Russland für die Westentasche
Russland = Moskau = Kreml = Putin? Wenn es um das flächenmäßig größte Land der Erde geht, wird häufig zu stark vereinfacht. Dieses Modell wird dir helfen, Russland besser zu verstehen.
»Ukraine-Krise«, »NATO-Stationierungen«, »Propaganda«, »Putin-Trump-Connection« – in den Medien schwirrt es derzeit nur so von Schlagwörtern zum Thema Russland. Lange verdrängt von Finanzkrise und Arabischem Frühling, ist Russland wieder aufgetaucht auf dem Radar Europas und damit auch die Frage: Wie umgehen mit dem Land? Wie sich positionieren, welche Nähe, welche Distanz zu Russland suchen? Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Und das ist kein Wunder, denn Russland ist noch immer ein weißer Fleck im (west-)europäischen Bewusstsein.
Oft mangelt es selbst an den einfachsten Anhaltspunkten, wie sie in Bezug auf andere Länder selbstverständlich sind: Nie würde man über Indien debattieren, ohne Multiethnizität und Kastensystem in Anschlag zu bringen oder über Südafrika, ohne das Verhältnis zwischen Weiß und Schwarz und die Geschichte der Apartheid. Doch wenn es um den großen Nachbarn im Osten geht, dann begnügen sich viele pauschal mit: »Russland«. Oder gleich überhaupt mit: »Putin«.
Was zu Russland fehlt, ist ein vielleicht primitives, aber dennoch aussagekräftiges Minimalmodell des Landes. Keine Schneekugel vom Souvenirstand mit Matrjoschaks und Zwiebeltürmen, sondern ein handlicher, sorgfältig zusammengefügter Mechanismus, der zeigt, wie das Land tickt – ein Russland für die Westentasche. In diesem Text wird ein solches Modell vorgestellt. Dieses vereinfachte Modell beschränkt sich auf 3 zentrale Komponenten: Macht, Volk und Intelligenzija. Die wichtigste Komponente dieses Modells ist die Macht, die die anderen beiden Komponenten maßgeblich beeinflusst.
1. Macht – власть
Die Macht umfasst wesentlich mehr als nur das, was wir die Regierung nennen würden. Der Begriff Macht – auf Russisch Wlast – steht für ein Netzwerk der Bestimmungshoheiten, der Einflussnahmen, ja oft genug auch der Gewalt, das sich durch die Institutionen und durch die Gesellschaft hindurchzieht und dessen Grenzen kaum genau zu bestimmen sind.
Natürlich spielen staatliche Organe für die Macht eine große Rolle: die überaus mächtige
Die allgegenwärtige russische Macht hat ihre Vorläufer in der absoluten Macht des
Auch sprachlich gesehen hat Wlast einen ganz anderen Rang als das deutsche Macht. In Russland taucht das Wort auch im Alltag häufig auf, man sagt etwa: »Im Inneren der Macht geht etwas vor, die Macht tut etwas, verhindert etwas, über die Ziele der Macht kann man nur mutmaßen.« Oft klingen diese Redewendungen wie Beschwörungen einer spukhaften Instanz aus den Romanen von Orwell oder Kafka – Autoren, mit deren Welten die gegenwärtige russische Wirklichkeit von kritischen Intellektuellen immer wieder
Ein Beispiel: Der Film »Leviathan«
Das Drama eines Menschen, der gegen die Macht kämpft, zeigt der Oscar-nominierte Film
»Du hast nie irgendwelche Rechte gehabt«, bekommt Nikolai von seinem Widersacher während eines vor Alkohol und Brutalität triefenden Show-Downs ins Gesicht geschrien, »und wirst nie welche haben!« Nikolai erliegt dem Druck, sein Haus wird abgerissen und an dessen Stelle eine Kirche erbaut, die der örtliche Geistliche mit einer patriotisch-moralisierenden Predigt weiht. Nikolai wird ins Straflager geschickt für einen Mord, den es nicht gegeben hat – die Macht hat ihn beiseite gewischt.
