Ich habe 4 Jahre lang den menschlichen Körper studiert. Und das Gefühl für meinen eigenen dabei fast verloren
So habe ich mein Körpergefühl wiedergefunden.
Wenn ich heute darüber nachdenke, wie es so weit kommen konnte, entbehren meine Überlegungen nicht einer gewissen Komik. Jahrelang hat mir mein Körper Warnsignale gesendet: Aus meinem Heuschnupfen wurde Asthma, aus ein paar Verspannungen wurden chronische Rückenschmerzen. Ich bekam eine
Die Komik beginnt mit Blick auf meinen Hintergrund: Als Medizinstudent kannte ich die Antwort auf meine Frage doch. Ich konnte die körperlichen Folgen von chronischem Stress und
Meine heutige Diagnose: Ich hatte mein Körpergefühl verloren. Es wiederzufinden war nicht einfach.
Wie soll ein Arzt den ganzen Körper kennen?
»Frage 5 Ärzte und du kriegst 7 Diagnosen«, so eine alte Binsenweisheit, die auf mich zutraf: Als ich meine Rückenschmerzen nicht länger als lästige Verspannung abtun konnte, diagnostizierte mir meine Hausärztin nach einer ca. 30-sekündigen Untersuchung eine
Nach einer Odyssee mit Visiten bei allen möglichen Fachärzten landete ich auf meiner Ursachensuche schließlich bei einem Physiotherapeuten. Der erklärte mir innerhalb von 10 Minuten, wie ich mit
Warum waren weder Hausärztin noch sämtliche Fachärzte zu diesem Schluss gekommen? Auch das erscheint mir im Nachhinein komisch: Das gesammelte medizinische Wissen ist heute so komplex und vielschichtig wie nie zuvor. Um den immer neuen Technologien, Erkenntnissen und Therapien beizukommen, bilden sich zunehmend spezifischere Fachrichtungen heraus. Diese Spezialisierung hat viele Vorteile – aber auch einen entscheidenden Nachteil: Kaum ein Arzt ist mehr in der Lage, den gesamten Körper zu berücksichtigen.
Gleichzeitig scheint es vielen Menschen immer schwerer zu fallen, die Signale des eigenen Körpers zu erkennen und zu deuten. Vielleicht weil keine Zeit dafür ist, vielleicht weil es als Zeichen von Schwäche gelten könnte. Gerade in anstrengenden Lebensphasen – wie meiner Prüfungszeit im Studium – muss der Körper hauptsächlich eins: funktionieren. Beschwerden passen da nicht ins Bild.
Wer doch krank wird, erwartet von der modernen Medizin vor allem eines: schnell wieder fit zu sein, um die nächsten Aufgaben und Abenteuer zu bewältigen.
Was ist, wenn der Körper da nicht mehr mitspielt? Dann landen die Patienten bei Menschen wie Anna Paul.
Hörst du auf die Warnsignale deines Körpers?
Sie ist Gesundheitspädagogin und Leiterin der sogenannten Ordnungstherapie im Knappschafts-Krankenhaus in Essen und empfängt dort die Patienten, die ebenfalls eine lange Odyssee hinter sich haben. Weil Schmerztabletten ihnen nicht mehr helfen, suchen sie nach neuen Möglichkeiten, den Alltag zu bewältigen.
Anna Paul sieht die Verantwortung nicht nur bei den Ärzten, sondern auch bei den Patienten. Sie weiß, wie frustrierend ihre Arbeit sein kann:
Viele meiner Kollegen, die jahrzehntelang mit Patienten arbeiten, sind oft frustriert. Lautet die Diagnose
Wer ist (noch) in der Lage, Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen als Warnsignale seines Körpers zu erkennen und zu akzeptieren, dass er etwas in seinem Leben ändern sollte? Schließlich
So war es auch in meinem Fall: Jede Woche stand bei mir eine Prüfung an, ich fühlte mich unter Druck gesetzt – auch von mir selbst. Die Selbstzweifel hielten mich wach, wenn ich eigentlich zur Ruhe kommen sollte. Stress ist mehr als der klassische Zeitdruck, mit dem wir ihn umgangssprachlich oft gleichsetzen.
Ohne Stress-Reaktion wären wir alle schon tot
Im kanadischen Wald schleicht der Elchjäger Chase Dellwo durch das Dickicht, als er plötzlich ein Brüllen wahrnimmt. Im nächsten Moment bricht ein Grizzlybär durch die Hecke und rennt zähnefletschend auf ihn zu. Wie von selbst reagiert das vegetative Nervensystem des Elchjägers und
In gefährlichen Situationen sorgen die beiden Stresshormone
Der Grizzlybär stürmt erneut auf Chase los, packt ihn an der Schulter und schleudert ihn durch die Luft. Der Waldboden federt seinen Sturz nur geringfügig ab. Doch das nimmt Chase kaum wahr.
