Alles auf Anfang: Mit 50+ einen beruflichen Neustart wagen
Durchhalten bis zur Rente, weitermachen im Hamsterrad oder etwas ganz Neues wagen? Gründen ist nicht nur etwas für Jungspunde. Im Gegenteil: Vieles spricht für einen Neustart im fortgeschrittenen Alter.
Ich habe mich gefragt, ob ich das noch bis zur Rente durchziehen kann. Ein paar Jahre wären es noch gewesen. Dann bekam ich plötzlich diesen rätselhaften Hautausschlag, den sich kein Arzt erklären konnte. Da wurde mir klar: Nein, ich kann nicht bis zur Rente warten. Ich muss jetzt etwas ändern. Mein Name ist Moni Minas, ich bin 59 Jahre alt, von Beruf Ärztin, ich lebe in Bonn. Die letzten Jahre habe ich in einer psychiatrischen Klinik in Dormagen gearbeitet. Ich pendelte jeden Morgen von Bonn nach Dormagen, von einer heilen in eine triste Welt. Um mich herum alles grau und kaputt: die Chemie-Schornsteine der Stadt, die grauen Wände in der Klinik, Depressive, Drogenabhängige und Psychotiker, die mit ihren Rückfällen wie in einer Endlosschleife immer wieder zu uns eingeliefert wurden. Ich konnte ihnen nicht wirklich helfen, konnte ihr Leben nicht verändern. Aber was war mit meinem?
Wenn Arbeitsstress krank macht
Wer mit seiner Arbeit unzufrieden ist, tut gut daran, etwas zu ändern. Denn Unzufriedenheit am Arbeitsplatz kann krank machen. Das gilt besonders, wenn der belastende Zustand über einen langen Zeitraum anhält. Die höchsten Erkrankungsraten und Ausfallzeiten treten
Seit 20 Jahren untersucht Johannes Siegrist die
Das wichtigste Ergebnis des Professors für Psychosoziale Arbeitsbelastungsforschung an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität: Wer sich in hohem Maße anstrengt und im Gegenzug keine angemessene Belohnung bekommt, verdoppelt sein Risiko, an Herz- und Kreislaufkrankheiten oder an einer Depression zu erkranken. »Wir konnten nachweisen, dass bei Menschen, die sich beruflich abstrampeln und keine Belohnung erfahren, Stresshormone und Blutdruck
Für chronisch gestresste Menschen sei das Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden, 40-50% höher als in Kontrollgruppen; die
Die eigene Arbeit erscheint häufig sinnlos
Menschen, die sich für ihre Arbeit nicht wertgeschätzt fühlen, mangelt es an Motivation und Engagement. Die Ergebnisse einer Studie zur Mitarbeiterbindung des Markt-und Meinungsforscherinstituts Gallup zeichnen ein alarmierendes Bild der Beschäftigungssituation in Deutschland: Nur 16% der Arbeitnehmer fühlen sich mit ihrem Unternehmen verbunden und sind engagiert bei ihrer Arbeit. 84% geben eine geringe oder gar keine Bindung an. Die große Mehrheit klagt über fehlende Anerkennung und Wertschätzung – sie
Noch schlechter sind die Ergebnisse in Großbritannien, Frankreich und Japan. Kulturen, die für starke Hierarchien in Unternehmen bekannt sind. Zum Vergleich: In den USA gibt jeder dritte Arbeitnehmer eine hohe Bindung zum Unternehmen an.
Soweit die abstrakten Zahlen. Und nun der Praxistest: Wer kennt nicht mindestens einen Menschen, der häufig über seinen Arbeitgeber klagt? Über Arbeitsverdichtung und E-Mail-Fluten? Über überflüssige Bürokratie und mangelnde Einsicht? Über endlose Konferenzen und Sitzungen? Die üblichen Durchhalte-Parolen: bald ist Wochenende, Urlaub oder sogar Rente. Gejammert wird gern und viel; etwas geändert wird eher selten. Und das, obwohl gerade in der
Mit 50+ ein Unternehmen gründen – geht das?
Ich bin ein sinnlicher Mensch, liebe Schönheit. Ich schaue mir gern Gemälde und Skulpturen an, sehne mich nach Farbe, nach Licht. Meine Lieblingsfarbe ist rot. Roter Himbeermund. In meiner Freizeit stricke ich gern, mag dieses Gefühl von Garnen und Wollen, die sich um den Finger legen, die Konzentration auf Maschen und Muster. Zuzuschauen, wie aus 2 Nadeln und einem Knäuel Wolle etwas entsteht, ein Ganzes wird, wie es wächst und Formen annimmt, das gefällt mir!
