»Jetzt sollte auch dem Letzten klar sein, dass die Demokratie ernsthaft in Gefahr ist«
Nach Chemnitz gibt es keine Ausrede mehr, nicht zu handeln. Sozialwissenschaftler und Aktivist Farhad Dilmaghani fordert eine neue, starke Bürgerrechtsbewegung.
7. September 2018
– 9 Minuten
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Erst #MeTwo, dann Chemnitz – in den letzten Wochen wurde Rassismus in Deutschland immer sichtbarer. Dass es dieses Problem noch immer gibt, überraschte viele. Nicht so Menschen wie Farhad Dilmaghani, der seit über 20 Jahren gegen strukturellen Rassismus kämpft. Heute ist er Vorsitzender der Organisation – eine Initiative, die sich für eine vielfältige und integrierende Gesellschaft einsetzt. Im Interview mit Georg Diez fordert er ein härteres Vorgehen gegen die AfD: »Wer glaubt, das sei ein Spuk, der irgendwann einfach so vorbeigehe, der hat Herrn Gauland nicht zugehört, als er mit hassverzerrter Stimme rauspresste: ›Wir werden sie jagen!‹«
Chemnitz ist eine Zäsur
Georg Diez:
Herr Dilmaghani, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Thema angesprochen und nun Chemnitz. Was hat sich in den vergangenen Wochen geändert im Einwanderungsland Deutschland?
Farhad Dilmaghani:
Erst mal das Positive. Es ist jetzt möglich, offener über Rassismus in unserem Land zu sprechen, und zwar nicht nur über Einzelschicksale. Tatsache ist: Wir haben ein strukturelles Problem mit Rassismus. In den Schulen, bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt. Viele Betroffene haben es als Befreiung empfunden, das endlich öffentlich aussprechen zu können. Die Menschen organisieren sich – sind erst der Anfang. Da wird mehr kommen. Das höre ich auch an allen Ecken und Enden. Chemnitz ist aber auch eine Zäsur. Man darf den Begriff nicht überstrapazieren. Aber jetzt sollte auch dem Letzten klar sein, dass die Demokratie ernsthaft in Gefahr ist und die AfD der parlamentarische Arm der Rechtsextremen ist, die Seite an Seite mit Neonazis und PEGIDA marschiert wie beim sogenannten Trauermarsch letzten Samstag.
Marcel Tschekow, der die AfD seit Gründung analysiert, weist zu Recht auch auf die Verbindungen zwischen AfD und sensiblen staatlichen Organen hin. Allein in der Bundestagsfraktion der AfD bestehen 30 Verbindungen zur Sicherheit und Justiz. 4 Abgeordnete sind ehemalige Staatsanwälte, Oberstaatsanwälte oder Richter. 17 Abgeordnete besitzen Verbindungen zur Bundeswehr. 7 weitere Abgeordnete der Bundestagsfraktion besitzen Verbindungen zur Polizei. Wer glaubt, das sei ein Spuk, der irgendwann einfach so vorbeigehe, der hat Herrn Gauland nicht zugehört, als er mit hassverzerrter Stimme rauspresste: und der hat auch nichts aus der deutschen Geschichte gelernt.
Sie haben als Teilnehmer des Integrationsgipfels schon früh eine Anti-Rassismus-Debatte gefordert. Hat Sie #MeTwo nun überrascht?
Farhad Dilmaghani:
Das Thema war immer da. Es gab Aktivismus, Romane wurden geschrieben, Kunst gemacht, Filme gedreht. Nur die Mehrheitsgesellschaft hat sich nicht dafür interessiert oder das Thema ignoriert. Dass sich #MeTwo dann aber wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat, das hat mich schon überrascht. Dabei ist auch viel Selbstbewusstsein und Verbundenheit spürbar geworden, gerade auch bei der Generation zwischen 20 und 30. Das macht Mut und Hoffnung.
Neben Bundespräsident Steinmeier haben auch Spitzenpolitiker wie der niedersächsische Ministerpräsident Weil oder Außenminister Maas offen angesprochen, dass wir in Deutschland ein Rassismusproblem haben.