Der Film hat in Russland stark polarisiert. Aussagen von Kinobesuchern wie
2. Volk – народ
In einer Nebenszene repariert Nikolai – von Beruf Automechaniker – den Einsatzwagen des Kommandanten der örtlichen Verkehrspolizei, ohne dafür eine Bezahlung erwarten zu können. Er arrangiert sich mit der Macht, dort, wo er ihr nicht aus dem Weg gehen kann. Solange nicht die Existenz bedroht ist, ist das die Devise für jeden, der sich
In Russlands Feudalgesellschaft war das Volk – Narod – von der herrschenden Klasse durch unüberbrückbare Standesunterschiede getrennt. Der Besitz von Menschen – meist Bauern, aber auch Dienstpersonal – wurde erst 1861 abgeschafft, die rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen für eine wirkliche Emanzipation wurden jedoch nicht gelegt. Mit der
Eine Zivil- oder Bürgergesellschaft wie im Westen hat sich in Russland im 20. Jahrhundert nie entwickeln können. Diese entsteht erst – sehr zögerlich – seit dem Ende der UdSSR, mit dem Aufkommen einer neuen Mittelschicht in den großen Städten. Das Volk als die Gruppe derer, die ihre Rechte nur bedingt ausüben können und die politische Fragen wie selbstverständlich der herrschenden Macht überlassen, ist in Russland weiterhin ganz und gar präsent.
Der ungeschriebene Vertrag zwischen Macht und Volk
Umfragen besagen, dass 86% der russischen Bevölkerung den Kurs des Kremls unterstützen. Auch wenn die Zahl selbst mit Skepsis zu genießen ist – woher stammt diese zweifellos existierende, große Zustimmung zu Putin? Bringt sie ein politisches Urteil der Bürger zum Ausdruck? Nur bedingt. Die Zahl ist vor allem ein Ausdruck der Loyalität mit der Macht, die lange Zeit in erster Linie wirtschaftlich begründet war.
Der ungeschriebene
Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise in den Jahren 2009/10 geriet dieses »Abkommen«, dessen Grundlagen Einnahmen aus dem
Patriotismus und Außenpolitik
Seitdem wird der Patriotismus systematisch weiter genährt. Die staatlich kontrollierten Medien, allen voran das Staatsfernsehen, bauen
Auch in der Außenpolitik hat die Macht die Weichen neu gestellt. Patriotismus im Inneren kann nur gedeihen vor dem Hintergrund äußerer Konflikte, die daher entweder provoziert oder, wenn sie aus anderem Grunde entstanden sind, doch zumindest gezielt am Köcheln gehalten werden. Das jüngste und dramatischste Beispiel ist der Ukraine-Konflikt. Es zeigt sich: Das Außenpolitische in Russland ist gerade in den letzten Jahren immer auch innenpolitisch motiviert, aus dem spezifischen Verhältnis zwischen Macht und Volk heraus, das je nach Situation in immer neue Formen gegossen werden muss.
3. Intelligenzija – интеллигенция
Macht und Volk – dies sind die beiden großen Komponenten des simplen Russland-Mechanismus. Es fehlt aber ein drittes Element, damit das Modell beginnt, lebensecht zu ticken – oder doch zumindest so lebensecht, wie man es von einer derart vereinfachten Apparatur erwarten kann: die russische Intelligenzija.
