Revolution! Dieser Text ist so wild, dass er keinen Titel braucht
Die Rebellen des Jahres 1968 sind jetzt brave Bürger. Aber diese 7 Ideen von damals bestimmen unser Leben noch heute.
Im Jahr 1968 schlug in Deutschland die Stunde der Jugend, die einen Neuanfang wollte – nicht nur politisch, sondern auch in den Köpfen. Alte Gewissheiten wurden hinterfragt, auf den Kopf gestellt und kräftig durchgeschüttelt. Das änderte fast alles, und zwar so fundamental, dass wir uns in vielen Bereichen gar nicht mehr vorstellen können, dass es einmal anders war. Dass Frauen einmal die schriftliche Genehmigung ihrer Männer brauchten, um einen Job anzunehmen. Dass es ein sogenannter »Kuppelparagraf« für unverheiratete Paare schwer machte, Hotelzimmer zu buchen – geschweige denn die Wohnung zu teilen. Dass manche Eltern ausflippten, wenn sich ihre Kinder lange Haare wachsen ließen und diese im Rhythmus harter Gitarrenriffs schüttelten.
Wir haben uns gefragt: Was ist von damals geblieben?
Keine Angst vor Utopien
von Dirk WalbrühlWenn Uschi Obermaier und Rainer Langhans vor laufender Kamera über Drogen, Eigentum und freie Liebe sprachen, dann war das mehr als nur ein Aufbäumen gegen das spießige Establishment. Die Bewohner der
»Die waren alle extreme Kopf-Menschen, sehr intellektuell« –
Natürlich, Deutschlands prominenteste Kommune schaffte nicht einmal 2 Jahre, bevor sie
Und genau hier wirkt die Kommune 1 als Symbol für die ganze 68er-Bewegung vielleicht am nachhaltigsten nach: Sie demonstrierte der Nation, dass neue Gesellschaftsideen nicht gewalttätig sein müssen und sich auch im kleinen Rahmen umsetzen lassen. 9 junge Menschen brachen damit die Lanze für damals unvorstellbare Lebensentwürfe, die heute keine Aufreger mehr sind: von Polyamorie bis hin zur gemischten Studenten-WG.
Ja, seid ihr denn verrückt geworden?!
von Maren Urner»Was glaubt ihr denn, was ihr seid, verdammt noch mal, verrückt oder was?« Das fragt Jack Nicholson in seiner Rolle als Patient einer geschlossenen Anstalt seine Mitpatienten und gibt auch gleich die Antwort: »Ihr seid nicht mehr oder weniger verrückt als jedes Durchschnittsarschloch draußen auf der Straße!«
Die Szene stammt aus der preisgekrönten Tragikomödie »Einer flog über das Kuckucksnest« und beschreibt, wie Jack Nicholson in der Rolle des Neuankömmlings in der »Klapse« alles gehörig infrage stellt.
Was das mit den 68ern zu tun hat? Eine ganze Menge!
Der Film aus dem Jahr 1975 steht symbolisch für die sogenannten
Auch wenn sich aus einem Teil der antipsychiatrischen Bewegung andere Extreme bildeten, wie im Fall des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK), wirken ihre Ansätze noch heute nach: Zum Beispiel in Form des
Als die Hippies den Punk erfanden
von Gerrit BreschNackt auf einer Wiese tanzen, wilden Blumenschmuck im Haar und der Singkreis mit der Akustikgitarre – solche Klischees verbinden viele
Rockige Rebellen wie
Leute versuchen uns schlecht zu machen, / nur weil wir rumkommen. / Was sie tun, sieht so kalt aus. / Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich alt werde.
Die Künstler von damals sehnten sich nach einer härteren Alternative zu den weichgespülten Klängen des damaligen Mainstream-Rocks. Dem »Do-it-yourself«-Gedanken getreu produzierten neue Bands kurzerhand ganze Alben
Sie kreierten schnellere, härtere Musikstile:
Wenn es keine Zukunft gibt, / wie kann es dann Sünde geben? / Wir sind die Blumen im Abfalleimer. / Wir sind das Gift in eurer menschlichen Maschine. / Wir sind die Zukunft / – Eure Zukunft
Wie Studierende Licht ins Dunkel der Erinnerung brachten
von David EhlWahrscheinlich bist du auch schon mal auf eine dieser kleinen Messing-Kacheln getreten, bevor du etwas verschämt den Fuß heruntergenommen hast. Weil es eben kein normaler Straßenbelag ist, sondern an den Menschen erinnert, der an diesem Ort gelebt hat – bevor er von den Nazis ermordet wurde.
