Auch deine Stadt braucht so einen Fahrrad-Bürgermeister!
Denn der regelt, dass du mit dem Fahrrad besser ans Ziel kommst als mit dem Auto – und hat mich auf eine wilde Tour mitgenommen.
Ein bisschen fühle ich mich wie eine Robbe in einem Haifischbecken. Die Gefahr lauert hinter und vor mir, manchmal auch unter mir. Ich will ihr ausweichen, aber sie ist überall.
Mit knallrotem Kopf steuere ich auf das rettende Ufer zu und als ich mich endlich in Sicherheit wiege, passiert es doch: Ich rutsche ab und stürze.
Ich rutsche ab und stürze.
»Sorry, die Bürgersteige in Beirut sind nicht für Fahrräder und schon gar nicht für
Natürlich ist das kein offizielles Amt, sondern eher ein Versuch, fahrradfeindliche
Auf Kamikaze-Fahrradtour
Mit seinem schicken grauen City-Bike gleitet er durch den Straßenverkehr. Ich strampele ihm auf einem Kindermountainbike etwas unbeholfen hinterher. An Kreuzungen fährt er langsamer, um abbiegende Autos zu stoppen, bis wir an ihnen vorbeigefahren sind. »Tawwel belak!«, ruft er dann den hupenden Fahrern zu, was so viel heißt wie: »Entspanne dich!« Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern ist absolut notwendig. Denn nur wer auf sich als Fahrradfahrer aufmerksam macht, hat eine gute Chance, unbeschadet ans Ziel zu kommen. Ansonsten gilt das Recht des Stärkeren.
Autofahrer denken, dass du als Radler nichts bei ihnen auf der Straße verloren hast.
Wenn Philippe Dagher gerade nicht Freunden, Arbeitskollegen, neugierigen Journalistinnen und manchmal sogar Botschaftern zeigt, wie Fahrradfahren in Beirut funktioniert, telefoniert er. Er hat Fragen, und er will Antworten. Am anderen Ende der Leitung ist zum Beispiel das Büro des Premierministers. Dorthin hat Dagher eine Liste mit Maßnahmen geschickt, die die Hälfte der Pendler in Beirut bis zum Jahr 2030 vom Auto aufs Fahrrad hieven sollen.
Auf jeden Einwohner in Beirut kommen 1,2 Autos. In Berlin sind es 0,3.
Schwer vorstellbar, dass sich die libanesischen Autoliebhaber darauf einlassen.
Zum Vergleich:
Wer wählt die Fahrrad-Bürgermeister?
Maud de Vries, eine der Gründerinnen von BYCS, erklärt im Skype-Interview, worauf es ankommt:
Unsere Vision ist es, Millionen Menschen davon zu überzeugen, aufs Fahrrad zu steigen. Dazu müssen wir ein Netzwerk von Fahrrad-Bürgermeistern schaffen, die sich austauschen, aber auch individuelle Lösungen für ihre Stadt finden.
Denn eines wollen die Fahrradaktivisten aus Amsterdam auf gar keinen Fall: den Fahrrad-Bürgermeistern in Brasilien, Indien und Südafrika vorschreiben, wie sie das Ziel 50 by 30 nach niederländischem Vorbild umzusetzen haben.
Das würde auch nicht funktionieren.
Von dieser Verbundenheit mit dem Drahtesel sind arabische Länder wie der Libanon weit entfernt.
Mit einer Geschichtsstunde wird Philippe Dagher die Libanesen wohl nicht vom Fahrrad überzeugen können, aber vielleicht mit dem
Der Fahrrad-Cowboy
Ein Video der libanesischen Organisation »The Chain Effect« propagiert das Fahrradfahren in Beirut so: Keine Parkprobleme, kein Warten an Ampeln, wenn der Vordermann bei Grün nicht aufs Gas tritt, und kein Problem, in eine Einbahnstraße auch aus der entgegengesetzten Richtung zu fahren.
Philippe Dagher kennt das Video. Die Mitglieder von »The Chain Effect« schlugen ihn im Jahr 2017 als Fahrrad-Bürgermeister vor. Als ich ihm erzähle, dass es in Deutschland oft auch für Fahrräder verboten ist, entgegengesetzt in eine Einbahnstraße zu fahren, muss er lachen:
Ich denke Schritt für Schritt. Erst einmal müssen wir viele Menschen für das Fahrrad begeistern, ohne eine Infrastruktur zu haben. Wir erzählen ihnen, dass das Fahrrad sie befreit. Sie können auf Gehwege ausweichen und kommen so schneller ans Ziel.
Früher gehörten zum Image des Abenteurers eine Packung Zigaretten und der Staub, den er und sein Pferd im vollen Galopp aufwirbeln. Der rauchende Cowboy aus der Werbung verkörperte das Leben gegen den Strom, die glimmende Freiheit zwischen den Lippen. Ähnlich offensiv bewirbt Philippe Dagher das Fahrradfahren.