Farhad Dilmaghani:
Das ist ein Novum. Die Tür hat sich einen Spaltbreit geöffnet. Jetzt müssen Taten folgen, denn Rassismus ist der Treibstoff für die Rechtsnationalen und Anti-Demokraten, die ein anderes Land wollen, ein nationalistisches Land, wo man wieder stolz sein kann auf die Leistungen der Wehrmacht, die massive Kriegsverbrechen begangen hat. Mir ist es unverständlich, wie jemand, der Dinge sagt wie Herr Gauland, immer noch wie ein normaler Politiker interviewt wird.
»Rassismus wurde in Deutschland vor allem mit Antisemitismus gleichgesetzt«
Gibt es einen speziellen deutschen Rassismus?
Farhad Dilmaghani:
In ganz Europa gibt es einen immer stärkeren offenen Rassismus. Und Länder mit einer Kolonialgeschichte wie Frankreich oder England haben sich schon früher mit Rassismus auseinandergesetzt. In Deutschland gibt es eine andere spezifische Komponente, die mit der Vergangenheit zusammenhängt: Rassismus wurde in Deutschland vor allem mit Antisemitismus gleichgesetzt. Da es nach dem Krieg kaum mehr Juden gab, hatte man demnach auch kein Rassismusproblem mehr. Das war die zynische Logik.
Was war die Folge dieses Denkens?
Farhad Dilmaghani:
Man hat deshalb auch einen Teil der Aufarbeitung des Nationalsozialismus vernachlässigt und die Komplexität und Entwicklungsfähigkeit von Rassismus ausgeblendet. Man sprach nach dem Krieg lieber von und entlastet sich somit von der Aufgabe, über die verschiedenen Ausprägungen von Rassismus und dessen struktureller Verankerung in der Gesellschaft nachzudenken. Das hat auch dazu beigetragen, dass man sich mit aktuellen Formen von Rassismus im Zuge der damaligen Gastarbeitermigration nicht wirklich auseinandergesetzt hat.
Es gab in der Bundesrepublik eine starke Kontinuität nationalsozialistischer Funktionseliten in Staat und Wirtschaft. Sehen Sie einen heutigen Rassismus, der bis in diese Zeit zurückreicht?
Farhad Dilmaghani:
Rassismus und Nationalismus gehen immer Hand in Hand, geschichtliche Bezüge sind enorm wichtig. In Deutschland sind das wesentlich der Nationalsozialismus, die Schuldfrage und die Verantwortung der Nachgeborenen. Das kann erklären helfen, warum der deutsche Rassismus teilweise sehr aggressive Züge annimmt – brennende Flüchtlingsheime gab und gibt es in dieser Massivität europaweit nur in Deutschland. Es erklärt natürlich nicht, warum der ganze NSU-Komplex im Grunde immer noch nicht aufgeklärt ist, warum unzählige Verfassungsschutzakten geschreddert wurden, warum jahrelang wegen »Dönermorden« von einer Soko Bosporus ermittelt wurde. Die Blindheit gegenüber dem Rechtsterrorismus ist ein besonders beschämendes und tragisches Beispiel für den strukturellen Rassismus, der in Institutionen verankert ist.
Der Verfassungsschutz spielt in all dem eine sehr dubiose Rolle.
Farhad Dilmaghani:
Richtig. dass es unglaublich sei, dass damals aus Thüringen keine Hinweise auf das Neonazi-Trio kamen. Krass sind als aktuelles Beispiel auch die einer Partei, deren Protagonisten wie beispielsweise Herr Höcke Millionen von Deutschen mit Migrationshintergrund das Deutschsein abspricht. Da läuft es einem kalt den Rücken hinunter.
Der Rassismus, sagen Sie, reicht in die Strukturen von Parteien, Unternehmen, Medien?