In Extremsituationen erhöht Adrenalin mithilfe verschiedener Hormone die Schmerzschwelle so sehr, dass Menschen auch schwere Verletzungen kaum wahrnehmen.
Als er die Augen aufschlägt, sieht er den Grizzly ein weiteres Mal auf sich zurennen. Mit letzter Kraft wirft er sich erneut zur Seite und der Bär schnappt ins Leere.
Besteht akute Lebensgefahr, bringt der Körper alle nicht fürs Überleben relevanten Funktionen auf Sparflamme. Dazu gehören vor allem das Immunsystem und Magen-Darm-Tätigkeiten.
Dann macht es plötzlich »Klick«: Chase erinnert sich an einen Ratschlag seiner Oma. Vor Jahren hatte sie ihm einen Zeitungsartikel gezeigt, der den schlechten Schluckreflex von Bären erläuterte.
Der Botenstoff Noradrenalin sorgt bei akutem Stress dafür, dass unser Körper sich an die geistigen und körperlichen Belastungen anpasst: Wir sind besonders aufmerksam und konzentriert. Viele Menschen beschreiben diesen Zustand, als würden sie alles in Zeitlupe erleben.
Mit voller Kraft rammt der Jäger dem Grizzly seine geschlossene Faust in die Schnauze. Der Bär taumelt und lässt von ihm ab. Chases Stressreaktion hat ihm gerade das Leben gerettet –
75–90% aller Hausarztbesuche sind stressbedingt
Während unserer gesamten Evolution hat uns die Stressreaktion unseres Körpers helfend zur Seite gestanden. In ungezählten brenzligen Situationen hat sie unseren Vorfahren das Überleben ermöglicht – und rettet uns auch heute noch bei Verkehrsunfällen und gefährlichen Klettertouren das Leben. Immer dann, wenn wir blitzschnell entscheiden und handeln müssen, spielt der langfristige Blick keine Rolle. Schließlich wäre es unsinnig, wenn unser Körper während eines Bärenangriffs signalisieren würde: »Entspanne dich mal, du musst auch in 10 Jahren noch gesund sein!«
Die überlebensrettende Stressreaktion wird dann zum Verhängnis,
- Erhöhtes Infektionsrisiko:
Weil das Immunsystem auf Sparflamme läuft, ist die körpereigene Abwehr gegen Viren und Bakterien geschwächt. So konnten zum Beispiel die Gürtelrose-Viren, die in mir schlummerten, eine akute Infektion auslösen. - Stoffwechselstörungen, Übergewicht und Diabetes:
Stress, egal ob physiologischer oder psychologischer Natur, beeinflusst die Insulinverarbeitung. Insulin ist das wichtigste Hormon für einen funktionierenden Stoffwechsel. Es kann also zu Stoffwechselstörungen bis hin zu Diabetes kommen. - Herz und Blutgefäße werden angegriffen:
In brenzligen Situationen sorgt ein erhöhter Blutdruck dafür, dass die Muskeln besser funktionieren, und ermöglicht agiles Handeln. Aber ein dauerhaft erhöhter Blutdruck schädigt die Organe des Blutkreislaufs. - Schleimhautentzündungen und Magengeschwüre: Wenn es um Leben und Tod geht, ist die Unterdrückung der Magen-Darm-Tätigkeit hilfreich. Passiert das dauerhaft, kann das Schleimhautentzündungen und Magengeschwüre begünstigen.
- Migräne, Depressionen, Schlafprobleme und Essstörungen:
Der Botenstoff Noradrenalin sorgt in Stresssituationen für eine erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration. Auch hier gilt: Auf Dauer ist das nicht gut und kann von Migräne bis Essstörung zahlreiche Krankheiten begünstigen.
Die (unvollständige) Liste zeigt: Chronischer Stress ist ein wahrer »Tausendsassa«. Klar ist auch: Die Symptome, die er auslösen kann, sind abhängig von der Prädisposition und den Lebensumständen der jeweiligen Person.
Bei mir begann alles mit ein paar Muskelverspannungen und endete mit einer hartnäckigen Gürtelrose. Natürlich muss es nicht bei jedem soweit kommen. Ist das aber der Fall, bleibt die Frage: Wie komme ich da wieder raus? Um mein Körpergefühl wiederzufinden, habe ich eine mehr als 2.000 Jahre alte Technik genutzt.
Ist das ein Wundermittel gegen Stress?
»Achtsamkeit? Wirklich? Ist das nicht esoterisches Getue von Aussteigern, die durch Indien reisen, um sich selbst zu finden?«
Vor einem Jahr wäre genau das meine gedankliche Reaktion auf jemanden gewesen, der mir etwas von Achtsamkeit erzählen hätte wollen.
