Zukunft statt Zynismus
Nachfolgende Generationen werden anders leben, anders wohnen, anders essen, reisen und kommunizieren. Aber wie soll unser Morgen aussehen, wenn viele Menschen sich der Zukunft lieber zynisch verschließen oder verbittern? Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Utopie.
Drehen wir das Rad genau 500 Jahre zurück: Wir schreiben das Jahr 1516. Amerika ist entdeckt, das Osmanische Reich rückt vor, der Ablasshandel blüht und das Christentum steht kurz vor einer Spaltung. »Also, mein lieber Raphael«, sagte ich, »so bitte ich dich dringend, gib uns eine Beschreibung der Insel und fasse dich nicht zu kurz, sondern erläutere […] alles, was wir, wie du meinst, gern kennenlernen wollen!« – Kapitel 1
Das Weltbild gerät ins Wanken. Unsicherheit und Sorgen machen sich breit. Aber es kursieren auch neue Ideen. Eine davon ist ein seltsamer Reisebericht:
Ein Seemann erzählt von seinem Leben auf einer fernen Insel, auf der die Menschen nach rationalen Grundsätzen leben. Privateigentum oder Geld gibt es dort nicht. Die Insulaner teilen alles gemeinschaftlich und jeder bekommt das, was er zum Leben braucht. Männer und Frauen wählen ihren Beruf frei und arbeiten gleichberechtigt nicht mehr als 6 Stunden am Tag. Hass auf andere Religionen? Fehlanzeige. In der aufgeklärten Insel-Demokratie werden andere Glaubensrichtungen toleriert. Stolz sind die Bürger nicht auf Fahnen oder ihr Land, sondern auf die Qualität der allgemeinen Krankenversorgung. In ihrer Freizeit besuchen sie besonders gern wissenschaftliche Vorlesungen, um sich kostenlos weiterzubilden.
Der Name dieser Insel:
Natürlich gab es Utopia nicht wirklich. Das
Das Jahr 2016 ist voller neuer Chancen und Herausforderungen, die selbst ein Visionär wie Thomas Morus nicht erahnt hätte. Das Unbekannte ist heute keine ferne Insel mehr, sondern unser gemeinsames Leben im Morgen. Dieses ist geprägt von Digitalisierung, Finanzsystemkrise, Globalisierung, Klimawandel. Auch wir leben in einer Zeit enormer Umbrüche. Wie ist es um unsere Ideen und Visionen für die Zukunft bestellt?
»Heute geht es uns schlecht!« Und morgen schlechter?
In der großen Umfrage
Woher kommt der Verdruss?
Wer nach einer Antwort sucht, wird schnell in bestimmten Zeitungen, Fernsehsendungen und sozialen Netzwerken fündig: RTL anschalten, Facebook aufrufen, twittern. Schließlich reflektieren traditionelle und neue Medien einen wichtigen Teil unserer Gesellschaft. Sie halten uns mit Neuigkeiten auf dem Laufenden und informieren uns über Probleme und Lösungsansätze. Und genau da gibt es ein Problem: Nachrichten werden aktuell häufig vom Hochgeschwindigkeits-Journalismus beherrscht.
Der generelle Tenor: »Die Welt da draußen ist schlecht und vieles geht den Bach runter.« Dazu kommen Kolumnisten, die mahnen und Experten, die besorgt sind. Prognosen über die Zukunft Deutschlands bleiben verhalten und drehen sich meist um
Wenn im Mainstream-Journalismus über Alternativen gesprochen wird, wirken diese oft bedrohlich: Verunsicherung der Finanzmärkte, Spaltung und Krise, Zusammenbruch unserer Gesellschaft oder (ganz aktuell) Europas. Das ist auch die Quelle dieser hochmütigen, sinnlosen und eigensinnigen Urteile, auf die ich schon oft gestoßen bin […] – Kapitel 1
Mancher Autor meint es dabei sicher gut und versucht, den Leser mit rhetorischen Mitteln wachzurütteln und für wichtige Themen zu sensibilisieren. Das erzeugte Bild von der Zukunft bleibt aber düster. Die Hoffnungen gehen selten über den Erhalt des Status quo hinaus.
