Brich die Regeln!
Wenn uns Demokratie am Herzen liegt, brauchen wir zivilen Ungehorsam. Wann ist es okay, das Gesetz zu brechen?
Was hinter diesen verschlossenen Türen geschieht, bekommt normalerweise nur mit, wer hier arbeitet. Und eigentlich will auch niemand so wirklich sehen, was in manchen Ställen und Schlachthöfen vor sich geht. Die Schmerzensschreie von Rindern und Schweinen, das dumpfe Geräusch der Bolzenschussgeräte – von alldem kriegt der Endverbraucher wenig mit, wenn er genussvoll
Manche Menschen wollen Licht ins Dunkel bringen. Aktivisten filmen immer wieder Verstöße gegen das Tierschutzgesetz mit versteckter Kamera, ohne dass die Betreiber der Höfe davon wissen. Organisationen wie Animal Rights Watch
Für die Erstellung von Filmaufnahmen werden Wirtschaftsgebäude ohne Zustimmung der Eigentümer betreten. Dazu werden jedoch weder Türen noch Fenster aufgebrochen, nichts wird verändert oder beschädigt. Rechtlich entspricht dies einem milden Hausfriedensbruch.
Aber das Schocker-Material, das sie aus Ställen und Höfen mitbringen, rechtfertigt in ihren Augen die Mittel. Es sorgt für Aufmerksamkeit, wird von den Medien aufgegriffen. Dank ihrer Bilder können Verstöße gegen das Tierschutzgesetz geahndet, Behörden und Verbraucher sensibilisiert werden.
Eine lebendige Demokratie braucht Bürger, die ihre Regeln auf den Prüfstand stellen
Das Argument der Aktivisten: All das, vor allem aber das »Recht der Tiere auf ein Leben ohne Qual und Bedrängnis«, sei wichtiger als das Hausrecht der Anlagenbetreiber und deren wirtschaftliche Interessen. Nach dem Selbstverständnis vieler Tierrechtler ist das heimliche Filmen ein Akt »zivilen Ungehorsams«.
Ohne solche Akte würde unsere Demokratie sehr schnell in einer Sackgasse stecken. Denn eine lebendige Demokratie braucht Bürger, die ihre Regeln immer wieder auf den Prüfstand stellen, indem sie bereit sind, Regeln auch mal zu brechen.
Du hast Thoreau gelesen und kennst schon die wichtigsten historischen Beispiele zivilen Ungehorsams?
Dann lies hier eine kürzere Version des Textes!
Von Henry David Thoreau bis Rosa Parks – eine kurze Geschichte des Ungehorsams
Das fand auch ein trotziger US-Amerikaner, der im Jahr 1846
Klar, der elfte US-Präsident James K. Polk war
»Anders als jene, die sich Anarchisten nennen, wünsche ich nicht eine sofortige Abschaffung, sondern eine sofortige Besserung der Regierung« – Henry D. Thoreau, Schriftsteller
Thoreaus Manifest
Was angesichts der kolonialen Unterdrückung nebensächlich klingen mag, war in Wirklichkeit essenziell: Gerade im heißen Klima Indiens braucht der Körper Salz, um Elektrolytverluste auszugleichen.
Gandhi machte sich also auf, die ungerechte Abhängigkeit zu beenden. Von seinem Ashram in Ahmedabad marschierte er knapp 400 Kilometer an das arabische Meer nach Dandi, zunächst mit einer Handvoll Mitstreitern, unterwegs schlossen sich ihnen Zehntausende an. Am Meer angekommen hob Gandhi einige Salzkörner vom Strand auf und erklärte:
Hiermit rüttele ich an den Grundfesten des britischen Imperiums!
Die indische Bevölkerung begann daraufhin überall im Land das britische Monopol zu brechen, stellte selbst Salz her und verkaufte es steuerfrei. Die Menschen hatten damit angefangen, sich gegen ungerechte Regeln zu wehren; der massenhafte Ungehorsam brachte die Kolonialmacht Ende der 1940er-Jahre schließlich ganz zu Fall.
Und ein letztes Beispiel für die bisweilen stille Kraft zivilen Ungehorsams: Am 1. Dezember 1955 weigerte sich eine 42-jährige Frau – freundliches Gesicht, randlose Brille, von Beruf Schneiderin –, ihren Platz im Bus für einen anderen Fahrgast zu räumen. Der Busfahrer rief die Polizei, die Schneiderin wurde angeklagt. Was war das Problem?
Rosa Parks war schwarz. Die Reihe, in der sie saß, war für Weiße reserviert. Ihrer Verhaftung folgte der
Ein Steuerhinterzieher mit Gewissen, der anti-kolonialistische Revolutionär und eine unscheinbare Schneiderin, die es satt hatte, ständig Platz machen zu müssen – was haben ihre Handlungen gemeinsam?
Du willst doch lieber noch mal nachlesen?
Dann klicke hier!
Wann es okay ist, das Gesetz zu brechen
Wenn heute von zivilem Ungehorsam die Rede ist, dann meist im Sinne des amerikanischen Philosophen John Rawls. Seine Definition ist auf die liberalen Demokratien des 20. Jahrhunderts zugeschnitten und stellt klare Kriterien dafür auf, wann Ungehorsam in der »fast gerechten Gesellschaft« legitim ist – und wann man sich besser fügen sollte, um das gemeinsame Ganze nicht zu gefährden.
