte keine Angst. Warum auch immer, ließ er mich laufen. Und ich ging nach Hause.«
Sie sagt, sie habe Angst vor Schlangen und Spinnen. In der Zoohandlung drängt sie aber darauf, eine giftige Tarantel anzufassen – und muss daran gehindert werden, mit hochgefährlichen Schlangen zu spielen.
Die Rede ist nicht etwa von einer Action-Heldin, sondern von einer gewöhnlichen Frau, die nur eine Sache von uns unterscheidet: Sie hat keine Angst. Weder vor Spinnen noch vor bewaffneten, fremden Männern. Nicht weil sie besonders mutig ist, sondern weil sie an einer
Furcht oder Angst: Gibt’s da einen Unterschied?
Furcht und Angst gehören zu unseren grundlegendsten und
Wo also beginnen? Sind Angst und Furcht nicht wie jede Emotion ganz persönliche und subjektive Erfahrungen, die sich
»Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wirklich Angst vor etwas zu haben.«
Als Erstes müssen wir
- »Fear« (häufig übersetzt mit Furcht) ist eine Reaktion auf konkrete, aktuelle Ereignisse. Es ist das Gefühl von Unruhe, das in einer gefährlichen Situation plötzlich beginnt und schnell wieder verschwindet, wenn die Bedrohung vorbei ist. Das klassische Beispiel ist der Stock auf dem Waldboden, den wir für eine Schlange halten. Unser Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt und unsere Muskeln spannen sich an. Der Körper bereitet sich darauf vor, zu flüchten oder zu kämpfen – die klassische
Wie bereits angedeutet, gibt es 2 Arten von Furcht: die angeborene und die erlernte. Angeborene Furcht ist instinktiv und schützt uns vor Gefahren und allzu waghalsigem Handeln. Wir fürchten uns vor Skorpionen und Höhen, um nicht gebissen zu werden oder aus dem Fenster zu fallen. Gelernte Furcht haben wir zum Beispiel vor Schusswaffen und - »Anxiety« (häufig übersetzt mit Angst) ist keine unmittelbare Reaktion auf aktuelle Ereignisse, sondern das Unbehagen über die Erwartung weniger spezifischer und vorhersehbarer Bedrohungen, die meist länger anhalten. Sie dreht sich um die Sorge zukünftiger Ereignisse. Angst-Auslöser sind unklar und ungewiss. Während uns also gegenwärtige Bedrohungen wie die Schlange auf dem Waldboden Furcht einflößen, konzentriert sich die Angst auf die (ungewisse) Zukunft: Angst vor Gewalttaten oder Angst vor dem Weltuntergang. (Das Wort »Angst« kommt übrigens vom althochdeutschen »angust«, das »Enge«, auch im übertragenen Sinne, bedeutet.)
Auch wenn »fear« und »anxiety« (und auch Furcht und Angst) nicht dasselbe sind, können sich die neuronale Verarbeitung und das resultierende Verhalten beider
Angststörungen: Zu viel von einer normalen Sache
Angststörungen sind die
Die wichtigsten Angststörungen im Überblick:
- Generalisierte Angststörung (GAS): gekennzeichnet durch eine abnormale und unkontrollierbare Besorgtheit, die nicht ausschließlich auf ein bestimmtes Objekt oder eine Situation gerichtet ist, sondern auf alltägliche Dinge (zum Beispiel Gefahreneinschätzung, drohende Krankheiten und Geldsorgen). Die möglichen Symptome sind sehr vielfältig und reichen von Erschöpfung und Übelkeit hin zu Taubheit (Hände und Füße) und Schlaflosigkeit. Es ist die häufigste Angststörung.
- Panikstörung: gekennzeichnet durch unvorhersehbare Panikattacken (teilweise ausgelöst durch Stress, Angst oder Sport), die typischerweise ca. 10 Minuten dauern. Zu den typischen Symptomen gehören unkontrollierbare Angst (zum Beispiel die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden), Herzrasen, Zittern und Schwindel.
- Spezifische Phobie: gekennzeichnet durch eine abnormale Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen (ausgelöst durch die Anwesenheit oder die Vorstellung), eingeteilt in 5 Kategorien: Tier (zum Beispiel Spinne), natürliche Umgebung (zum Beispiel Höhen), Situation (zum Beispiel Raumangst), Verletzung (zum Beispiel Blut) und andere (zum Beispiel vor verkleideten Menschen). Zu den typischen Symptomen gehören Panikattacken inklusive der bei Panikstörung beschriebenen Merkmale.
