Der Brexit ist superzäh. Aber nicht in diesem Chat!
Wie kam es zu dem ganzen Schlamassel, und wie kommen wir da wieder raus? Das überlange Brexit-Chaos im superkurzen Chat.
Die Geschichte des Brexits beginnt an einem Mittwoch vor 6 Jahren. Es war der
Camerons »Remain«-Wahlkampf blieb schwach, während der »Leave«-Fraktion jedes Mittel recht war. Zum Chef-Brexiteer schwang sich ausgerechnet Camerons konservativer Parteifreund Boris Johnson auf, eigentlich ein Befürworter der EU, der jedoch im Brexit für sich persönlich die besseren Karriereoptionen sah. Mit
Heute, 2 Monate vor dem regulären Austrittstermin, sind die Fronten verhärteter denn je, und noch immer ist unklar, wie der Brexit ablaufen wird. Wie es dazu kommen konnte, kann man am besten verstehen, wenn es die Beteiligten selbst erklären: per Chat.
Brexit heißt Brexit?
Schon an dieser Stelle im Chat lässt sich das größte Hemmnis erkennen, das den Brexit bis heute lähmt: Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon,
- Am sanftesten wäre die Umstellung, wenn die Briten weiter im Binnenmarkt blieben – darin darf jedes Unternehmen automatisch in sämtlichen EU-Ländern seine Dienste anbieten. Allerdings müssten die Briten in vielen Bereichen EU-Recht umsetzen, ohne es selbst mitbestimmen zu können. Und sie müssten EU-Bürgern weiter freie Einreise gewähren. Ein weicher Brexit bündelt alle Vorteile, aber auch Verbindlichkeiten,
- Für viele Brexiteers ist nur ein harter Brexit ein richtiger Brexit – also raus aus dem Binnenmarkt und sogar aus der
Leider hat während des gesamten Wahlkampfs vor dem Referendum keiner den Briten erklärt, was sie sich unter dem Brexit vorzustellen haben. Und auch aus Theresa Mays Mantra »Brexit heißt Brexit« wurde niemand so richtig schlau.
Die Qual der Wahl
Die setzte gerade einmal 8 Monate nach dem Referendum den Austrittsprozess in Gang. Eine gewagte Entscheidung, weil ab diesem Moment die Uhr tickte: Artikel 50 der EU-Verträge, der den Austritt eines Mitgliedslandes regelt, setzt eine Frist von 2 Jahren zwischen Austrittswunsch und Erlöschen der Mitgliedschaft. Rückwirkend sagen viele britische Politiker, man hätte sich besser zuerst geeinigt, was das Ziel der Verhandlungen konkret sein soll – und dann den Countdown gestartet. Aber bevor es richtig losging, hatte May noch eine andere Idee.
So verzockte Theresa May
In der britischen Öffentlichkeit gab es schon um den Jahreswechsel 2017/18 einige Stimmen, die ein zweites Referendum forderten: Am Ende solle die Bevölkerung das letzte Wort haben, ob die
Zwischenzeitlich war schon ein Austritt auf Raten vereinbart worden. Die Mitgliedschaft in der EU sollte wie geplant zum 29. März 2019 formell erlöschen, aber in einer Übergangsphase bis zum Jahr 2020 würden trotzdem noch alle Verträge Gültigkeit behalten. Diese Zeit sollte genutzt werden, um die zahllosen notwendigen neuen Verträge für die zukünftigen Beziehungen auszuhandeln.
Streit um den »Backstop«
Je weiter die Verhandlungen zwischen London und Brüssel voranschritten, desto unausweichlicher wurde die
Weil sie nicht länger mit ansehen wollte, wie die Briten an der Quadratur des Kreises scheitern, hat die EU-Kommission einen eigenen Vorschlag gemacht. Solange keine endgültige Regelung gefunden ist, sollte Großbritannien in der Zollunion und Nordirland sogar Teil des Binnenmarkts bleiben – und zwar über die Übergangsphase hinaus, notfalls unbefristet. Diese Klausel heißt »Backstop« – und wurde zum wohl am heftigsten umkämpften Bereich des Austrittsvertrags.