Farhad Dilmaghani:
Wenn Menschen wegen ihrer Herkunft ausgrenzt, weniger repräsentiert und auch diffamiert werden, dann ist das struktureller Rassismus. Der darauf wurde reagiert. Die Bundesregierung sollte endlich ebenfalls entschiedener auf die #MeTwo-Kampagne reagieren und in die Offensive gehen. Wir brauchen eine hochkarätige Kommission, die das Thema des strukturellen Rassismus transparent macht und Handlungsempfehlungen abgibt. Im Moment gibt es viele Verletzungen und Abwehrreflexe. Je länger wir warten, desto schwieriger wird es.
Was jetzt?
Wie kann man Rassismus am besten entgegentreten? Privat und politisch?
Farhad Dilmaghani:
Darüber sprechen, politische Maßnahmen einfordern, verstehen, woher der Rassismus kommt, wie er wirkt, die Hand reichen, wenn Leute realisieren, dass sie rassistisch handeln, ohne sich richtig bewusst darüber zu werden. Und aufklären, aufklären, aufklären, von der Kita bis ins hohe Alter, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern auf der Ebene von und Grundrechten. Es sollte normaler sein, darüber zu sprechen. Wir brauchen von staatlicher Seite ein Demokratiefördergesetz, Quotenregelungen, eine Stärkung der Anti-Diskriminierungspolitiken. Rassismus muss stärker sichtbar gemacht und sanktioniert werden, Institutionen interkulturell geöffnet werden. Dafür braucht es diversitätsorientierte Organisationsentwicklung. Der Autor Imran Ayata sagt: Er hat Recht.
Diversität ist die Stärke einer modernen Gesellschaft.
Farhad Dilmaghani:
Diversität ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Wir müssen Einwanderung und die soziale Frage verbinden, damit Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das ist eines der besten Mittel, um uns gegen Rassismus zu schützen und die Abwehrkräfte von Institutionen und auch der Zivilgesellschaft zu stärken. Die Fragen von kultureller Herkunft, Klassenzugehörigkeit und nationalem Selbstverständnis gehören zusammen diskutiert. Die Chancen für sozialen Aufstieg sind sehr ungleich verteilt in unserer Gesellschaft und unter den Schwächsten sind besonders viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Wenn die Leute nicht mehr den Eindruck haben, dass es gerecht zugeht, sie mit ihren Sorgen nicht ausreichend gesehen werden, Angst vor Kontrollverlust haben oder ihr Selbstwertgefühl im Nationalstolz suchen, dann werden Menschen leider sehr anfällig dafür, Sündenböcke zu suchen.
Aber dann gibt es auch viele, die Diversität grundsätzlich ablehnen und sich eine homogene Gesellschaft wünschen.
Farhad Dilmaghani:
Denen darf die Politik nicht hinterherlaufen, sonst wird es demokratiegefährdend. Ich habe den Eindruck, dass viele Politiker nicht verstanden haben, dass es einen grundsätzlichen Wandel gegeben hat. Die AfD vertritt Positionen und eine Sprache, die früher von der NPD genutzt wurde. Kaum einer wollte damals die NPD wählen, weil das mit Glatzen und Gewalt gleichgesetzt wurde. Die AfD unterliegt als ehemalige Professorenpartei und dank Wegbereitern wie Sarrazin nicht mehr einem sozialen Tabu. Sie ist wählbar. Sie sitzt in den Talkshows. Wer gegen Flüchtlinge, Ausländer und Menschen mit Einwanderungsgeschichte eingestellt ist, hat jetzt eine Alternative.
Was bedeutet das für Politik auf Bundesebene?
Farhad Dilmaghani:
Die entscheidende Frage der nächsten Jahre wird sein, wie sich die Union verhält – ob sich also auf Dauer die liberalen Kräfte durchsetzen, die Koalitionen mit der AfD kategorisch ausschließen. Wenn wir in Deutschland als größtem Mitgliedstaat österreichische Verhältnisse bekommen, wird vieles, was wir in Europa und der EU über die letzten Jahrzehnte mühevoll aufgebaut haben, zugrunde gehen.
