Sexuelle Vielfalt ist, wenn wir es nicht so genau wissen müssen
Noch vor 300 Jahren hätte dich in der islamischen Welt niemand gefragt, ob du »hetero« oder »homo« bist. Das können wir von den schlüpfrigen Gedichten von damals lernen.
Kannst du dir vorstellen, in einer Welt zu leben, die auf Schubladen wie »homo« und »hetero« verzichtet? Dass deine romantischen und erotischen Vorlieben keinen besonderen Einfluss darauf haben, wie du dich selbst siehst oder von anderen wahrgenommen wirst? Diese Utopie war vielleicht vor über 1.000 Jahren gesellschaftliche Realität.
Das Feuer des Bechers stieg ihm zu Kopfe und der Wein kroch in seine Wange, /
Bis er mir, als den Schleier der Scham fortgeworfen hatte /
und sich die Schlafestrunkenheit in seinen Augen drehte, /
Die Möglichkeit gab, seine Hosen zu lösen, /
da ihn der Becher von seinem Hosenband abhielt.
Diese schlüpfrigen Zeilen über ein erotisches Erlebnis mit einem
In einigen arabischen Ländern droht Homosexuellen heute sogar die gesetzliche Todesstrafe. Der
Diesem Eindruck gegenüber steht eine andere Tradition, nämlich homoerotische Dichtung und Praxis in der islamischen Welt. Wohl keine andere Kultur hat eine solche Vielfalt dieser Art von Lyrik hervorgebracht.
Wodurch das möglich war? Vielleicht durch eine Toleranz, die westliche Gesellschaften nicht kannten. Diese überraschende Aussage trifft ein Islamwissenschaftler, der sich intensiv mit einer Utopie grenzenloser Liebe befasst hat und
Mehrdeutigkeit begrüßen, Vielfalt ermöglichen
Tausende Gedichte und Schriften, einige von ihnen dürften so manchem die Schamröte ins Gesicht treiben, analysierte der Islamwissenschaftler Thomas Bauer. Ihre Verfasser lebten zwischen den Jahren 850 und 1850 in der
Thomas Bauer
Und was heißt das konkret?
Ambiguität bedeutet »Vieldeutigkeit«. Wenn ein Schützenverein mit dem Slogan
Der Begriff »Ambiguitätstoleranz« meint also: die Toleranz gegenüber solcher Vieldeutigkeit, Widersprüchen und nebeneinander bestehenden Wahrheiten. »Homo« und »hetero« lassen sich demnach nicht voneinander abgrenzen. Schwer vorstellbar, dass eine solche Toleranz in einer Region existierte, in der das islamische Recht seit jeher brutale, körperliche Strafen für Männer bereithält, die miteinander Analverkehr haben.
Wo kein Kläger, da kein Richter
Wenn ihr welche findet, die das tun, was das
Thomas Bauer erklärt aber, dass die Anwendung solcher Strafen in den traditionell islamischen Gesellschaften des Mittleren Ostens nahezu unmöglich gewesen sei.
Bauer hat Rechtsschulen und -praktiken verglichen und die Bedingungen für eine erfolgreiche Anklage zusammengefasst.
Gefordert werden 4 männliche Zeugen, die den Geschlechtsakt in allen Einzelheiten gesehen haben müssen und die, wenn auch nur einer an seiner Aussage Zweifel erkennen lässt, die Strafe einer öffentlichen Auspeitschung wegen Verleumdung zu gewärtigen haben – ganz abgesehen davon, dass sich die Augenzeugen schwer damit tun würden, ihre unziemliche Neugier zu rechtfertigen.
Die Konsequenz: In den über Jahrhunderte akribisch geführten
Daraus schließt er auf eine hohe Ambiguitätstoleranz innerhalb dieser gesellschaftlichen Sphäre – mit dem Ergebnis eines äußerst ungezwungenen Umgangs mit Homosexualität in der Praxis. Und eben dieser sei dann in Liebesgedichte eingeflossen.
Tausende dieser ghazal genannten Gedichte wurden von
Der ungezwungene Umgang mit Homosexualität traf aber auf gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit, die eindeutig waren: Beim Sex sollte der Mann die aktive, penetrierende Rolle haben. Zwischen erwachsenen und jüngeren Männern scheint die Rollenverteilung klar gewesen zu sein – der ältere Mann trat als dominanter Part auf und lag »oben«. Das gesellschaftliche Ansehen der Beteiligten war nicht gefährdet. Doch eine eigene Gattung von Gedichten, sogenannte »Bartwuchs-Epigramme«, deutet darauf hin, dass sich die Situation änderte, wenn den »Jünglingen« ein sichtbarer Bart wuchs und sie als erwachsene »Männer« kennzeichnete. Die
Sie sagten, als sie sahen, wen ich liebe: /
Daß ihm der Bart wächst, will’s dich nicht verdrießen? /
Sie sind ja blind! Wenn sie die Sache recht besähn’n, /
wie schnell sie ihren Tadel ließen! /
Denn wer in kahler Gegend Heimat fand, /
der zieht nicht fort, wenn Frühlingsblumen sprießen!
