Wenn Scham dein Leben bestimmt
Das ist die häufigste psychische Krankheit, von der du wahrscheinlich noch nie gehört hast.
Du wachst auf und der Gedanke ist der gleiche wie beim Einschlafen, als hätte er dich gar nicht verlassen, sondern geduldig auf dein Erwachen gewartet. Wieder beginnt er zu kreisen, von der einen in die andere altbekannte Richtung. Er nimmt Fahrt auf für einen neuen Tag mit dunklen Sorgen. Jeder Versuch, an etwas anderes zu denken, wirkt hilflos. »Ich muss aufstehen und mich auf den Weg zur Arbeit machen.« Ein Bein auf die Bettkante gesetzt und deine Aufmerksamkeit springt wieder zurück. Der Gedanke dreht noch eine Runde. Und noch eine.
Auf dem Weg ins Bad begleitet dich der Gedanke, du fühlst dich schon jetzt erschöpft. Die Angst vor dem kommenden Tag lässt dich an dir zweifeln. »Wie soll ich das nur schaffen? Wie kann ich das verbergen?«
Jeder hat mal so einen Tag oder vielleicht auch eine Phase, in der er grübelt und von bestimmten Gedanken vereinnahmt wird. Was aber, wenn dieser Zustand zur Norm wird? Und es dabei um eine Angst geht, die der Rest der Welt als »irrational« oder »eingebildet« abtut?
Das ist für die Menschen Realität, die an einer Körperdysmorphen Störung (KDS) leiden. Sie fühlen sich hässlich, entstellt und abstoßend – ohne dass es einen
Ich habe mich ja selbst für seltsam, für total oberflächlich gehalten. Habe mich immer wieder gefragt, wie ich mich an etwas so Unwichtigem aufhängen kann! Bei all den Problemen, die es gibt. Habe mir selbst Vorhaltungen gemacht, dass das ein Erste-Welt-Problem, Anstellerei, Anspruchsdenken ist. Aber aufgehört hat es trotzdem nicht. Im Gegenteil, ich habe mich noch mehr geschämt, dass ich so ichbezogene Gedanken habe.
Im Schatten des eigenen Aussehens
Körperunzufriedenheit ist zunächst etwas universell Menschliches. Schließlich haben wir alle unser Aussehen immer »mit dabei«. Lernen wir jemanden kennen, ist es meist das Erste, was wir wahrnehmen, sekundenschnell verarbeiten und unbewusst »lesen«.
Was wir selbst (an uns) wahrnehmen, ist aber nicht das Ergebnis einer objektiven Betrachtung, die auf einer strikten Weiterleitung physikalischer Reize beruht. Stattdessen »nutzen« wir
Die eigene Körperunzufriedenheit unterliegt also ständig kleinen und großen
Ungefähr jeder Zweite gibt an, mit seinem Äußeren
Die Unzufriedenheit von Patienten mit KDS geht qualitativ und quantitativ deutlich über »gesunden« Unmut
Dabei sind Menschen wie Nathalie davon überzeugt, dass der Blick anderer wie magnetisch von ihrem Makel angezogen wird. Ihre Gedankenwelt ist auf diese Makel eingeengt und sie können die entsprechende Körperstelle nicht als einen Teilaspekt von sich wahrnehmen. Stattdessen sehen sie nur noch dieses eine Detail wie unter einem Vergrößerungsglas oder mit einem
Um mit diesen Gedanken und den befürchteten Konsequenzen klarzukommen, entwickeln Betroffene bestimmte Bewältigungsstrategien: Zum Beispiel vergleichen und kontrollieren sie ihr Aussehen, fragen Vertraute darüber aus, wie diese die Körperstelle wahrnehmen oder tragen nur noch weite, langärmelige Oberteile. Das sorgt allerdings meist nur kurzzeitig für Entlastung. Aus diesem Grund wird das Verhalten dann dauerhaft wiederholt, ähnlich wie bei Zwangsstörungen. So entsteht eine exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen – die weit über die »Standard-Körperpflege« oder eine »normale«
Ich habe ein paar Jahre lang keine Fotos von mir machen lassen. Wenn ich gelacht habe, habe ich darauf geachtet, dass niemand mein Gesicht von vorn sieht. Wenn ich mit jemandem gesprochen habe, habe ich meine Nasenflügel leicht angezogen, damit meine Nase kleiner wirkt. Jeden Tag habe ich mein Gesicht in verschiedenen Spiegeln, bei unterschiedlichem Licht, aus allen Winkeln untersucht. Ich habe an Hautstellen, die mir erhoben oder gerötet vorkamen, so lange gedrückt bis alles rot und geschwollen war. Ich bin oft kurzfristig nicht mit feiern gegangen, habe Verabredungen abgesagt, mich viel ins Bett verkrochen. Ich konnte das Haus nur geschminkt und mit offenen Haaren verlassen. Ich habe andere Menschen betrachtet und nach jemandem gesucht, der ähnlich aussieht wie ich – um mir irgendetwas zu beweisen. Aber jede Nase kam mir proportionaler vor, jede Haut gesünder. Ich habe mir täglich ausgemalt, was eine Operation ändern würde.