Boulevardzeitungen haben beim Thema Zukunft noch weniger zu bieten: Die Schlagzeilen von Übermorgen werden sich
Der gute alte Zynismus
Fantasielos, alternativlos, ab und zu sogar apokalyptisch – warum kommt die Zukunft in den Medien so schlecht weg? Der Literaturwissenschaftler Christian Sieg von der Westfälischen Wilhelms Universität Münster kennt sich bestens mit dem Schreiben und Sprechen über die Zukunft aus. In der Ringvorlesung Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie beschäftigte er sich mit der Darstellung der Zukunft als Erzählstoff. Seine Einschätzung: Große Visionen sind heute einfach kein großes Thema mehr. Wir kümmern uns im 21. Jahrhundert lieber um konkrete Probleme, als von einem besseren Morgen zu träumen. Sieg meint:
Im Zukunfts-Pessimismus verbirgt sich ein tiefer liegendes Problem unserer Gesellschaft mit dem Morgen: der gute alte Zynismus. In der Psychologie wird er als eine
Dem Zyniker selbst bietet eine solche Haltung Sicherheit und Trost: Wer sich vor möglichen aktiven Veränderungen verschließt und nichts Positives erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden. Verschlimmert sich die Situation, fühlt sich der Vollblut-Zyniker gern bestätigt – schließlich hat er die Zukunft kommen sehen. Auf andere wirkt das dann häufig wie intellektueller Durchblick. In Wahrheit ist es oft nur Schwarzmalerei.
[A]ls ob der ganze Ruf ihrer Weisheit gefährdet wäre und als ob man sie danach für Narren halten müßte, wenn sie nicht imstande sind, etwas zu finden, was sie an dem von den anderen Gefundenen schlecht machen können. – Kapitel 4
Und die bleibt nicht ohne Folgen. Studien zeigen, dass eine solche Geisteshaltung negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben kann: Zynismus zählt zu den Symptomen von Burnout und gilt damit als
Wenn Zynismus für den einzelnen Menschen schlecht ist, wie sieht dann eine Gesellschaft aus lauter Zynikern aus? Ganz klar: geprägt von Hoffnungslosigkeit, Politikverdrossenheit und mangelndem Engagement. Auf die drängenden Fragen der Gegenwart (»Wie lösen wir unsere Probleme?« und »Wie wollen wir morgen leben?«) kann – und will – Zynismus keine Antworten geben.
Utopien helfen, die Probleme der Gegenwart zu verstehen
Genau an dieser Stelle kommt Utopia wieder ins Spiel. Ein Zyniker war Thomas Morus sicher nicht. Seine fiktive Inselwelt einer glücklichen Gesellschaft liest sich vor dem Hintergrund seiner Zeit eher wie ein Reformprogramm, aber auch wie ein Denkanstoß zum Bessermachen.
Der kleine Zyniker auf der Schulter raunt nun: »Besser machen? Wir können die Dinge sowieso nicht ändern. Und der Welt geht es nun mal schlecht …«
Halt, so entschlüpfst du mir nicht! – Kapitel 2
Wie schon 1516 befinden sich heute Europa und die Welt vor ähnlich bahnbrechenden Veränderungen: Digitalisierung, Globalisierung, Ressourcenknappheit, Klimawandel und technologischer Fortschritt sind nichts, was wir langfristig ignorieren können. Sie gehen jeden Menschen an. Ein Beispiel gefällig? Vor 30 Jahren haben wir noch per Landkarte unser Ziel gesucht und uns Sorgen um die Wiedervereinigung gemacht. Heute suchen wir unser Ziel per Smartphone-App und sorgen uns um die Stabilität von Ländern, die am anderen Ende der Weltkugel liegen.