- Soziale Phobie: gekennzeichnet durch starke Angst vor dem Umgang mit anderen Menschen (ausgelöst in mindestens einer bestimmten Situation, zum Beispiel bei Vorträgen). Zu den typischen Symptomen gehören Schweißausbrüche, Herzrasen, Zittern, Übelkeit und Sprachstörungen.
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): entwickelt sich nach einer traumatischen Situation wie sexuellem Missbrauch, einem Verkehrsunfall oder einem Kriegseinsatz (die meisten Menschen entwickeln keine
- Zwangsstörung: gekennzeichnet durch die zwanghafte Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen (»Rituale«), zum Beispiel Händewaschen, bestimmte Dinge zählen oder verschlossene Türen kontrollieren. Die genaue Ursache ist unbekannt.
Für alle gilt: Es gibt verschiedene Risikofaktoren, die die Entwicklung einer Angststörung wahrscheinlicher machen, »Statt wegzurennen, habe ich mich gestellt. Ich sagte, dass ich zurückkommen werde.«
Einige Wissenschaftler verweisen auf die Evolution. In der frühen Steinzeit sah unser (sozialer) Alltag anders als heute aus: Mehr Körperkontakt, mehr feste soziale Kontakte (in frühen Jahren) und mehr Berührung zwischen Säuglingen und Müttern – alles angstsenkende Faktoren, die uns schützen und
Diese evolutionsbezogene Perspektive könnte vielleicht auch unseren Blick auf Therapien von Angststörungen verändern. Bevor wir über Therapien sprechen, lohnt es sich, einen Blick auf die Verarbeitung von Angst in unserem Gehirn zu werfen – und das bringt uns zurück zur Patientin S.M.
Die Angst im Gehirn
S.M. ist eine von ca. 400 Patientinnen, die an dem sehr seltenen »Darum konnte S.M. sich nicht fürchten. Dieses Stückchen Gehirn konnte dem Rest des Körpers nicht mitteilen, dass es an der Zeit war, das Herz rasen zu lasen und schwitzige Hände zu bekommen.«
Bei S.M. ist dieser Effekt so stark, dass die Amygdala vollständig zerstört ist. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass die
Seit ihrer Kindheit hat S.M. keine Angst mehr gehabt. Das liegt so lange zurück, dass sie das Konzept oder Gefühl nicht beschreiben kann. Sie ist verheiratet, hat 3 Kinder und ist ein fröhlicher Mensch. Würden wir ihr begegnen, wäre zunächst nur die körperliche Nähe auffällig, die sie zu anderen – auch fremden – Menschen einnimmt: Wie auf der Parkbank, auf der ihr ein fremder Mann das Messer an die Kehle hält. Auch in einen Revolverlauf hat S.M. bereits 2 Mal unfreiwillig geschaut. Wer keine Angst hat, lebt gefährlich.
Sehen wir den Stock – oder die Schlange – am Waldboden, gelangen diese Informationen über Hirnregionen zur visuellen Verarbeitung direkt zur Amygdala. Sie signalisiert Gefahr und leitet über den Hirnstamm und andere Areale physische Furchtreaktionen ein: erhöhte Aufmerksamkeit, offener Mund, geweitete Pupillen, veränderte Atmung und vieles mehr. Parallel wird der frontale Kortex mit »eingeschaltet«, unser zentraler Denkapparat für höhere kognitive Funktionen, der uns hilft, die Situation besser zu beurteilen. Wir erkennen die Schlange als Stock und die Amygdala kann sich wieder »beruhigen«. Eine gesunde Gesichtsfarbe kehrt zurück, die Furcht weicht aus unseren Knochen.
So weit, so gut, das ist die angeborene Reaktion, die uns beim Überleben hilft. Was aber passiert, wenn wir gelernt haben, uns zu fürchten? Wie bei anderen Lernvorgängen auch, kommt es zur sogenannten Langzeit-Potenzierung (LTP von »long term potentation«). Dabei werden die Verbindungen zwischen Neuronen, die Synapsen, gestärkt, indem sie wiederholt aktiviert werden. Es ist ein wenig wie ein viel befahrener Feldweg, der in eine breite Straße umgebaut wird;
Wenn wir Angst also »lernen«, können wir sie dann auch wieder »verlernen«?
