Meine Krankheit kennt jeder. Aber du ahnst nicht, was ich wirklich durchmache
Wie Millionen anderer Menschen lebe ich mit Migräne. Was die Gesellschaft über uns wissen sollte.
Ein ganz normaler Freitagnachmittag.
Die Kinder kommen gerade aus Schule und Kindergarten zurück, bis eben habe ich im Halbschlaf auf dem Sofa vor mich hingedämmert. Mein Kopf pocht zuverlässig im Halbsekundentakt. Trotzdem bereite ich jetzt das Mittagessen vor. Es muss schnell gehen, also gibt es Nudeln. Der Früchteteebeutel von heute Morgen stinkt bestialisch nach Terpentin und mir wird erneut übel. Ich muss mich abstützen. Die beiden Jungs streiten, jeder ihrer Rufe bohrt sich wie ein spitzer Holzpflock in meinen Kopf. Während ich nach der Nudelpackung krame, werden die grauen Schleier vor meinen Augen zu dunklen Scheuklappen. Der Topf mit Wasser steht auf der Herdplatte. Als ich die Hand ausstrecke, um den Herd einzuschalten, zögere ich. Ich habe keine Ahnung, welchen Knopf ich drücken muss.
Ein ganz normaler Freitagnachmittag in meinem Leben. Meinem Leben mit Migräne.
»Ich fühle mich wie nach einem Flächenbrand.«
Manchmal werde ich gefragt, wie sich das anfühlt: Migräne. In den Medien begegne ich oft dem Bild eines Kopfgewitters. Dem möchte ich jedes Mal laut widersprechen. Denn nach einem Gewitter atmet die Natur auf, schüttelt den Regen von den Blättern und wirkt erfrischt. Nach einem Migräneanfall bin ich alles andere als erfrischt. Ich fühle mich eher wie nach einem Flächenbrand.
Los geht es aber ganz anders.
Der Flächenbrand in meinem Kopf
Ich bin in Hochstimmung; alles scheint zu gelingen. Mit mir selbst und der Welt zufrieden vertilge ich einen Schokoriegel. Den dunklen Rauch am Horizont sehe ich nicht.
Meine Migräneanfalle beginnen oft mit
Kleine schwarze Ascheflocken tanzen vor meinen Augen, im Augenwinkel sehe ich grelle Glutfunken. Um mich herum ist es hell, laut und heiß, das Feuer – dessen Rauch ich bis eben ignoriert habe – ist plötzlich zum Greifen nah.
»Zum Weglaufen ist es zu spät. Um mich herum tobt die Feuerhölle.«
Lichtblitze, schwarze Flecken, Sichtfeldeinschränkungen: Die
Zum Weglaufen ist es zu spät. Um mich herum tobt die Feuerhölle. Es ist unerträglich heiß und laut, ich bekomme keine Luft mehr. Ich warte, halte aus.
Der Migräneanfall erreicht seinen Höhepunkt und damit die Phase, die von Außenstehenden als »der Migräneanfall« wahrgenommen wird.
Das Feuer zieht vorbei. Es wird eine Weile dauern, bis die Verbrennungen abgeheilt sind. Das Atmen fällt noch schwer, die Augen tränen, gereizt vom beißenden Rauch.
Die Erholungsphase nach einem Anfall dauert bis zu 3 Tage, während derer Seh-, Sprach- und Wortfindungsschwierigkeiten genauso »normal« sind wie eine
Was ist Migräne?
Welche Symptome – außer den Kopfschmerzen – gibt es?
Was löst einen Migräneanfall aus? Auch hier gilt: Die Auslöser, sogenannte Trigger, eines Anfalls sind so individuell wie dessen Ausprägung und Verlauf. Stress, ein veränderter Tagesablauf oder
Was passiert nach einem Anfall? Jedem Anfall – der wie oben beschrieben mehrere Tage dauern kann – folgt eine mehr oder weniger ausgeprägte Phase der
Nun gut, Krankheiten gibt es viele und »schön« sind sie nie. Was aber, wenn
Wir brauchen eine Migränelobby
Migräne hat eine fast so hohe
Trotzdem fließt bisher verhältnismäßig wenig Geld in die Erforschung von Ursachen und Behandlung. In den USA beispielsweise investieren die Nationalen Gesundheitsinstitute (NIH) gerade einmal 22 Millionen US-Dollar in die Migräneforschung; für Asthma sind es
Um herauszufinden, warum das so ist, spreche ich mit Markus Dahlem. Der Physiker erforscht Migräne seit über 20 Jahren und kennt viele Gründe für die missliche Lage seines Forschungsgebiets. Im Gespräch verrät er mir die 4 wichtigsten:
Grund 1: »Migräne ist für Ärzte unattraktiv!«
Für Migräne gibt es keine apparative Diagnostik, deswegen kann der Neurologe keine teuren Untersuchungen machen. Er muss mit dem Patienten reden, er muss eine gute Anamnese machen.