Freiheit – das sind für ihn das Surren der Nabenschaltung, das Radeln auf allen Wegen und der Fahrradhelm. Den Helm trägt Philippe Dagher allerdings nicht immer, wie er mir später gesteht.
Wenn wir die Anzahl von Fahrradfahrern steigern können, müssen Verkehrsregeln für sie eingeführt werden.
In Beirut, wo Autos die Hauptstraßen der Stadt verstopfen und es keine öffentlichen Verkehrsmittel mit Ausnahme von Sammeltaxen gibt, schlängeln sich die noch wenigen Fahrradfahrer durch den Stau. Auch Philippe Daghers 3 Kinder fahren Fahrrad, aber im Sicherheitsmodus. Er hat ihnen beigebracht, von Bürgersteig zu Bürgersteig zu pendeln. Auf der Straße müssen sie absteigen. Das soll nicht immer so bleiben müssen.
Wir biegen in die vielbefahrene Damaskusstraße ein – früher war das eine wichtige Karawanenstraße, die Beirut mit der syrischen Hauptstadt verband. Bei Grabungen auf dem Weg finden sich immer wieder Sarkophage aus längst vergangener Zeit. Museen, Kulturinstitute, Universitäten, Sicherheitsdienste und Armeebarrikaden reihen sich aneinander. Auf der Mitte der Straße steht ein funktionsfähiger Panzer, ein Soldat lehnt gelangweilt in der Luke des Ungetüms.
Und so sah unsere wilde Tour durch Beirut aus meiner Perspektive aus:
Diese Straße will Philippe Dagher, so steht es in seinem Plan, in einen Fahrradweg und eine Bahn für Autos teilen. Außerdem schlägt er eine Art Maut für Autofahrer vor, die nach Beirut fahren, und er will Tausende Fahrräder an Bauarbeiter und andere Pendler verteilen. »Wir müssen das Fahrrad in diese Stadt zwingen, um Luftverschmutzung und den Verkehr zu reduzieren.
Dann spricht er über Wohnungen. Deren Größe sei auch ein Problem für Fahrradfahrer. In Beirut gelten Wohnungen mit 100 Quadratmetern als klein. Kolossale Neubauten schränken den Platz für Gehwege ein. Wo sollen die Fahrräder noch Platz finden?
Fahrrad vs. Auto
Eine Frage, die sich auch Maud de Vries in Amsterdam immer wieder stellt: »Selbst in Amsterdam haben wir immer noch mit Herausforderungen zu kämpfen. Wo so viele Menschen Fahrrad fahren, wird der Platz auf den Radwegen eng. Deshalb dürfen wir nicht aufhören, neue Lösungen zu entwickeln.«
Jeder kann in seiner Stadt einen Fahrrad-Bürgermeister benennen.
Das Fahrrad-Bürgermeister-Programm soll auch in Europa ausgebaut werden. Jeder kann in seiner Stadt einen Fahrrad-Bürgermeister benennen und sollte das auch, findet de Vries, um den globalen Wandel mitzugestalten und das Fahrrad als Kulturgut zu verankern. »In Deutschland gibt immer noch die Autoindustrie den Ton an. Dort können sich die Menschen dafür einsetzen, das Fahrrad als grüne Alternative im Verkehr zu priorisieren.«
Aber wie schiebt man nun sturen Autofahrern ein Rad unter? »Das Elektrorad könnte dem Status des Autos gefährlich werden«, sagt Maud de Vries. In den Niederlanden sollen damit längere Strecken zwischen Städten und Dörfern gefahren werden. Und auch Philippe Dagher in Beirut sieht in der elektrischen Alternative großes Potenzial. Das feuchtwarme Klima und die Hügel der Stadt kosten Radfahrer viel Kraft. Doch eine Handvoll Geschäftsfrauen und -männer machen bereits vor, dass schweißfreies Pendeln mit dem E-Bike möglich ist.
Für die Zukunft wünscht sich Maud de Vries, dass jeder Mensch auf der Welt nach dem freien Internet auch Zugang zu einem Fahrrad hat.
Und auch in einem anderen Punkt zeigt sich die Integration des Fahrrads ins Stadtbild der libanesischen Hauptstadt: Fahrradpolizisten sind seit ein paar Jahren im Einsatz. Einer der großen Vorteile, die Beirut im Bezug aufs Rad heute noch hat, könnte sich mit mehr Fahrrädern in der Stadt in Zukunft aber ändern, bedauert Philippe Dagher: »Hier gibt es noch keine organisierte Fahrrad-Mafia. Fahrräder werden hier sehr selten gestohlen und meist findet man sie wieder. Ich schließe mein Rad vor der Tür nie ab.«
Die Fahrrad- und Motorradpolizisten in Beirut
Titelbild: BYCS - copyright