Im Sommer und Herbst 1922 legten mehrere Schiffe von Sankt Petersburg (damals Petrograd) ab. Ihr Ziel: Deutschland. An Bord waren rund 200 Schriftsteller, Ärzte und Wissenschaftler, die
Die Verfolgung der Intelligenzija hat in Russland Tradition. Im Zarenreich erwartete ihre Vertreter oft die Todesstrafe – viele »Intelligenzler« vertraten sozialistische Ideen und waren revolutionär gesinnt. Doch auch in der Sowjetunion ließ der Druck auf die Intelligenzija nicht nach. Unter Stalin wurden missliebige Schriftsteller oft beim geringsten Anlass (eine unbedachte kritische Bemerkung im privaten Kreis konnte genügen) in Straf- und Arbeitslager geschickt – ein Schicksal, das unter anderem
Die russische Intelligenzija fällt nicht zusammen mit dem, was wir im westlichen Sinne »die Intellektuellen« nennen würden. Unter unseren Intellektuellen – also Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, die am öffentlichen kulturellen und politischen Diskurs teilnehmen – lassen sich vermutlich so viele persönliche geistige Projekte finden, wie es Intellektuelle gibt. Die Vertreter der russischen Intelligenzija hingegen eint – bei aller Vielfalt innerhalb des Milieus, allen Unterschieden voneinander, allen Streitereien untereinander – ein gemeinsames Programm: Sie sind gegen die Macht.
Die Geschichte dieses intellektuellen Widerstands ist lang und verworren. Doch es gibt Motive, die in ihr immer wiederkehren: die Ideale der Freiheit und der Gerechtigkeit, eine säkulare Grundeinstellung oder wenigstens doch eine, die das Religiöse als eine individuelle Angelegenheit betrachtet, und ein Drängen auf Fortschritt, um die empfundene Rückständigkeit Russlands endlich zu überwinden. Die Herkunft dieser Ideen aus der europäischen Aufklärung liegt auf der Hand, und in der Tat wurde der Intelligenzija ihre »Verwestlichung« von Seiten der Macht und auch des Volks immer wieder vorgeworfen – und wird es heute wieder. In den vergangenen 10 Jahren haben erneut zahlreiche russische Intellektuelle das Land verlassen, aus freien Stücken, vor allem nach Israel oder nach Deutschland.
Kann die Intelligenzija etwas bewirken?
Immer wieder ist den Bemühungen der russischen Intelligenzija Wirkungslosigkeit vorgeworfen worden und in der Tat ist ein beträchtlicher Teil der von ihr aufgebrachten
Gerade in den Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution 1917 sind viele Vertreter der Intelligenzija gezielt
Aber auch in der russischen Medienlandschaft ist die Intelligenzija sehr aktiv. Zwar ist ein Großteil der russischen Medien, vor allem das allmächtige Staatsfernsehen, vom Staat kontrolliert und gehört damit fest zum Faktor Macht. Neben dem Staatsfernsehen gibt es jedoch auch einen kleineren Sektor von unabhängigen Medien, vor allem im Online-Bereich, die eng mit dem Milieu der Intelligenzija verbunden sind. Relativ junge Beispiele sind das Kulturmagazin
Im Westen sind diese
Modell und Wirklichkeit
Macht, Volk und Intelligenzija sind keine Kasten wie in Indien, sie sind auch keine US-amerikanischen Parteien oder klar voneinander abgegrenzte »Klassen«. Man wird sie in Russland in Fleisch und Blut nicht finden. Sie sind Schablonen, die man auf die Gesellschaft auflegen kann, um Strukturen in ihr zu entdecken. Prototypen, die
Was die Macht betrifft, so befinden sich ihre verschiedenen Vertreter oft in Konkurrenz, sogar
Offene Arme …
Versucht man, sich in Sachen Russland zu orientieren, so bieten sich 2 gegensätzliche Positionen an. Die eine setzt auf Nähe und Partnerschaft, die andere auf Abwehr und Distanz. Bei all seiner Primitivität kann das Modell aus Macht, Volk und Intelligenzija sehr nützlich dabei sein, beide Alternativen zu durchleuchten.
Die erste Position folgt dem Impuls, die Hand zu reichen. Sie meint: Gerade der weltpolitisch selbst so vielfach belastete Westen sollte sich Russland nicht mit dem Instrumentarium des Drohens und Strafens nähern, sondern mit dem der Offenheit und der Kooperation. Dann, so ist die Hoffnung, wird auch das verschwinden, was uns derzeit als russische Aggressivität erscheint. Es geht darum, auf die Gemeinsamkeiten zu setzen: Es gibt so viel, was wir mit Russland gemein haben, so viele Überlappungen in der Kultur, in der Geschichte.