Eine Migräne ist – auch aufgrund der vielfältigen Symptome – nicht leicht zu diagnostizieren. Im ärztlichen Alltag bedeutet das: Erst wenn mithilfe neurologischer Untersuchungen andere Erkrankungen wie Schlaganfall oder Meningitis ausgeschlossen sind, bleibt als Diagnose die Migräne. Für die Mediziner ist eine solche – möglicherweise unsichere – Ausschlussdiagnose mitunter unbefriedigend. Denn eine eindeutige Therapieempfehlung benötigt eine eindeutig diagnostizierte Erkrankung. Die Diagnose »Migräne« hingegen ist schwammig und schlecht greifbar. Das bringt Markus Dahlem zu Grund 2:
»Migräne wird im Medizinstudium vernachlässigt!«
Migräne kommt im Medizinstudium nur ein paar Minuten vor. Das ist ein klassisches akademisches Problem. Kein Neurologe wird mit dem Thema Kopfschmerzen Universitätsprofessor oder Leiter einer Uniklinik. Schlaganfall, multiple Sklerose, Epilepsie – das sind die neurologisch harten Themen.
Und wenn wir schon bei harten Themen sind, landen wir schnell bei Grund 3:
»Migräne galt lange Zeit als Frauenproblem!«
Betroffen waren vor allem
»Den Entscheidern fehlt die Perspektive der Migräniker!«
Migräne wird im Alter meist besser. Etwas zugespitzt gesagt sind Migränepatienten also hauptsächlich junge Frauen. Gleichzeitig entscheiden aber genau die nicht über Lehrstuhlbesetzungen, sondern meist ältere Männer. Und die fördern eher für sie greifbare Dinge wie beispielsweise die Erforschung von Schlaganfällen.
Die fehlende Lobby zieht sich also wie ein roter Faden durch das gesamte Spektrum der Medizin, von der Forschung bis zur Lehre – und hört dort nicht auf: Dieser rote Faden reicht bis in die Mitte der Gesellschaft. Mangelndes Verständnis und fehlende Anerkennung der »Kopfschmerz-Krankheit« erschweren das Leben für Betroffene und ihre Umwelt zusätzlich.
Migräne stiehlt Lebens- und Arbeitszeit
Meine Migräne und ich kennen uns schon seit über 25 Jahren und sie hat mich auf etliche Familienfeiern begleitet, ist mit mir in den Urlaub und auf Konferenzen gefahren. Manchmal aber schließt sie mich ein und wir verbringen ein paar Tage zu zweit. Das sind dunkle, verlorene Tage. Tage, an denen mein Partner mein Leben für mich mitleben muss, weil sich die Welt weiterdreht, dort draußen außerhalb des Flächenbrandes in mir. Ich zähle die Bilder meiner Tochter nicht mehr, auf denen steht: »Mama, werd’ bald wieder gesund!« Zu meiner Migräne gesellen sich dann Selbstzweifel und Schuldgefühle, weil ich nicht »funktioniere«. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass
»Das bisschen Kopfschmerzen – nimm doch ’ne Schmerztablette!«
Meine Arbeitskollegen wissen von meiner Migräne; ich habe sie eingeweiht, denn
Es gibt aber auch Migräniker, die ihre Erkrankung geheim halten, vielleicht aus Scham, vielleicht aus Angst um ihren Job, vielleicht aufgrund einer Mischung aus beidem. In jedem Fall nicht ganz ohne Grund: »Drückeberger« oder »Simulant« sind nur 2 der Stigmata, die Migränepatienten gern angeheftet werden.
Während verschüttete Chemikalien im Labor das eine sind, kann eine verschwiegene Migräne in anderen Berufen über Leben und Tod vieler Menschen entscheiden. Dazu brauchen wir nur an einen Lokführer mit Sichtfeldeinschränkungen oder eine Lkw-Fahrerin mit Orientierungsschwierigkeiten während eines Migräneanfalls denken.
Eben weil nicht jeder Migräniker als solcher erfasst ist, können wir die Zahl migränebedingter Arbeits-, Verkehrs- und auch Haushaltsunfälle nur schätzen. Sicher ist aber: Der
Schluss mit Falschvorstellungen und Scham
Migräne ist kein Frauenleiden und hat nichts mit Weichei zu tun.
In den vergangenen 30 Jahren hat sich – trotz kleinem Forschungsbudget – einiges bei der Migränikerversorgung getan, wenngleich es nach wie vor keine Heilung gibt.