Mittlerweile liegen
Die junge Bundesrepublik scheute anfangs den Blick zurück und beschäftigte sogar Funktionäre des NS-Regimes in ihren Amtsstuben. Hunderte ehemalige NSDAP-Mitglieder machten
»Unter den Talaren – der Muff von 1.000 Jahren«
Hamburger Studierende führten im November 1967 die Prozession vor ihrem neuen Direktor an – mit einem Transparent, das er von hinten nicht lesen konnte: »Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren«. Damals ein
Befreiung im Kleiderschrank
von Carmen Maiwald»Wer hat bei euch die Hosen an?« Bei dieser Frage geht es um mehr als nur das letzte Wort, wenn sich Pärchen fragen: Urlaub in Thailand oder Italien? Pizza oder Nudeln? Hinter der Frage steckt die Vorstellung von der
Hosen, das waren lange Zeit Sinnbilder der Macht, reserviert ausschließlich für Männer. Die 68er rückten diesem Hosenmonopol mit einer entschlossenen Idee zu Leibe: Unisex-Mode. Im Kampf gegen die Machtverhältnisse der damaligen Zeit gab sich die Studentenbewegung androgyn.
»Jürgen will wie Uschi sein« –
Damit zeigten die 68er, wie auch Mode kulturelle Veränderungen provozieren kann. Dass heute Hosen für Frauen nicht mehr für irritierte Blicke sorgen, ist ein Verdienst derer, die sich dem damals geltenden Modediktat verweigerten. Es folgte die Befreiung im Kleiderschrank. Die daran anknüpfende Debatte um Sexualität, Geschlecht und Macht ist auch heute noch brandaktuell.
Eine neue Literatur
von Marisa Uphoff
Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot
Dieses Motto stand auf Spruchbändern von Germanistik-Studierenden, die mit der Literatur der Zeit gewaltsam brechen wollten. Die Literaturwissenschaft der 1960er-Jahre empfanden sie als reaktionär; sie wollten weg vom bürgerlichen Idyll, das sich in Joseph von Eichendorffs Gedicht
Die verstaubten Inhalte des damaligen
Nichts mehr gefällt mir.
Soll ich
eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
Die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen
über so überflüssige Dinge – Ingeborg Bachmann: Keine Delikatessen
Konservative taten sich schwer damit, den literarischen Charakter der
Germanistik-Studierende im Jahr 2018 können über die Grabenkämpfe von damals nur müde lächeln. Flugblätter der 68er stehen genauso auf dem Vorlesungsplan wie Goethe. Wären die Studierenden von damals nicht auf Konfrontationskurs gegangen – mein Curriculum würde heute wohl anders aussehen.
Der Prager Frühling – oder der Anfang vom Ende des Ostblocks
von Katharina WiegmannIm Jahr der Revolutionen rollten sowjetische Panzer durch Prag. Am 21. August 1968 marschierten hunderttausende Soldaten
Der größte Militäreinsatz in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg beendete gewaltsam ein hoffnungsvolles Experiment: die Suche nach dem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, einem demokratischen Mittelweg zwischen Kapitalismus und dem Sozialismus stalinistischer Prägung.
Der Generalsekretär der tschechoslowakischen kommunistischen Partei, Alexander Dubček, hatte erst im Februar 1968 die Zensur der Medien aufgehoben, eine kritische Öffentlichkeit bildete sich heraus, sogar die Planwirtschaft sollte einer »sozialistischen Marktwirtschaft« weichen, inklusive unabhängiger Gewerkschaften und privater Betriebe. Es war eine Revolution von oben, die der Tatsache Rechnung trug, dass es mit dem sowjetischen Dogmatismus so nicht weitergehen konnte. Das System funktionierte nicht für die Wirtschaft. Und noch viel wichtiger: Es funktionierte nicht für die Menschen. Dubček und andere Reformer machten Schritte in Richtung Demokratie. Der Prager Frühling brach an.
Doch dann schickte Moskau die Panzer.
Die demokratische Wende kam erst 20 Jahre später – aber in diesen Augusttagen festigte sich
Titelbild: Adam Daniel - CC0 1.0