Das Schweizer Taschenmesser der Ernährungswende
Die Missstände sind groß auf den Feldern dieser Welt, gleichzeitig sprießen allerorten Initiativen und Ideen zur Besserung aus dem Boden. Das Problem dabei: Sie verbreiten sich langsam und setzen sich schleppend durch. Ernährungsräte bündeln das Know-How und bringen es in die Städte.
Im Spätsommer sind die Prinzessinnengärten eine Wonne: An diesem bunten, freien Ort mitten in der Hauptstadt Berlin können Stadtgärtner den Blick in den Himmel richten und die Hände in die Erde stecken. Großstädter jäten hier Unkraut, bewässern Kohlköpfe und ernten Tomaten. Auch Christine Pohl lässt hier die Seele baumeln, wenn sie einmal Abstand braucht vom Schreibtisch. An diesem arbeitet sie daran, dass Orte wie die Prinzessinnengärten nicht die Ausnahme bleiben in unserer Versorgung mit Nahrungsmitteln, sondern zur Regel werden. Und bis dahin ist es ein weiter Weg.
Christine Pohl arbeitet seit 3 Jahren für die Organisation
Kraft aus der Krise
In Deutschland ist die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in den letzten
Die monopolartige Stellung weniger, gigantisch großer Produzenten führt zu langen Transportwegen. Rein rechnerisch produzieren die Deutschen zwar Die gute Eigenproduktionsquote ist wenig mehr als ein statistischer Kniff.
Deutschland ist zweitgrößter Agrarimporteur der Welt und drittgrößter Exporteur von Lebensmitteln. Die gute Eigenproduktionsquote ist also wenig mehr als ein statistischer Kniff. Woher das Getreide in den Butterkeksen stammt, ist für den Verbraucher kaum nachvollziehbar. Selbst wenn vom Milchkarton ein netter Bauer lächelt, hat der Liter doch meist mehrere Hundert Kilometer in Tanks und Schläuchen quer durchs Land zurückgelegt, bevor er zu Hause auf dem Küchentisch steht. Wir kennen unsere Lebensmittel nicht mehr. Schon gar nicht die Menschen, die sie erzeugt haben und die Orte, an denen sie entstanden sind. Ihre Anonymität ist das Symptom einer tief wurzelnden Krise der Landwirtschaft.
Darunter leiden nicht nur die Menschen, sondern auch die Umwelt. 1/3 der weltweiten Treibhausgas-Emissionen stammen aus dem Agrar- und Lebensmittelbereich. Die Emissionen sind vor allem auf die energieintensive Erzeugung von Kunstdünger und Pestiziden, die Lachgas- und Methan-Emissionen aus der Tierhaltung und die Umwandlung von Wäldern und Mooren zu Ackerland zurückzuführen. Nitrateinträge im Grundwasser steigen. Bei
Immer mehr Menschen rebellieren gegen diese Zustände:
Es regt sich was am Boden
Gleichzeitig beginnen viele damit, Ernährungspolitik »von unten« zu machen. Graswurzelbewegungen wie das
Genau hier setzen Christine Pohl und der Ernährungsrat mit ihrer Arbeit an: Sie und ihre Mitstreiter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bringen die verschiedenen Akteure mit der lokalen Politik zusammen. Die Ernährungsräte sind das verbindende Glied in der Kette: Sie vermitteln zwischen dem Veränderungsstreben der Basis und den Interessen der Agroindustrie und Landwirtschaftspolitik. Vom Saatgutproduzenten über den Landwirt, den Verbraucher und die Kommunalverwaltung bis zum Recyclingunternehmen sollen künftig alle an den Entscheidungen über die Lebensmittel beteiligt werden.
Im April 2016 gründete Christine Pohl mit der Unterstützung von über 50 Organisationen und Akteuren aus dem Ernährungsbereich den Berliner Ernährungsrat. »Wir haben den Ernährungsrat nicht gegründet, damit wir schicke, coole Lebensmittel essen können«, Christine Pohl.