Mit Versen wie diesen forderten Dichter patriarchale Normen heraus. Islamwissenschaftler Bauer führt die in den Gedichten zu lesende Liebe zur Vieldeutigkeit, zum spielerischen Umgang mit nebeneinander bestehenden patriarchalen Normen und Erotik unter Männern auf den Umgang mit der heiligen Schrift des Islam zurück.
Die Grundlage der Ambiguitätstoleranz: der Koran?
Woraus die Vieldeutigkeit entsprang, die Bauer in vielen Bereichen des muslimischen Lebens identifizierte, ist heute schwer auszumachen. Eine mögliche Antwort wäre: aus dem Koran.
Bauer zitiert in seinem Buch »Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islam« den Korangelehrten Ibn al-Dschazarī. Der verglich den Koran mit einem gewaltigen Meer, in dem man nie auf den Grund stoße und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht werde.
Um diesen Vergleich zu verstehen, muss man zuerst einmal wissen: Eine einzige Interpretation des Korans gibt es nicht. Unterschiedliche Wortbedeutungen und widersprüchliche Aussagen lassen vielfältige Interpretationen zu. Es scheint aber gar nicht der Anspruch der religiösen Autoritäten gewesen zu sein, diese Widersprüche in der Interpretation der Botschaft Gottes aufzulösen. Denn die göttliche Botschaft wurde, so Bauer, für den Menschen als unergründlich betrachtet. Eine einzige Interpretation mit Anspruch auf universelle Gültigkeit zu formulieren wäre schlicht anmaßend gewesen. Deshalb sei Vieldeutigkeit geradezu erwünscht gewesen, zumindest wenn sie gut begründet wurde. Die unterschiedlichen Interpretationen nebeneinander erhöhten aus Sicht der Gelehrten die Wahrscheinlichkeit, dem göttlichen Willen zu entsprechen.
Für uns in Europa wirkt dieses Bejahen von Vieldeutigkeit heutzutage vielleicht befremdlich. Denn es verträgt sich offenkundig nicht mit einem anderen Anspruch, der in unseren Breitengraden dominiert – dem auf die eine Wahrheit. Und genau dieser sei in der westlichen Welt spätestens seit der Aufklärung das Maß aller Dinge,
Was ist nur aus der Vieldeutigkeit geworden?
Nach rund 1.000 Jahren schlüpfriger Liebesdichtung verschwanden Mitte des 19. Jahrhunderts in der islamischen Welt plötzlich die ghazal genannten Gedichte. Der Zeitpunkt ist dabei wichtig: Denn damals dehnten die europäischen Nationalstaaten ihre Kolonialherrschaft bis in den Mittleren Osten aus.
Neben militärischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgten sie auch eine zivilisatorische Mission: Der Westen müsse eingreifen, um die Entartung einer dekadenten, verkommenen Region
Bauer zitiert den adligen französischen Naturkundler Sonnini de Manoncourt, der sich bereits im Jahr 1798 über Liebe und Sex zwischen Männern in Ägypten empörte:
Die Liebe wider die Natur […] bildet das Vergnügen, oder sagen wir besser, die Infamie der Ägypter. […] Eine derartige Entsittlichung, die ihnen, zur Schande von zivilisierten Nationen, überhaupt nicht fremd ist, findet sich in Ägypten allgemein verbreitet: Die Reichen sind davon ebenso infiziert wie die Armen.
Wie so oft reagierten Teile der kolonialisierten Gesellschaften auf die ausländischen Invasoren, indem sie deren Ideologie und Moral nacheiferten. Das betraf vor allem die obere Mittelschicht und Teile der Eliten, die als Gegenleistung für ihre Kooperation von den Kolonialmächten belohnt wurden.
Die Folgen waren ganz im Interesse der Europäer: Die bis dato allgegenwärtigen Liebesgedichte wurden zensiert und der bisher selbstverständliche Umgang mit Liebe und Sex zwischen Männern kriminalisiert. Damit setzte sich auch im islamischen Raum die westliche Vorstellung von Homosexualität als Krankheit durch.
Angesichts der abnehmenden Ambiguitätstoleranz sahen Männer sich plötzlich genötigt, sich als homo- oder heterosexuell zu definieren.
Die endlose Debatte über Islam und Homosexualität sollte dort verankert werden, wo sie herkommt, nämlich im Westen.
Wie wir von der Idee loskommen, dass wir sind, was wir lieben
Es gibt
Die Zukunftsprognose ist eher düster. Wir müssen uns entscheiden, ob wir das unordentliche, in sich widersprüchliche Menschenleben weiter so erdulden, wie es ist, und das vielleicht sogar gut finden – oder wir enden beim Maschinenmenschen, der jede Ambiguität hinter sich gelassen hat.
Ambiguitätstoleranz greift Identitäten an und verwischt ihre Grenzen. Eine Idee davon, wie das praktisch aussehen könnte, vermittelt ein Blick auf die
Bauers Betrachtung vormoderner islamischer Gesellschaften könnte aktuelle Diskurse über Werte und Kultur, Abgrenzung und Akzeptanz neu beleben. Ist Ambiguitätstoleranz eine Lösung für unsere gesellschaftlichen Probleme? Mit Sicherheit können wir durch sie neue Perspektiven gewinnen, mehr Vielfalt und Toleranz. Und was haben wir zu verlieren?