Trotz immensen Leidensdrucks kommen Betroffene meist erst nach vielen Jahren zur richtigen Diagnose und passenden Behandlung – im Schnitt dauert die
Heimlich hässlich – die Diagnose lässt warten
- Scham und Angst vor Ablehnung:
Das klingt total egozentrisch. Aber ich war mir sicher, dass jedem, der mich sieht oder auch nur kurz mit einem Blick streift, auffallen wird, wie falsch, wie männlich, wie grob mein Gesicht aussieht! Ich hatte dauernd Angst, abgelehnt zu werden. Dass andere schlecht von mir sprechen, über mich lachen. Ich war sicher, dass ich so nicht liebenswert bin. Das hat mich komplett eingenommen. Ich wollte einfach verschwinden, ein neues Gesicht haben, aufgeben.
Der Kern von KDS sind Schamgefühle. Genau deshalb vermeiden Betroffene es, über die Sorgen zu ihrem Aussehen zu sprechen – jede zusätzliche Aufmerksamkeit ist für sie nahezu unerträglich. »Darüber zu sprechen fühlt sich so an, als ob jemand mit dem Finger draufzeigt und laut Hier! ruft«, erklärt Nathalie.
Gleichzeitig fürchten viele, als eitel und oberflächlich abgestempelt zu werden. Oder dass der Eindruck entsteht: Der ist nur auf Bestätigung aus! All das verhindert den Austausch mit anderen, der potenziell zutage bringen würde, wie exzessiv die Überzeugungen sind, entstellt zu sein. - Unwissen:
Neben der Angst und Scham der Betroffenen kommt hinzu, dass die meisten Mediziner und auch viele Therapeuten nichts oder nur wenig über KDS wissen. Von sich aus stoßen die wenigsten Behandler auf die Erkrankung. Nathalie wurde von 3 verschiedenen Therapeuten und bei einem Klinikaufenthalt nie auf KDS-Symptome hin »abgeklopft«. Doch selbst wenn Betroffene an einen kundigen Therapeuten geraten, bleibt Problem 1: Auch mit »Profis« sprechen Betroffene nicht oder nur sehr zurückhaltend über ihre Probleme. So herrschen Unwissen und Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. - Fehlende Einsicht:
Wenn Betroffene mit der Diagnose konfrontiert werden oder ein Freund Sorgen äußert, dass das »irgendwie nicht gesund klingt«, ändert das nichts an der Grundüberzeugung der Betroffenen, dass sie ein körperlichesIch habe doch gesehen, wie ich aussehe! Meine Freunde sagen nichts, weil sie mich gernhaben. Und warum sollten mir fremde Menschen sagen, dass sie mich hässlich finden?! Ich habe mich oft total allein damit gefühlt.
Nathalie wirkt aufgelöst, als sie das sagt. So, als hätten schon einige Menschen versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Und als hätten beide Seiten irgendwann nicht mehr weitergewusst.
Ein Großteil der Patienten mit KDS hat im Vergleich mit anderen psychischen Erkrankungen, die ebenfalls von starken Überzeugungen geprägt sind, eine sehr schlechte Krankheitseinsicht: Sie hinterfragen den Wahrheitsgehalt ihrer Überzeugungen nicht oder nur kaum. Betroffene mit KDS halten oft weiter an ihren Bewältigungsstrategien fest: verstecken, vergleichen, vermeiden. Statt eines Therapeuten suchen sie Dermatologen, Kosmetiker oder
Das alles sorgt dafür, dass Betroffene erst nach vielen Jahren zur richtigen Diagnose finden. Erst dann kann eine wirksame Behandlung überhaupt beginnen. Dabei wird die psychotherapeutische Behandlung häufig
Das alles zeigt: KDS ist keine Koketterie um Aufmerksamkeit, keine »eitle« Entwicklungsphase der Pubertät, die sich wieder »auswächst«, sondern eine gefährliche Erkrankung. Wie bei anderen psychischen Krankheiten ist die Frage nach den Ursachen komplizierter als bei einer Grippe …
Ist das der Schönheitswahn der modernen Welt?