Die Zukunft von Angsttherapien
Tatsächlich sind Therapien gegen Angststörungen, bei denen Patienten ihre Angst verlernen, am erfolgreichsten. Dabei werden Erinnerungen im Langzeitgedächtnis überschrieben – oder von der Angst »entkoppelt« – und neue Erinnerungen abgespeichert. So werden – in Analogie zum Straßenbeispiel – bei einer erfolgreichen Therapie also sowohl neue (neuronale) Straßen für die Pendler gebaut als auch alte, hässliche Straßen gesperrt. Aber eins nach dem anderen. Zunächst gibt es grundsätzlich 2 Möglichkeiten,
- Pharmakologische Therapie: Die am häufigsten verwendeten Medikamente gegen
- Kognitive Verhaltenstherapie: Ziel der Kognitiven Verhaltenstherapie ist das Ver- oder Um-Lernen der Erinnerungen und Erwartungen, die zur Angst führen. Bezogen auf die erwähnte Langzeit-Potenzierung bedeutet das: Sie muss rückgängig gemacht werden – aus der breiten Straße soll wieder ein Feldweg werden.
Der bekannteste Ansatz ist die Konfrontationstherapie, die sich besonders für Phobien eignet. Dabei nähert sich der Patient im Beisein eines erfahrenen Therapeuten dem gefürchteten Objekt oder der angstauslösenden Situation an, sei es die Spinne oder der Eiffelturm. Die Verweildauer wird nach und nach erhöht. Dem Patienten wird klar, dass keine negativen Auswirkungen zu befürchten sind; die Angst wird gelöscht beziehungsweise von der entsprechenden Erfahrung entkoppelt. Außerdem macht der Patient neue Lernerfahrungen – im besten Fall neue Langzeit-Potenzierungen. Die lassen den Patienten mit weniger Furcht und Abneigung der bis dahin angstauslösenden Situation gegenübertreten.
Die Wirksamkeit Kognitiver Verhaltenstherapien gegen Angststörungen ist
Seit einigen Jahren experimentieren Wissenschaftler mit einer Kombination aus Kognitiver Verhaltenstherapie und pharmakologischen Mitteln. Dabei geht es nicht um angstlösende Tabletten. Stattdessen wird unser Wissen über die neurobiologische Grundlage der Angsttherapie genutzt – und so die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie erhöht. 2 Mittel sind dabei besonders vielversprechend: Das »Hast du eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, Angst zu haben oder sich zu fürchten?« – »Nein, nicht wirklich.«
Wird Patienten, die unter einer Spinnenphobie leiden, der Betablocker verabreicht, kurz bevor sie eine Tarantel im Terrarium anschauen müssen, wird ihre Erinnerung an die Angst und auch ihr Verhalten verändert:
Neue Wege in der Angsttherapie, die zunehmend wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen – sei es aus Sicht der Evolutionstheorie oder aus Sicht der Neurowissenschaften –, lassen uns auf neue Wege in der Therapie von Angsterkrankungen hoffen.
Und was, wenn wir noch einen Schritt weitergehen – und die krankhafte Angst schon im Keim ersticken?
Kognitive Verhaltenstherapie für zu Hause?
Wir können und wollen nicht wie die Patientin S.M. sein. Unsere angeborene Angst lehrt uns, Gefahren zu meiden und schützt uns vor allzu waghalsigem Verhalten. Außerdem kann sie uns motivieren, mutig zu sein und »Würdest du dich als eine glückliche Person bezeichnen?« – »An 9 von 10 [Tagen] würde ich sagen, glücklich.«
Wenn wir hinter jedem Busch einen Räuber sehen, hinter jedem neuen Gesicht einen Gewalttäter und hinter jedem fremden Wort einen Angriff auf unsere eigene Identität, laufen wir Gefahr, der Angst Oberhand zu gewähren.
In der Angsttherapie wirkt die Konfrontationstherapie besser als angstlösende Pillen. Weil wir ver- und neu-lernen. Genauso können wir auch im Alltag ver- und neu-lernen und uns selbst herausfordern. Sei es beim Erklimmen eines mittelhohen Berges oder bei der Begegnung mit Menschen, die uns fremd sind und vielleicht Angst machen – denn das Fremde ist nur so lange fremd, bis wir es kennenlernen, Schritt für Schritt.
Angst kann uns hemmen, aber auch schützen – oder sogar antreiben.
Willst du mehr über diese uralte Emotion wissen? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Thema Angst!
Mit Illustrationen von Ronja Schweer für Perspective Daily