Ziel muss es aber auch sein, Migräne aus der Weichei- und Frauending-Ecke herauszuholen. Hierbei hilft Aufklärung. So können Betroffene und ihre Mitmenschen selbst dazu beitragen, mit dem Unvermeidlichen zu leben:
- Migräne verstehen:
Je besser ein Patient seine Migräne kennt, umso besser kann er damit leben. Um herauszufinden, was einen Anfall auslöst, wird Patienten daher geraten, penibel Tagebuch zu führen. Wo früher Menschen über Papier und Stift hockten,
Viele Patienten haben die Vermutung, dass bestimmte Dinge einen Migräneanfall auslösen, zum Beispiel das Wetter. Irgendwann stolpern sie in einen Mechanismus, der Confirmation Bias – also Bestätigungsfehler – heißt. Das kann dann soweit gehen, dass aus einer falschen kausalen Beziehung ein konditionierter Reiz wird. Das ist im Prinzip ein erlernter Trigger, eine selbsterfüllende Prophezeiung.
- Migräne als Krankheit anerkennen:
Als Volkskrankheit braucht Migräne ihren Platz in der Gesellschaft, ohne dass Betroffene Angst vor Diffamierung und Diskriminierung haben müssen.
Migräne ist eine Krankheit, nicht mit der höchsten Krankheitslast, aber auch nicht mit der niedrigsten. Diesen Stellenwert sollte sie sich nicht erkämpfen müssen.
Dazu gehört auch, dass die Perspektive Betroffener mehr Raum bekommt, so wie auf dem
Lange wissenschaftliche Texte mit Fremd- und Fachwörtern schrecken ab. Zeitgemäß präsentierte Informationen wie beispielsweise das Migränevideo des Deutschen Kinderschmerzzentrums erklärt nicht nur Kindern anschaulich, was während eines Migräneanfalls im Körper des Patienten passiert:
In knapp 7 1/2 Minuten erklärt dieses Video anschaulich das Wichtigste rund um Migräne.
- Diagnostik verbessern: Viele Patienten pilgern von Arzt zu Arzt, bis sie die Diagnose »Migräne« und eine passende Therapie erhalten. Wie beschrieben ist die Erkrankung aufgrund ihrer Vielfalt an Symptomen und deren individueller Ausprägung nur schwer greifbar. Die Diagnose erfordert vom behandelnden Mediziner Erfahrung und Zeit. Umso wichtiger ist es, dass Migräne genau wie andere neurologische oder neurovaskuläre Krankheiten ihren Platz in der medizinischen Ausbildung erhält. Nur so lassen sich Fehldiagnosen und -therapien reduzieren und damit auch der resultierende sozioökonomische Schaden verringern.
- Anfälle besprechen:
Bei einem Migräneanfall leiden nicht nur Betroffene, sondern auch Partner und Familie. Sie müssen hilflos mit ansehen, wie gestandene Menschen zu einem Häufchen Elend zerfallen. Tatsächlich können Migräniker lernen, im Falle eines Anfalls klare Ansagen zu machen. So holen sie Familie und Kollegen aus der Hilflosigkeit und ermöglichen ihnen, sie aktiv zu unterstützen. Etwa indem sie Kinderbetreuung organisieren, Arbeit umverteilen oder ganz pragmatisch:
Wir haben einmal Angehörige gefragt, wie sie mit Betroffenen umgehen. Einer schrieb: ›Wenn ich weiß, dass meine Frau einen Anfall kriegt, dann putze ich das Badezimmer. Denn ich weiß, sie wird nachher über dem Klo hängen, und dann soll es dort wenigstens schön sein.‹
Ich selbst habe die Ausprägung meiner Anfälle klassifiziert, von 1 (»Das bekommt niemand mit!«) bis 10 (»Das endet vielleicht in der Notaufnahme!«). Das hilft meinem Partner, die Situation einzuschätzen und sich auf die kommenden Stunden und Tage einzustellen.
Je mehr Mitmenschen in den Verlauf eines Anfalls integriert werden, umso größer sind auch Akzeptanz und Toleranz für die vorübergehende Situation. Das nimmt Druck von den Schultern der Migränepatienten.
Ein ganz normaler Freitagnachmittag in meinem Leben mit Migräne. Meine Mutter hat die Kinder aus Schule und Kindergarten abgeholt. Meine Tochter schiebt mich zur Seite und schaltet den Herd an. Kurze Zeit später trifft mein Partner ein und übernimmt das Regiment. Arbeitskollegen schicken virtuelle Genesungswünsche. Meine Migräne und ich ziehen uns aufs Sofa zurück – weil wir es können und dürfen.
Titelbild: Mohamed Nohassi - CC0 1.0