Wenn diese Idee Realität wird, empfangen Städte bald jeden Geflüchteten mit offenen Armen
Dabei geht es nicht nur um Geld, weiß Gesine Schwan.
Bevor die Münsteraner Ratsfrauen und -herren am Abend des 19. Septembers den herrschaftlichen Sitzungssaal mit den gotischen Fenstern betreten, müssen sie sich erst mal den Weg durch ein Spalier aus bunten Papierschiffchen, Plakaten und Demonstranten bahnen.
Manche der Amtsträgerinnen signalisieren mit verschwörerisch emporgestreckten Daumen in Richtung der Aktivisten schon jetzt, wie sie später abstimmen werden. Andere huschen mit eingezogenem Kopf schnellstmöglich vorbei.
Heute geht es im Rat der 300.000-Einwohner-Stadt um ein Thema, an dem sich die Politik zwischen Berlin und Brüssel seit Jahren aufreibt: die Aufnahme von Menschen auf der Flucht. Die Zuschauerränge im Sitzungssaal sind voll, nicht alle Interessierten finden noch einen Sitzplatz. Es darf vermutet werden: Das ist eine Ausnahmesituation für den Rat.
SPD und Linke wollten die Stadt heute dazu bewegen, ein Zeichen zu setzen. 100 (SPD) bzw. 200 (Linke) aus Seenot gerettete Menschen solle Münster zusätzlich und freiwillig aufnehmen – und sich damit in eine Reihe mit Städten wie Köln, Bonn oder Düsseldorf stellen. Deren Oberbürgermeister hatten bereits Mitte Juli
Unsere Städte können und wollen in Not geratene Geflüchtete aufnehmen – genauso wie andere Städte und Kommunen in Deutschland es bereits angeboten haben. Wir wollen uns gegen die vermeintlich herrschende Stimmung stellen, dass Zäune und Mauern statt eines gerechten europäischen Verteilsystems die Not der Geflüchteten lösen könnten. Wir wollen ein Signal für Humanität, das Recht auf Asyl und die Integration Geflüchteter setzen.
Doch nicht nur in Nordrhein-Westfalen machen Kommunen jetzt Druck von unten. In ganz Europa gibt es selbsternannte »Städte der Zuflucht« und der Solidarität. Dazu gehören
Das letzte Wort hat Horst Seehofer
An diesem Abend in Münster scheint ein breiter Konsens darüber zu bestehen, dass Münster die Kapazitäten hat, Menschen in Not zu helfen. Uneinig sind sich die Bürgervertreter aber in der Frage, wer Hilfshebel in Bewegung setzen kann, darf, soll. Bund und Länder, meinen die einen; zudem müsse eine europäische Einigung her. Die anderen meinen: Ohne Druck von unten bewegt sich auch oben nichts.
Wir können natürlich keine Bundesgesetze ändern, das ist auch nicht unsere Aufgabe im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung. Aber was wir natürlich tun können, ist dem Bund unsere Bereitschaft zur Aufnahme mitzuteilen. Neben dem praktischen Effekt geht es auch um ein politisches Zeichen.
Die Rechtslage ist eindeutig:
»Wir müssen vermeiden, dass es ein Präzedenzfall wird, dass wir jeden Tag oder jede Woche mit Schiffen zu tun haben, deren Flüchtlinge nach Deutschland gebracht werden sollen.« – Horst Seehofer, Bundesinnenminister
Dabei ging es ihm ganz bestimmt nicht darum, dass Deutschland die Aufnahme von Menschen auf der Flucht im Moment nicht stemmen kann. Um beim Beispiel Münster zu bleiben: Dort kamen im
Trotzdem endet der Abend im Stadtrat nicht mit einem klaren Signal. Die Mehrheit beschließt einen Antrag, der zwar eine grundsätzliche Aufnahmebereitschaft erklärt, aber an keiner Stelle konkret wird. »Es fehlt der politische Wille«, sagt Michael Jung, und schiebt gleich noch eine Vermutung hinterher: Die Angst vor der Kritik der AfD halte den politischen Diskurs gefangen – selbst in einer Stadt wie Münster.
Die Idee: Initiative von unten statt Quoten von oben
Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan wünscht sich, dass Städte und Kommunen gerade deswegen aktiver nach vorne gehen, wenn es um die Aufnahme von Menschen geht, die flüchten oder migrieren.
Gesine Schwan

Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin und Mitgründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform. Sie ist SPD-Mitglied und Vorsitzende der SPD-Grundwerte-Kommission. In den Jahren 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin.
Bildquelle: Gesine SchwanGinge es nach Gesine Schwan, würden sich Städte künftig um die Aufnahme von Menschen »bewerben« und im Gegenzug Fördermittel aus einem eigens eingerichteten EU-Fonds erhalten. Damit könnten beispielsweise Schulen oder Schwimmbäder renoviert werden – alteingesessene und neue Bewohner würden gleichermaßen profitieren. Das wichtigste Stichwort: Freiwilligkeit. Kommunen sollten von sich aus die Initiative ergreifen können, diese aber unbedingt in der Bevölkerung verankern, meint die Politologin.