So weit war es also gekommen: Als »lame duck«, lahme Ente, gelten im englischsprachigen Raum Politiker, die zwar noch im Amt sind, aber eigentlich keine wirkliche Macht mehr haben. Jetzt rächte sich endgültig, dass vor dem Referendum niemand festgelegt hat, was Brexit eigentlich bedeutet: Für 117 Abgeordnete ging die Vorstellung so weit von der Theresa Mays auseinander, dass sie die Premierministerin stürzen wollten.
Streit und Vorurteil
Bei der größten Oppositionspartei Labour sind die Lager ähnlich zerstritten: In der eigentlich pro-europäischen Partei hat sich ein gewisser Brexit-Fatalismus entwickelt, und von Parteichef Jeremy Corbyn ist bekannt, dass er nie ein großer Freund der EU war. Wohl auch deshalb bot Labour keine glaubwürdige Alternative und keinen Ausweg aus der Sackgasse.
Wie geht es weiter?
Der »Plan B« enthielt dann jedoch keine wirklich neuen Ideen, sondern nur das Versprechen, parteiübergreifend über Lösungen zu sprechen. Noch genau 2 Monate trennen Großbritannien von einem ungeregelten Brexit mit all seinen Folgen.
Diese Möglichkeiten gäbe es, ein Chaos noch abzuwenden:
- An diesem Dienstag stehen im britischen Parlament einige Anträge zur Debatte, die allesamt das schlimmste abwenden sollen. Verhältnismäßig gute Chancen hat ein Papier, nach dem Theresa May eine allerletzte Frist von 4 Wochen für Verhandlungen mit der EU erhalten soll – andernfalls müsste sie um Aufschiebung des Brexits bis zum Jahresende bitten. Aus der Labour-Fraktion kommt ein Vorschlag, nach dem das Parlament einen Brexit mit Verbleib in der Zollunion beschließen
- Das britische Parlament könnte nach wie vor beschließen, dem von Theresa May in Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrag doch noch zuzustimmen. Dann würden knapp 600 Seiten Regelwerk zum Austritt greifen und Großbritannien würde am 29. März in eine Übergangsphase eintreten. Dafür müssten jedoch mehr als 100 Abgeordnete ihre Meinung ändern – und das ist eher unwahrscheinlich. Das Parlament könnte jedoch auch den Ton weiter verschärfen und selbst in Nachverhandlungen mit Brüssel treten – die EU sperrt sich jedoch vor weiteren Zugeständnissen.
- Die britische Regierung könnte bis zur letzten Minute einseitig vom Brexit zurücktreten. Damit wären 2 Jahre Verhandlungen voller großer Unsicherheiten komplett umsonst. Allerdings betonen längst auch pro-europäische Politiker, man müsse den Ausgang des Referendums und somit den Auftrag des Volks respektieren.
- Die britische Regierung könnte die EU einmalig um eine Fristverlängerung bitten. Ein Hemmnis hierbei sind die Europawahlen, die am 23.–26. Mai stattfinden. Das neue Europäische Parlament soll dann Ende Juni erstmals zusammentreten – idealerweise sind die Briten dann schon draußen, damit sie gar nicht erst mit wählen müssen. Aber in den vergangenen Wochen gab es immer wieder vorsichtige Äußerungen, dass man auch für dieses Problem eine Lösung finden und die Frist großzügig verlängern könnte.
Theresa May will nach wie vor am bisherigen Austrittstermin in 2 Monaten festhalten. Sie will kein zweites Referendum und keinen ungeregelten »No Deal«-Brexit. Welches dieser 3 Prinzipien sie letztlich bricht, wird mit Spannung erwartet – nicht nur in dieser Chatgruppe.
Update, 30. Januar: Das britische Parlament hat insgesamt Anträge diskutiert und am Ende beschlossen, Theresa May zu Nachverhandlungen über den Backstop nach Brüssel zu schicken. Warum die EU jetzt plötzlich ihr Mitglied Irland doch im Stich lassen sollte, ist jedoch unklar. So rückt ein ungeordneter Brexit wieder einen Schritt näher – oder eine Rettung in letzter Minute.
Titelbild: Luke Stackpoole - CC0 1.0