Und in 30 Jahren? Wird die Welt ganz anders aussehen als heute. Nur, wenn jeder von uns dazu beiträgt, die Zukunft aktiv mitzugestalten, können wir die Herausforderungen meistern und ihr gemeinsam eine Richtung geben, die mit unseren Werten übereinstimmt. Dazu braucht es frische Ideen, neue Perspektiven und vielleicht auch die ein oder andere Vision.
Thomas Morus hat mit seiner Utopie gezeigt, wie das geht. Heute nutzen wir das Wort »utopisch« gern als Beschreibung für etwas, das unerreichbar ist, als Synonym für naiv, traumtänzerisch oder sogar
Vielleicht täten die Einsichten Utopias 500 Jahre später auch der ein oder anderen politischen Debatte oder der ein oder anderen Diskussion im Internet gut. Aber Morus’ Inselstaat – ja Utopien im Allgemeinen – interessieren heute anscheinend kaum noch jemanden. Es soll […] niemand unbedachtsam mit dem herausplatzen, was ihm zuerst auf die Zunge kommt, und dann mehr auf die Verteidigung seiner Ansicht als auf das Interesse der Stadt bedacht sein. – Kapitel 6
Sozialwissenschaftler untersuchten lange Zeit nur die Realisierbarkeit von Utopien und ihre ideologischen Gefahren. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und Kommunismus war eine über-kritische Perspektive auf alternative Gesellschaftsentwürfe durchaus verständlich. Ist das im Jahr 2016 noch zeitgemäß?
Positiv Denken! – Das Prinzip Hoffnung
Für den bekannten deutschen Philosophen Ernst Bloch lag die moderne Rolle von Utopien bereits im letzten Jahrhundert auf der Hand: Er wehrte sich dagegen, sie als unrealisierbare Hirngespinste abzutun. [Der Staat hat das Ziel], den Sklavendienst des Körpers nach Möglichkeit einzuschränken, damit die dadurch gewonnene Zeit auf die freie Ausbildung des Geistes verwendet werden kann. Darin liegt nämlich […] das Glück das Lebens. – Kapitel 7
Beeinflusst von Hegel und Marx sah er in Utopien den Ausdruck des menschlichen Strebens nach
Also positives Denken für bessere Ideen und eine bessere Zukunft?
Da ist was dran! Denn auch hier gilt: Der Zusammenhang zwischen positivem Denken und Zukunftsfähigkeit ist bereits wissenschaftlich untersucht worden: Wer Negatives denkt, beschäftigt sich mehr mit der aktuellen Situation. Wer positiv denkt, ist kreativer, entwickelt mehr Ideen und erlernt neue Fähigkeiten. So wird die
Impulse für Morgen
Die Insel Utopia ist die abgeschlossene Idee eines einzelnen Autors. Heute, in unserem pluralistischen Alltag, existiert utopisches Denken in vielen bunten Ausprägungen und Zukunftsentwürfen. Diese sind selbstverständlich offen für den Austausch mit anderen – einen konstruktiven Austausch, der zuhört und reflektiert und gemeinsam neue Ideen entwickelt: Bedingungsloses Grundeinkommen, autofreie Innenstädte, grüne Architektur oder die Idee eines Bruttonationalglücks sind interessante Impulse für unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft der Zukunft, die schon heute beginnt.
Moderne Utopien bleiben auch nicht in Büchern oder Erzählungen stecken. Aus positivem (Mit-)Denken über die Zukunft können soziales Engagement und zukunftsorientierte Projekte mit Blick nach vorn entstehen. Dabei geht es nicht um Schönfärberei oder vermeintlich einfache Lösungen für große Probleme. Stattdessen suchen solche Initiativen nach Antworten für eine gemeinsame Zukunft, an der möglichst viele Menschen beteiligt sind. Das Gute daran: Sie sind nicht allein …
Und wie kann so ein »utopisches Projekt« konkret aussehen? Na so! Auch Perspective Daily ist aus einer Vision entstanden, der Idee eines Konstruktiven Journalismus, der seine Leser mit einbezieht.
Titelbild: Luc Schuiten