Ziviler Ungehorsam ist eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll.
Ein wichtiger Punkt für Rawls: Beim zivilen Ungehorsam kann es nicht
In Deutschland ist diese gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung im Grundgesetz verankert. Darüber hinaus könnte man auch mit einem
Denkt man ihren Gedanken weiter, ist ziviler Ungehorsam immer dann legitim, wenn er das Gemeinwohl im Blick hat. Damit wären Rechte und Rechtsextreme natürlich raus. Wer zum »Widerstand gegen Flüchtlinge« aufruft und das als zivilen Ungehorsam labelt, will die Rechte einer anderen Gruppe einschränken – welche Motive auch immer hinter Forderungen nach Abschottung stecken, Grundlage einer gerechten Gesellschaft können sie sicher nicht sein.
Allerdings gibt Rawls auch Folgendes zu bedenken: Ist eine Gesellschaft so tief gespalten, dass es keine geteilte Gerechtigkeitsvorstellung mehr gibt, fehlt die Grundlage für zivilen Ungehorsam. Davon kann aber in Deutschland und Europa keine Rede sein. Laut einer
»In einer gespaltenen wie auch in einer von Gruppenegoismen beherrschten Gesellschaft sind die Voraussetzungen für zivilen Ungehorsam nicht erfüllt« – John Rawls, Philosoph
Für Philosophen wie John Rawls und Hannah Arendt ist ziviler Ungehorsam ein letztes Mittel im Kampf gegen eine Ungerechtigkeit, das immer dann angebracht ist, wenn »gewöhnliche Appelle« an die Regierung gescheitert sind.
Wenn Petitionen und Demonstrationen
Gerechtigkeit muss immer neu erkämpft werden
Dass der Klimawandel menschengemacht ist und es dringend Maßnahmen braucht, die für eine deutliche Reduzierung der CO2-Emissionen sorgen, ist in der Wissenschaft und der Öffentlichkeit unstrittig. […] Doch die Politik übt sich in Sonntagsreden mit inhaltsleeren Zielvereinbarungen für Ende des Jahrhunderts und legt gleichzeitig die Grundsteine für zusätzliche Emissionen. […] Ja, Ende Gelände ist nicht vom Gesetzbuch gedeckt, aber angesichts dieser Politik absolut legitim und notwendig.
Im Fall der Klima-Aktivisten ist es nicht allzu schwer, Argumente zu finden, die ihren Ungehorsam legitimieren,
Trotzdem mussten sich Umweltaktivisten für Blockaden und Besetzungen schon in vielen Fällen vor Gericht verantworten. John Rawls würde sagen: Das ist auch gut so. Denn mit zivilem Ungehorsam sollte immer die Bereitschaft einhergehen, die Konsequenzen zu tragen.
Tierrechte und Klimaschutz sind nur 2 Beispiele für Fragen der Gerechtigkeit, die sich im 21. Jahrhundert stellen. Und auch die Arena des Protests ist größer geworden: Ziviler Ungehorsam findet heute immer häufiger im Netz statt.
Ziviler Ungehorsam online
Theresa Züger arbeitet am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin und hat
Sie meint: Die Definition von Rawls reicht längst nicht aus, um das Potenzial zivilen Ungehorsams zu erfassen. Um zu verstehen, wie ziviler Ungehorsam Demokratie besser machen kann, müssen wir uns anschauen, wo und wie er im 21. Jahrhundert stattfindet.
- Auf Blogs, bei sozialen Medien und überall dort, wo kommuniziert wird: Wenn sich ein Anwalt
- Mit Störungen des Systems und »Hacktivismus«: Auch Hacker können die Demokratie voranbringen, wenn sie aufzeigen, welche Schwachstellen für Bürger gefährlich werden können, erklärt Theresa Züger: »Ein verständliches Beispiel ist der
- Durch eigenmächtiges, ungehorsames, aber konstruktives Handeln im Netz: Whistleblower wie Edward Snowden oder Entwickler von Verschlüsslungstechnologien wie Phil Zimmermann fallen für Theresa Züger in eine dritte Kategorie digitalen Ungehorsams. Sie können politische Verhältnisse verändern, indem sie mit ihrem Tun politisches Handeln erst ermöglichen, zum Beispiel weil sie für Bürgerinnen eine neue Informationsgrundlage schaffen oder verschlüsselte Kommunikation in der Zivilgesellschaft möglich machen.
Ziviler Ungehorsam ist ein sehr wichtiges Instrument für eine lebendige Demokratie, weil Rechtssysteme in sich selbst gar nicht die Möglichkeit haben, sich in dem Maße zu erneuern, wie es in allen Demokratien, die immer auch Defizite haben, notwendig ist.
In einer immer weiter digitalisierten Welt brauchen wir also neue Formen zivilen Ungehorsams, um die Spielregeln auf den Prüfstand zu stellen.
Aber wir brauchen auch Kriterien dafür, wann es okay ist, die Regeln zu brechen. Damit wir keine Gesellschaftsordnung sprengen, die sicher nicht perfekt ist – aber bis jetzt die beste, die wir kennen.
Titelbild: Ende Gelände - gemeinfrei