Überall begegnen wir den
Nein! Denn KDS ist nicht neu und wurde schon vor über 100 Jahren vom italienische Psychiater Enrico Morselli als »Entstellungsangst« (Dysmorphophobie)
Denkbar ist aber, dass Betroffene und Mitmenschen es wegen der allgegenwärtigen Obsession mit Äußerlichkeiten besonders schwer haben, zu erkennen, ab wann genau das krankhaft ist. Soziale Medien und die dazugehörigen Selbstdarstellungskünstler eröffnen den Erkrankten ganz neue Möglichkeiten, sich mit einer größeren Anzahl an Menschen zu vergleichen, als das analog jemals möglich wäre. Immer wieder die perfekte Haut und die schönsten Haare zu sehen – auch wenn beides nur durch die entsprechende digitale Bearbeitung erreicht wird –, lässt die Kluft zwischen Ideal und eigener, verzerrter Wahrnehmung wachsen.
Wie und warum sich die Krankheit in das Leben der Betroffenen schleicht, ist noch weitestgehend ungeklärt. Es gibt Hinweise auf neurobiologische und neuroanatomische Veränderungen, Besonderheiten in der Informationsverarbeitung und den Einfluss
Das heißt aber nicht, dass es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt – im Gegenteil.
An den Wurzeln packen
Seit über 15 Jahren behandelt der Psychotherapeut Stefan Brunhoeber in seiner Praxis in Bonn Patienten mit KDS. Er hat ein Therapie-Handbuch und einen
Dabei seien junge Patienten besonders schwer zu motivieren. Ihre Überzeugung ist meist besonders hartnäckig; ihr Drang, etwas am Aussehen zu ändern, sehr stark. Personen, die schon lange mit den Beschwerden kämpfen und alles Mögliche erfolglos ausprobiert haben, können sich tendenziell eher mit der Idee anfreunden, dass sie ein psychisches Problem haben.
Bei der Psychoedukation versuche ich, so vielfältig wie möglich deutlich zu machen, wie subjektiv Wahrnehmung ist. Das sind gedankliche Samenkörner, die die Patienten in ihrer felsenfesten Überzeugung, hässlich zu sein, verunsichern. Das ist dann der Boden, auf dem die Behandlung stattfinden kann.
Was dann folgt, ist eine sogenannte
In jedem Fall steht fest: 14 Jahre qualvolles Verstecken sind eine lange Zeit – eine zu lange Zeit. Wie können wir Betroffenen früher helfen und so verhindern, dass sie jahrelang heimlich leiden?
3 Vorschläge für die Gesellschaft und jeden Einzelnen:
- »Lass uns reden!«
Wir können die Samenkörner, von denen Psychotherapeut Stefan Brunhoeber spricht, schon früher säen: An Schulen gibt es
So können Kinder schon früh lernen, dass eine übermäßige Beschäftigung mit dem Äußeren ein misslungener Bewältigungsversuch ist – und auf ein ernst zu nehmendes Problem hinweist. Gerade in der Pubertät spielt das eigene Aussehen eine zentrale Rolle – ein guter Zeitpunkt also, um genau dann zu lernen, wann die Beschäftigung damit krankhaft wird. Außerdem beginnt KDS meistens in der Adoleszenz; die Schulzeit ist also der frühestmögliche Ansatzpunkt, um für die krankhafte Unzufriedenheit mit dem Aussehen zu sensibilisieren. - Hilfe für Helfer!
Therapeuten sowie Hausärzte, Schönheitschirurgen und Dermatologen müssen KDS kennen, - Angehörige stärken!
Wie kann jeder einzelne mit KDS-Patienten umgehen? Stefan Brunhoeber rät Angehörigen, sich gar nicht erst auf Diskussionen über das Aussehen einzulassen. An deren Wahrnehmung lasse sich nur schwer rütteln. »Gut ist es, Nachfragen, die immer wiederkehren, schrittweise indirekter zu beantworten. Also zum Beispiel zu sagen: ›Erinnerst du dich noch daran, was ich dir letztes Mal auf diese Frage geantwortet habe? Meinst du das hat sich seitdem geändert?‹« So können Mitmenschen dieses Rückversicherungsverhalten – was Beziehungen sehr belastet – langsam ausschleichen.
Wir alle können lernen, genauer hinzuhören und nachzufragen, wenn jemand »nur« mit seinem Äußeren hadert.
Und wie geht es Nathalie jetzt?
Die Gedanken begleiten mich weiterhin. Aber ich kann immer häufiger und länger Platz für andere Dinge machen. Manchmal erhasche ich auch einen Blick auf mein Gesicht als Ganzes – meist wenn ich in anderen Gedanken bin und keinen Spiegel erwarte – und bin kurz überrascht: Ich kann ja ganz anders aussehen!
Titelbild: Victorien Ameline - CC0 1.0