Die Vollversammlung aller Beteiligten, der aktuell etwa 40 Aktive beiwohnen, trifft die Entscheidungen. »Wir haben den Ernährungsrat nicht gegründet, damit wir schicke, coole Lebensmittel essen können«, sagt Pohl, »sondern weil unsere Ernährungsweise globale Auswirkungen auf das Ökosystem hat und Menschenrechte verletzt.« Sie weiß, wovon sie spricht. Die 39-Jährige studierte Ernährungspolitik in London, arbeitete vor dem Wechsel zu Inkota bei
Bisher ist die Bereitschaft, Grundlegendes zu verändern, bei der Politik und Industrie eher gering. »Es stehen Machtpositionen auf dem Spiel«, sagt Christine Pohl. Das zeigt auch eine Nachfrage beim Landwirtschaftsministerium, das das Potenzial der Ernährungsräte lediglich darin sieht, »gerade bei jüngeren Menschen die Themen Ernährung und Ernährungspolitik« auf die Agenda zu setzen. Bildung also, statt echter Mitbestimmung und Mitspracherecht. Auch der Bauernverband hat eine eigene Vorstellung davon, wozu die Räte dienen: Sie sollen vor allem »ein nicht gerechtfertigtes negatives Bild der Landwirtschaft« korrigieren, so die Rechtsanwältin Petra Nüssle, die beim Bauernverband für Agrarrecht und Verbraucherschutz zuständig ist. Imagepflege also.
Die Lücke im Apparat finden
Deshalb müssten die Räte zunächst vor allem auf lokaler und regionaler Politik-Ebene ansetzen, meint Pohl. Die hätten bisher nämlich viel zu wenig Einfluss darauf, wie unser Essen wächst. So durchforstet der Berliner Ernährungsrat aktuell kommunale Gremien, Rechtsgrundlagen und Verordnungen, wie etwa das Verwaltungs- oder Planungsrecht. Mithilfe des Stadtplaners Philipp Stierand, der Experte für Stadternährungs-Planung ist und den
Ein weiterer Hebel: öffentlicher Druck. 2015 hat sich Berlin mit der Unterzeichnung des »Milan Urban Food Policy Pact« als eine von 132 Städten weltweit verpflichtet, das Thema Ernährung in alle Politik- und Verwaltungsbereiche zu integrieren. Pohl und ihre Mitstreiter fühlen jetzt, pünktlich zur Senatswahl am 18. September, den Parteien auf den Zahn und wollen wissen, wie genau sie das umzusetzen gedenken.
Auch der inspirierende Blick über die Stadtgrenzen hinweg gehört zum Aufgabenfeld der Ernährungsräte: Die Stadt Stuttgart etwa setzte einen eigenen Urban-Gardening-Koordinator ein. Die Stadt Andernach in der Nähe von Koblenz hat sich einen Ruf als erste »essbare Stadt« Deutschlands gemacht; ihre öffentlichen Flächen sind mit Erdbeeren, Salaten und Erbsen, statt mit Rhododendren oder Buchsbäumen bepflanzt. In London gibt es sogar ein Onlinetool,
Bürger brauchen Rat – die Ursprünge in den USA
Will man verstehen, woher die Idee der Ernährungsräte stammt und was sie alles erreichen können, lohnt ein Blick über den Atlantik: Der erste Ernährungsrat (»food policy council«) wurde 1982 in Knoxville in den USA gegründet. Er war die Antwort auf große Ernährungsprobleme der Stadt. Menschen mit niedrigem Einkommen konnten sich kein vernünftiges Essen mehr leisten. Daraufhin gründete sich der Rat und setzte ein Frühstücksprogramm für betroffene Familien auf. Er schuf ein öffentliches Verkehrsnetz, das Menschen ohne eigenes Auto frische Lebensmittel überhaupt erst wieder zugänglich machte. Bis heute arbeitet der Ernährungsrat im Bundesstaat Tennessee erfolgreich. Ihm folgten 214 weitere Ernährungsräte in den USA und 60 in Kanada.