Als ich ernsthaft krank wurde und mir kein Medikament mehr zu helfen schien, erschütterte das mein bisheriges Weltbild. Ich wurde gewissermaßen gezwungen, innezuhalten und ernsthaft nach neuen Lösungen zu suchen. Dazu gehörte auch, der Achtsamkeit eine Chance zu geben.
Schnell musste ich feststellen, dass es sich mit Achtsamkeit ein wenig verhält wie mit, sagen wir, Erdbeeren: Jemandem zu erklären, wie eine Erdbeere schmeckt, ist aussichtslos. Nur wer selbst schon mal auf eine draufgebissen hat, weiß wirklich,
Achtsamkeit ist der bewusstere und intensivere Umgang mit sich selbst. […] [Es] bedeutet, wieder zu sich zu kommen und bei sich anzukommen. Genauer hin zu hören, was einem gut tut, was man braucht, was einem hilft und was einem schadet.
Genau diese Unschärfe sollten wir also berücksichtigen, wenn wir über Forschungsergebnisse zum Thema sprechen. Davon gibt es mittlerweile eine ganze Menge. Denn überall auf der Welt untersuchen Wissenschaftler die Frage, wie sich Achtsamkeit auf unser Denken und Verhalten auswirken kann.
Einer davon ist der Mediziner und
Er betont auch, dass vieles, was wir heute über Achtsamkeit und Meditation wissen, in 5–10 Jahren ganz anders aussehen könnte. »Gerade weil Meditation im Moment so en vogue ist, müssen wir aufpassen,
4 Zutaten für meinen »achtsamen Alltag«
Nachdem ich akzeptiert hatte, dass ich Achtsamkeit nicht greifen konnte, ohne sie einfach mal auszuprobieren, begann sie, für mich zu funktionieren. Die 4 wichtigsten Aspekte für einen achtsamen Umgang mit Stress würde ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wie folgt zusammenfassen:
- Stressreduzierendes Verhalten:
Wieso stresst mich der Kontrolltermin beim Arzt schon seit Tagen, obwohl ich doch eigentlich gar keinen Grund zur Sorge habe? Mentaler Stress entsteht durch unsere Erwartungen – und hat mit der konkreten Situation meist gar nichts zu tun. »Nur« weil wir vom Schlimmstmöglichen ausgehen, machen wir uns Sorgen, bekommen Angst und sind gestresst. Schaffen wir es, uns gedanklich davon zu distanzieren und unseren Autopiloten auszuschalten, können wir mit vermeintlich stressigen Situationen viel gelassener umgehen. Anders gesagt: Ich habe gelernt, Angst als das anzuerkennen, was sie wirklich ist: ein Gedanke in der Gegenwart, der nicht meine Zukunft beeinflussen sollte. - Ausreichend Bewegung:
Wir alle wissen es:
Achtsamkeit lässt sich auch in andere Sport- und Bewegungsarten einbauen. Selbst beim Laufen oder Radfahren kann ich versuchen, meine Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu halten. Wenn die Gedanken dabei immer wieder zum nächsten wichtigen Anruf oder Termin abschweifen, konzentriere ich mich zum Beispiel auf die Landschaft oder meinen Atem. - Ent-Spannung:
Für mich bedeutet Entspannung, jeden Morgen ein paar Minuten zu meditieren. Im Verlauf des Tages halte ich zwischendurch einfach mal kurz inne. Zum Beispiel immer dann, wenn ich auf meine Armbanduhr schaue. Ich habe mir angewöhnt, dann immer - Gesunde Ernährung:
Für manche Menschen hat Ernährung eine Form der Religiosität angenommen:
Regel Nummer 9 der 10 Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung lautet tatsächlich: »Achtsam essen und genießen«. Es geht darum, langsam und bewusst zu essen – statt vor dem Bildschirm »mal eben« das Mittagessen hinunterzuschlingen. Das sorgt nicht nur für mehr Genuss, sondern
Mein Fazit nach 12 Monaten Achtsamkeit? Ich habe erkannt, dass der Großteil meines Stresses nur durch meine Bewertungen und nicht durch reale Umstände erzeugt wurde. Das war unglaublich befreiend, und für mich hat sich dadurch eine neue Perspektive auf das Leben erschlossen. Während ich mich vorher oft als Spielball äußerer Umstände sah, stellte ich fest, wie viel aktiver ich mein Denken und Handeln gestalten konnte. Ich bin stolz, sagen zu können: Ich habe mein Körpergefühl (zurück-)gewonnen.
Titelbild: Blake Wheeler - CC0 1.0