Sie haben vor 8 Jahren einen Verein gegründet, DeutschPlus e. V., der gesellschaftliche Teilhabe organisieren wollte. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Farhad Dilmaghani:
Jemand bezeichnete uns mal als »Architekten, die Blaupausen für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft« erstellen. Das stimmt, und das ist uns auch gut gelungen. Wir haben uns eine Zeit lang auf einem sehr guten Weg gesehen, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Deutschsein im 21. Jahrhundert sehr vielfältig sein kann. Aber, und das muss man ehrlich sagen, es ist uns nicht gelungen, unsere Impulse auch in konkrete Politik zu übersetzen, die nachhaltig die Strukturen verändert hätte.
»Ein Vorbild sind die Bürgerrechtsbewegungen der USA«
Was haben Sie gelernt?
Farhad Dilmaghani:
Wir brauchen mehr Allianzpartner. Es ist Zeit für neue konkrete Bündnisse. Und auch die migrantische Zivilgesellschaft muss mobiler werden. Sie ist noch zu zart ausgeprägt, zu schwach und tendenziell zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wir müssen die Themen konkreter ansprechen und dabei auch stärker in Kauf nehmen, dass wir polarisieren. Deshalb ist es jetzt auch wichtig, dass aus #MeTwo eine wirksame soziale Bewegung wird.
Wie kann das gelingen?
Farhad Dilmaghani:
Wir sollten bald alle Akteure und Initiativen, die mit #MeTwo verbunden sind, zusammenbringen und gemeinsam politisch und solidarisch arbeiten. Neben den Aktivitäten in sozialen Medien braucht es auch ganz klassische Offline-Politik. Das sieht man auch bei Demonstrationen wie #ausgehetzt in München oder zuletzt gegen die AfD in Berlin.
Was bedeutet das inhaltlich?
Farhad Dilmaghani:
Wir müssen stärker an das Selbstverständnis von Deutschland heran. Was macht eine Einwanderungsgesellschaft aus? Was bedeutet ein Miteinander in Vielfalt konkret für die, die schon länger hier sind, genauso wie für die, die neu dazukommen? Und welche Konflikte sind in Wirklichkeit Verteilungskonflikte, die auch über rassistische Argumentationsfiguren ausgetragen werden?
Müssen die Ansprüche klarer sein, die Aussagen härter?
Farhad Dilmaghani:
Ja, ein Vorbild sind die Bürgerrechtsbewegungen der USA, die mit klarer Sprache, klarer Analyse und Aktivismus für mehr Gleichstellung eingetreten sind. Wir von DeutschPlus e. V. haben vor 2 Jahren zusammen mit mehr als 50 weiteren Organisationen auf dem Integrationsgipfel Bundeskanzlerin Merkel und der damaligen Integrationsstaatsministerin Özoguz Passiert ist seitdem leider wenig. Wenn wir nicht an die konkrete Umsetzung kommen, wird die Frustration nur größer und die Verbände verlieren auch an Glaubwürdigkeit gegenüber ihrer Basis. Das kann keiner wollen. Man kann nicht Desintegrationsprozesse beklagen und gleichzeitig konkrete Vorschläge ignorieren.
Die gesellschaftlichen Konflikte verschwanden hinter dem Zauberwort »Integration«. Wie verhält sich das Konzept von Integration zum Rassismus in diesem Land?
Farhad Dilmaghani:
Das sehe ich nicht so. Die Konflikte waren immer da. Im Zuge der Özil-Debatte haben wir aber auch festgestellt, wie schnell aus einem umjubelten Integrationsvorbild wieder der Türke und »Ziegenficker« wird, der sich »nach Anatolien verpissen« soll, um 2 Aussagen zu zitieren, die prominent gefallen sind. Das war eine Zäsur. Es hat sich gezeigt, dass man sich so gut integrieren kann, wie man will, man kann jederzeit wieder zum Ausländer gemacht werden. Das war die rassistische Komponente daran. Wir können jetzt nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.
Dieses Interview erschien auch auf der Website des DeutschPlus e. V.
Georg Diez ist Buchautor, Journalist für den »Spiegel« und Kolumnist für »Spiegel Online«. Er hat auch für die F.A.S., die Süddeutsche Zeitung sowie DIE ZEIT gearbeitet und betreibt die Website 60pages.