»Wir sollten alles dafür tun, eine Umgebung zu wählen oder zu schaffen, in der wir uns wohlfühlen.« Thich Nhat Hanh
Ein Strickladen, das wäre etwas für mich, dachte ich. Ein Ort, an dem ich Wolle verkaufe und von jeder einzelnen die Geschichte kenne. Ein Ort, an dem die Leute Garne und Rat bekommen, an dem sie sich treffen und austauschen, stricken und häkeln. Ich könnte ein Unternehmen gründen, ein Ladenlokal suchen. Aber geht das in dem Alter? Meinen Arztkittel einfach an den Haken hängen und als Unternehmerin loslegen?
Was Moni Minas zunächst als überaus verrückter Gedanke erschien, ist bereits ein neuer Trend. Der aktuelle Gründungsmonitor der
Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung. 2020 wird ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung Europas über 50 sein. In vielerlei Hinsicht stellt uns die alternde Bevölkerung vor neue Herausforderungen – sie kann aber auch neue Chancen bieten: Die höhere Lebenserwartung und eine bessere körperliche Verfassung der älteren Menschen erhöhen ihren Konsum in vielen Bereichen. So ändert sich die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, neue Geschäftsfelder für Gründungen tun sich auf. Und wer könnte die Bedürfnisse dieses neuen Marktes besser verstehen als die Menschen, die selbst zur Zielgruppe gehören?
Was die späten Gründer antreibt
Neben der Sehnsucht nach etwas Neuem gibt es weitere gute Argumente für eine Gründung in der zweiten Lebenshälfte. Eine längere Lebenserwartung, der Wunsch nach einer aktiven Lebensgestaltung, aber sicher auch die steigende Altersarmut können uns motivieren. Während einige die geringe zu erwartende Rente durch zusätzliches Einkommen aufbessern möchten, treibt andere der Wunsch, endlich etwas Sinnvolles zu tun, etwas zurückzugeben oder eben das zu tun, was sie oder er immer schon tun wollte.
In Düsseldorf betreiben Barbara Rörtgen und Tim Prell ein Ideenlabor. Für Menschen in der Lebensmitte haben sie ein spezielles Programm entwickelt. Im
»Es geht nicht darum, den einfachen Weg zu finden, sondern den angemessenen.« – Barbara Rörtgen
Bei vielen gilt es zunächst, die Selbstwahrnehmung zu korrigieren. Ein typischer Glaubenssatz sei: »Ich bin total sicherheitsbedürftig.« Babyboomern sei dieses Sicherheitsbedürfnis von den kriegsgebeutelten Eltern übertragen worden; sie hätten es später nie hinterfragt. Dieses vermeintliche Sicherheitsbedürfnis hielte viele davon ab, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Würde ihnen aber klar gemacht werden, wo dieses Gefühl herkomme, verliere es seinen Schrecken. Wer über 50 etwas Neues beginnen wolle, habe kaum eine andere Chance, als den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, denn ein Quereinstieg in ein anderes, berufsfremdes Angestelltenverhältnis sei schwieriger. Da müsse man realistisch sein, sagen die Berater.
Auch der Sozialwissenschaftler Ralph Sange aus Krailling bei München ist einer, der viele ältere Gründungswillige begleitet. Mit seinem Sozialunternehmen
»Kopf schlägt Kapital.« – Ralph Sange
Am besten funktionierten die Ideen, die etwas mit uns selbst zu tun haben. Einer seiner Klienten habe jahrelang auf dem Weg zur Arbeit einen Ort vermisst, an dem er schnell ein Frühstücksbrötchen kaufen konnte. Sein eigenes, nicht befriedigtes Bedürfnis wurde dann zur Geschäftsidee. Er stellte sich auf die Straße und fragte Passanten, ob sie gern an dieser Stelle ein Brötchen kaufen wollen würden und welchen Belag es haben sollte. Die Idee kam gut an. Er kündigte seine Stelle und verkauft seitdem sehr erfolgreich Frühstücksbrötchen. Auch wenn der Traum vom erfolgreichen Szene-Café nicht immer wahr wird: Eine pfiffige Idee kann sich auch in der Gastronomie durchsetzen.
Wichtige Zutaten: Der Staat und die »3 Fs«
Ich habe damals viel mit Freundinnen und mit meiner Familie über meine Idee gesprochen und war überrascht, wie viel Zuspruch ich bekam. Und dann hatte ich mich entschieden: Ich suchte eine Beratungsstelle auf, machte einen Businessplan und kündigte meine Anstellung. Ich beantragte beim Arbeitsamt einen Zuschuss für Existenzgründer und suchte einen passenden Ort, den ich in der Bonner Südstadt fand.