Sicher, Verständigung ist die Grundlage jeden Zusammenlebens. Doch muss man sich die Frage stellen, von welchem Russland hier die Rede ist. Die Kultur jedenfalls, die uns Europäern so nah ist, wurde zum weitaus größten Teil nicht vom Russland der Macht hervorgebracht, sondern vom Russland der Intelligenzija – wobei die Rolle des Volkes, auf das die Intelligenzija einwirken wollte oder von dem sie inspiriert wurde, nicht zu unterschätzen ist.
Streckt man dann aber nicht einem dieser beiden, sondern der Macht die Hand hin, dann kann die Reaktion anders ausfallen als erwartet. Denn man hat es dann zu tun mit einer Instanz, bei der rationales Kalkül und technokratischer Pragmatismus sich vermischen mit oft geradezu phantastischen Ideologien der
Russland kann eben nicht gleichgesetzt werden mit dem Russland der Macht – ein Unterschied, den man allzu leicht aus dem Blick verliert. Auch die Brandtsche Ostpolitik, ohne Zweifel ein gelungenes Beispiel der internationalen Verständigung, war keine einseitige Politik der offenen Arme, ihre Devise lautete: Wandel durch Annäherung. Einen Wandel durch Einwirkung von außen hervorrufen zu wollen, ist aber in der derzeitigen Situation kaum realistisch.
… vs. militärische Bollwerke
Bedingungslos dem Bedürfnis nach guter Verständigung nachzugeben, führt also schnell zu einem heftigen Zusammenprall mit der Realität. Doch auch die Gegenposition geht für sich genommen nicht auf. Russland, so hört man ja nicht weniger oft, muss eingedämmt werden, ja sogar abgewehrt. Die jüngsten Stationierungen von NATO-Truppen in den baltischen Staaten und in Polen folgen – bisher Extreme weitgehend vermeidend – dieser Strategie.
Einerseits natürlich ist die Logik zwingend: Auf die Aggressionen, die etwa die Ukraine erfahren hat, nicht zu reagieren, wäre falsch. Zudem gibt die sowjetische Geschichte,
Doch andererseits: Sich auf ein geopolitisches Kräftespiel wie im 19. Jahrhundert einzulassen, liefert dieser Macht die ideale Bestätigung ihrer Idee der »vom Westen belagerten Festung«. Dies gibt der aggressiven Stimmung weitere Nahrung und zementiert damit den Mechanismus des innerrussischen patriotischen Gesellschaftsvertrags, von dem oben die Rede war. Gerade diejenigen Strömungen innerhalb der russischen Macht, mit denen eine Verständigung am wenigsten möglich ist, werden so gestärkt. Mit der Hoffnung, es könne sich langfristig eine friedliche, kooperative, globale Zivilisation unter Teilhabe Russlands entwickeln, lässt sich das
Dabei ist die Frage, inwiefern für die osteuropäischen Länder von Russland derzeit überhaupt eine konkrete Bedrohung ausgeht, alles andere als geklärt.
Fazit – итоги
Die Lage, zeigt sich, ist kompliziert. Egal ob wir Außenpolitiker sind oder einfach interessierte Bürger, die sich eine Meinung bilden wollen – wir können uns nicht mit pauschalen Ideen über das eine Russland begnügen. Was auch immer wir hier bei uns tun – ob wir Sanktionen verhängen oder aufheben, Truppen stationieren oder abrüsten, ja selbst die Wortwahl in der diplomatischen Rhetorik – alles wirkt sich auf das ganze System von Macht, Volk und Intelligenzija in Russland aus (und natürlich noch auf sehr viel mehr, von dem hier nicht die Rede sein konnte). Bei jedem durchgespielten Szenario muss daher das ganze System im Blick bleiben.
Weder den Apologeten einer Verständigung um jeden Preis noch den Verfechtern einer rigorosen Abschreckung, weder den
Titelbild: David Ehl - copyright