Ist es gesünder, wenn du wegschaust?
Krieg und Konflikt – manchmal fühlt es sich besser an, nicht hinzuschauen. Dabei hältst du viel mehr aus, als du glaubst, und kannst zugleich von deinem Mitgefühl profitieren.
Lauf die Straße entlang bis zum Kaufmannsladen / Denn da gibt’s die allerbesten Brötchen weit und breit / Kann am Tresen kurz mal lesen, was die Zeitung schreibt / Irgendwas von ’nem Großangriff / Unzählige Bomben auf kleine Stadt / Viele Menschen ums Leben gekommen / Und dem Erdboden gleich gemacht in nur einer Nacht / Ich zahle und verlasse den Bäcker / Hör noch den Nachrichtensprecher / Lage wieder mal dramatisch verschlechtert, heute fantastisches Wetter
Ein Lied bleibt im Gedächtnis, wenn der Zuhörer am Ende sagt: »Kenn’ ich!« Mit
Als Nahost-Journalistin muss ich schon aus Berufsgründen hinschauen, wenn Menschen leiden. Ich weiß: Krieg in Syrien,
Das Gefühl von Überforderung durch Nachrichten bilden wir uns nicht ein. Forscher an der Universität in South Carolina haben berechnet, dass uns täglich über Fernseher, Zeitung und Smartphone
Darum schaust du weg
Eine Million bedroht vom Hungertod nach Schätzungen der UNICEF / Während ich grad’ gesundes Obst zerhäcksel in der Moulinex.
So viel Blut und Tod. Aber wir schalten nicht nur ab, weil wir »mehr« davon zu verarbeiten haben. Es gibt weitere Gründe:
- Ganz weit weg: Es ergibt einen Unterschied, ob ein Anschlag im heimischen Münster oder im fernen Bagdad passiert.
- Es ist kompliziert: Nahostkonflikt und
- Nichts Neues:
- Prädikat »unangenehm«:
- Schmerzen vermeiden: Je weniger wir in unserem Umfeld Gewalt erleben, desto mehr belasten uns
- Kampf oder Flucht: Fast jeder hat in seinem Freundes- oder Verwandtenkreis diese eine Person, die kein Blut sehen kann. Beim Besuch im Krankenhaus steht ihr der Schweiß auf der Stirn. Jetzt bleiben mindestens 2 Möglichkeiten: »Flight or Fight« – Flucht oder Kampf. Entweder stellt man sich dem Blutkatheter oder man nimmt Reißaus. Die Angst davor, Blut zu sehen, ist meist größer als die tatsächliche Bedrohung. Solche Angst haben wir auch vor schlechten Nachrichten in der Welt und entscheiden uns deshalb oft für die Flucht.
Stress, Angst und Schmerz – viele entscheiden sich deshalb bewusst dafür, häufiger abzuschalten. Doch erst wer hinschaut, kann handeln – in Form einer guten Tat,
Das Gegenteil ist der Fall.
Besser wäre es, das Hinschauen zu trainieren.
Fühlst du wirklich nichts?
Was passiert, wenn der Freund Liebeskummer hat und hilfesuchend in unsere Arme fällt? Wir sind für ihn da. Die Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken des Gegenübers zu verstehen, nennen wir Empathie. Die einen sind besonders empathisch, bei anderen haben wir vielleicht manchmal das Gefühl: Da ist noch Nachholbedarf. Wissenschaftler haben mittlerweile verschiedene Formen von Empathie definiert,
Denn wenn wir ehrlich zu uns sind, können wir gar nicht den Liebeskummer unseres Freundes mit-erleiden, sondern reagieren eher auf seine Situation. Dazu wechseln wir die Perspektive und fühlen uns in ihn ein. Nach vielen feuchten Taschentüchern und ein paar Flaschen Wein ziehen wir am Ende des Abends die Tür hinter uns zu. Vielleicht bleibt uns als Seelentröster am nächsten Morgen noch der Kater, aber den emotionalen Ballast des Verlassenen hat sich der Tröstende nicht aufgeladen.
Dass wir in der Lage sind weiterzumachen, auch wenn schlimme Ereignisse uns beschäftigen, hat jeder einzelne von uns schon mehrere Male in seinem Leben bewiesen. Zum Beispiel nach Anschlägen in Deutschland. Nachdem in Münster ein Kleinlasterfahrer am ersten heißen Tag des Jahres 2018 in eine Menschenmenge gerast war und
Viele Menschen unterschätzen ihre Strapazier- und Empathiefähigkeit und ermahnen sich daher dazu, wegzuschauen. Denn sie glauben, der Belastung nicht standhalten zu können. Empathie können sie noch für Menschen aufbringen, die örtlich und kulturell nah sind, aber nicht mehr für die, die weit weg leiden.
Im Empathie-Fitnesscenter
Seh’ ein Kind, in dessen traurigen Augen ’ne Fliege sitzt / Weiß, dass das echt grausam ist, doch Scheiße Mann, ich fühle nix!
Wer zu viele schlechte Nachrichten sieht, stumpft mit der Zeit ab, heißt es im Volksmund. Stimmt das?
Den Ruf, abgestumpft und kalt zu sein, haben Berufsgruppen, die oft mit dem Leid anderer konfrontiert sind. Allen voran Ärzte. Wie sonst könnten sie nach dem Tod eines Patienten weitermachen? In der Realität müssen auch Ärzte ihre Empathie professionell nutzen, und zwar bei Menschen, die ihnen zunächst fremd sind.
Es geht nicht um gefühlsseliges Mitfühlen, sondern um das einfühlende Verstehen oder verständnisvolle Sich-Einfühlen. Entscheidend ist das Spannungsfeld zwischen
Empathie lässt sich also trainieren, wenn wir hinschauen. Auch das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei schlechten Nachrichten wirkt sich viel weniger auf uns selbst aus, als wir häufig behaupten. Hilflosigkeit verringert das Selbstwertgefühl erst,
»Mitgefühl stärkt Körper wie Seele, macht physisch robuster, physisch stärker und stimuliert nebenbei das Immunsystem«, schreibt der Wissenschaftsjournalist Werner Bartens und hat dafür über
Mit Blick auf die weltweiten Herausforderungen – Krieg, Konflikt und Klimawandel – ist es höchstwahrscheinlich »gesünder«, öfter aktiv hinzuschauen und mit anderen darüber zu kommunizieren. Das haben wir im großen Stil nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA gemacht. Am Küchentisch, in der Schule, auf der Arbeit wurden die Ereignisse zusammen aufgearbeitet. Diese Art von Austausch schützt davor, mit gesehenem Leid allein zu bleiben – für uns, die hinschauen, und für jene, die hoffen, dass wir hinschauen.
Titelbild: Niklas Hamann - CC0 1.0