Es war verrückt, wie einfach plötzlich alles war. Als ob allein der Entschluss, etwas zu tun, alles in Gang gesetzt hätte. 2 Tage vor meinem Banktermin für einen Gründungskredit eröffnete mir eine Freundin, sie habe Geld geerbt und wolle es mir gern leihen. Sie glaube an mich.
Als ich jünger war, hätte ich mir niemals zugetraut, ein Unternehmen zu gründen. Ich glaube, dass es im Alter tatsächlich leichter ist. In meinem sozialen Netzwerk gibt es heute eine Menge Menschen, die mich unterstützen konnten: ein Innenarchitekt, der mir beim Umbau des Ladens geholfen hat, eine Journalistin, die mir bei Namenssuche und Marketing unter die Arme griff und all die anderen Freunde und Bekannte, die Regale aufgebaut, Lampen aufgehängt und mir Mut zugesprochen haben. Und natürlich meine Familie, die voll hinter mir stand.
Die »3Fs«, also
- Zuschuss vom Arbeitsamt
Arbeitslose können einen Gründungszuschuss vom Arbeitsamt beantragen. Voraussetzungen: Der Antragsteller muss Arbeitslosengeld 1 (ALG I) beziehen und eine fachliche Eignung vorweisen. Die Grundlage des Antrags ist der eingereichte Businessplan. Wird der Antrag genehmigt, erhält der frisch gebackene Unternehmer für 6 Monate die gesamte Höhe seiner ALG I-Leistung plus 300 Euro zur sozialen Absicherung. Fällt die anschließende Beurteilung positiv aus, kann eine zweite Förderphase von 9 Monaten genehmigt werden. Die monatliche Förderung beträgt dann noch 300 Euro. - Kredit von der KFW
Das »Startgeld« der KFW richtet sich an Gründer und Selbstständige mit bis zu 50.000 Euro Kreditbedarf. Abgewickelt wird der Kredit über die Hausbank (die auch die Entscheidung trifft). Die KFW gewährt eine Haftungsbefreiung von 80%. Wichtig sind die nötigen Sicherheiten. Ralph Sange von »Gründer 50plus« empfiehlt, ein Konzept ohne große Investitionen zu suchen. Das sei vor allem im Bereich Dienstleistungen möglich, aber dank der technologischen Entwicklungen durchaus auch beim Handel über das Internet. Auf keinen Fall solle man seine Ersparnisse fürs Alter in ein Risikogeschäft investieren. - INVEST: Zuschuss für Wagniskapital
Mit INVEST, dem Zuschuss für Wagniskapital, erhalten
Älter zu sein hat auch Vorteile
Anders als viele vielleicht zunächst annehmen, ist das Alter keineswegs ein Hindernis für die Gründung. Im Gegenteil: Es birgt sogar viele Vorteile. Moni Minas hat nicht nur von ihren Netzwerken profitieren können. Untersuchungen zeigen: Persönliche Fähigkeiten und Kenntnisse, die mit dem Alter zu tun haben, tragen wesentlich zum Erfolg von Gründern bei. Dazu gehören neben dem Netzwerk beispielsweise Berufs-und Lebenserfahrung, Markt-und Branchenkenntnisse, Seriosität, Gelassenheit und
Ob der Wunsch, ein Unternehmen zu gründen, auch tatsächlich zur Umsetzung führt, hängt von der Einstellung zum eigenen Alter ab: Ist sie positiv, steigen die Chancen.
Ich habe es wirklich getan …
Den Laden habe ich im Oktober eröffnet. Seitdem hat sich für mich eine neue Welt aufgetan. Ich habe gelernt, worauf ich beim Einkauf achten muss, welche Qualitätsmerkmale das Material haben muss und wie ich mich am Markt positioniere. Es gibt eine Art Strick-Fangemeinde, Plattformen, auf denen sie sich austauschen und – tatsächlich – die lange Nacht des Strickens. Diese Events fangen abends nach Büroschluss an. Da kommen Frauen im Businesskostüm und Männer in Anzug und Krawatte, um die ganze Nacht zu stricken. Ich lerne jeden Tag Neues dazu. Ich habe auch schon Workshops im Laden durchgeführt und will das weiter ausbauen. Ich mache zwar noch keine Gewinne, aber immerhin: Der Laden trägt sich schon.
… und auch die Gesellschaft profitiert
Nicht nur der einzelne Gründer, sondern auch die Gesellschaft kann von einer Gründung in der zweiten Halbzeit profitieren. Ältere Gründer verfolgen oft nicht nur ökonomische, sondern auch gesellschaftliche und humanitäre Ziele. Sie agieren als sogenannte
Und wo ist die Grenze? Die hat William K. Zinke vor 6 Jahren in jedem Fall erst mal weit gesteckt: Im Alter von 79 Jahren gründete der heute 85-Jährige eine Einrichtung zur
Also, worauf warten wir noch?
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