In Multi-Stakeholder-Beratungsgruppen sollten städtische Verwaltung, Bürgermeister und Abgeordnete mit Gewerkschaften, der Kirche, Bürgerinitiativen, Flüchtlingsinitiativen und Unternehmen sprechen. Wenn man die Diskussion breit anlegt, dann ist die Aufnahme von Flüchtlingen etwas ganz anderes, als wenn von oben herab ein Kontingent zugeteilt wird.
Gesine Schwan schlägt eine Art Matching-System vor, das Bedürfnisse der Kommunen mit Interessen von Geflüchteten abgleicht. Berücksichtige man sowohl Faktoren wie verfügbaren Wohnraum, Arbeits- und Ausbildungsplätze als auch die berechtigten Wünsche der Zuwanderer – zum Beispiel danach, dorthin zu gehen, wo schon andere Familienmitglieder leben – dann könne Integration viel besser gelingen. Und zwar gleich auf mehreren Ebenen: Auch die Identifikation der Bürger mit der EU würde gestärkt, wenn deutlich wäre, dass Gelder für Aufnahmeinitiativen direkt aus Brüssel fließen.
Aber woher sollen die Mittel für diesen Fonds kommen? Schwan verweist auf den
Ohne die Nationalstaaten geht es nicht, das sieht auch Gesine Schwan. »Die rechtliche Kompetenz der Nationalstaaten verbietet es, dass man einfach durch kommunale Aktivitäten regierungsamtliche Entscheidungen unterläuft.« Es habe sich aber in den vergangenen 3 Jahren gezeigt, dass alle verpflichtenden Verteilungsschlüssel in der EU versagt hätten. Ein besonders großes Problem sei die mangelnde Solidarität von Ländern wie Deutschland mit den Ländern, in denen Geflüchtete ankommen.
Wir brauchen eine dezentrale Ansiedlung, die verlässlich ist. Aber sie muss freiwillig erfolgen. Man wird die polnische, ungarische oder auch die österreichische Regierung
Die mögliche Lösung:
Warum sollte das nach Jahren des Quotenstreits in der EU auf einmal funktionieren? Gesine Schwan setzt auf die Einsicht, dass Rechtspopulisten und Verfechter illiberaler Demokratien ihren Einfluss gerade daraus ziehen, dass es bislang keine tragfähigen Konzepte für
»Wer sich für ein demokratisches Europa verantwortlich fühlt, der muss jetzt schnell eine Lösung finden, bei der die Bürgerinnen und Bürger erfahren: Sie können mitbestimmen.« – Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin
Brücken schlagen zwischen Bürgern und Brüssel
Brücken zu bauen zwischen den
Städte und Kommunen erheben bislang erst vereinzelt ihre Stimme, oder – wie im Fall Münster – eher verhalten. Es gibt aber auch andere Beispiele: So nahm die Stadt Altena im Sauerland mehr Geflüchtete auf,




Gesine Schwan hält seit einigen Jahren unermüdlich Vorträge über ihren Vorschlag und versucht, eine Kampagne der Städte auf den Weg zu bringen. Ihr erstes Ziel: die derzeit noch unübersichtliche
Denn eines ist klar: Ohne die Städte geht es nicht. Hier leben am Ende Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zusammen, egal auf welcher Seite der politischen Grabenkämpfe sie sich verorten. Hier wird schon jetzt jeden Tag pragmatisch festgestellt, ob Ingenieurinnen,
Aber Städte können noch mehr.
Während in vielen europäischen Staaten auf nationaler Ebene in den letzten Jahren die Asyl- und Migrationsgesetzgebungen laufend verschärft und Grundrechte eingeschränkt wurden […], zeigt sich in Städten oft eine liberalere Haltung in Bezug auf Migration. Städte sind seit jeher Orte der Migration und auch der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Migration. Städte bergen das Potenzial, ›dass die unterschiedlichen Vielen sich als Gleiche begegnen‹.
Unter dem Schlagwort Urban Citizenship (deutsch: urbane Bürgerschaft) wird nun auch darüber diskutiert, Bürgerrechte lokal zu verankern. Der Gedanke dahinter: Könnte Zugehörigkeit nicht auf anderen Kriterien als der Nationalität beruhen – etwa dem Wohnort und der Teilhabe an der Gesellschaft dort?
Im Stadtrat von Münster werden an diesem Abend im September die Verantwortlichkeiten erst mal weitergeschoben, nach Berlin, nach Brüssel. Das ergibt schon Sinn, es folgt ja der Rechtslage. Aber: Politischen Lösungen für die großen Fragen, die uns alle angehen, kommen wir dadurch auch nicht näher.
Titelbild: Adrian Szymanski - copyright