»In den USA sind die Ernährungsräte so erfolgreich, weil sie Vertretern von »Big Agriculture« und »Big Food« auf lokaler Ebene viel weniger Angriffsfläche bieten als auf Bundesebene«, sagt der Experte für Ernährungsräte Mark Winne vom John Hopkins Center in Santa Fe, New Mexico. In der Stadt Cleveland etwa versuchte der republikanische Gouverneur von Ohio die Entscheidung der Stadtverwaltung, alle ungesunden Fette aus den Restaurants der Stadt zu verbannen, zu kippen – und scheiterte. Es blieb beim Bann. Die Entscheidung des Richters hatte weitreichende Konsequenzen: Es ist heute das Recht einer jeden Stadt, selbst über Verbote von einzelnen Lebensmitteln zu entscheiden.
Es ist heute das Recht einer jeden Stadt, selbst über Verbote von einzelnen Lebensmitteln zu entscheiden. Das Bundesland hat darauf keinen Einfluss, erklärt Winne. Er startete Anfang der 1990er-Jahre selbst einen Ernährungsrat in Hartford, Connecticut, und hat seitdem über 100 Initiativen in den USA, Kanada, Großbritannien und Australien begleitet. Seine Erfahrungen publizierte er in dem Buch »Closing the Food Gap«.
Köln und Berlin gehen voran
Auch in Deutschland beginnen sich die Lücken zu schließen. Ob in Oldenburg, Kassel, Münster, Hamburg, Dortmund, Dresden oder Frankfurt: In fast jeder größeren Stadt ist ein Ernährungsrat in Vorbereitung. Besonders aktiv ist der Ernährungsrat in Köln, mit dem die Berliner eng zusammenarbeiten. Er wurde schon einen Monat vor dem Berliner Rat, im März 2016, gegründet. »Wir müssen die Verbraucher wieder näher an die Lebensmittelproduktion rücken, entweder indem sie direkt bei den Bauern einkaufen, oder indem sie selbst zu Erzeugern werden, in Gärten und Gewächshäusern in der Stadt«, sagt der Dokumentarfilmer und Gründer des Kölner Ernährungsrates, Valentin Thurn. Mit seinen Filmen »Taste the Waste« und »10 Milliarden« sowie der Mitgründung der Initiative
In Köln legten 30 Bäuerinnen und Bauern, Stadtgarten-Initiativen, Gastronomen und Einkaufsgenossenschaften sowie 10 Vertreter aus derPohl und Thurn stellen das gängige Ernährungssystem infrage.
Stadtpolitik und der Stadtverwaltung den Grundstein für den Ernährungsrat. Er agiert als unabhängiges Gremium, Träger ist der eingetragene
Pohl, die ruhige, junge Frau, die nah dran ist an den sozialen Bewegungen, und der provokante Aktionskünstler Thurn, der das »Containern« salonfähig machte, beide stellen sie das gängige Ernährungssystem infrage und wollen die Agrarwende einläuten. Beide nutzen die Ernährungsräte als ein Gerüst, das die verschiedene Instrumente bündelt wie ein Schweizer Taschenmesser.
Ob die Ernährungsräte das richtige Mittel sind, muss sich erst zeigen. Die Nachhaltigkeits-Wissenschaftlerin Annelie Sieveking, die an der Leuphana Universität Lüneburg über Ernährungsräte promoviert, glaubt, dass die Ernährungsräte eine größere Durchschlagskraft entfalten können, weil »sie Gremien sind, die in der Regel breiter und langfristiger angelegt sind«, als bisherige Runde Tische. Ein Hoffnungsschimmer auf einen ersten, großen Erfolg kommt aus dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft:
Titelbild: Philipp Striegler - copyright