Ich dachte, ich weiß, wie Demokratie funktioniert. Bis zu diesem Experiment
Jetzt ist mir klar: Wenn ich mit anderen Menschen Probleme lösen will, muss ich raus aus dem argumentativen Kampfmodus.
Mein Experiment beginnt mit einer kleinen Enttäuschung. Moderatorin Tina hatte mich und die anderen Workshop-Teilnehmer darum gebeten, ein aktuelles Thema, das wir gern diskutieren würden, auf einem Blatt Papier zu notieren. Ich überlege nicht lange und schreibe »§ 219a« auf meinen Zettel – das ist der Paragraf im Strafgesetzbuch, der ein
Meine erste Lektion in Sachen Dialog-Demokratie: Es geht hier nicht um mich und meine Meinung.
Mich treibt das um – die anderen offenbar nicht so sehr. Als wir abstimmen und uns in kleinen Gruppen um die Zettel mit den Vorschlägen zusammenfinden, interessiert sich sonst niemand für die Abtreibungsdebatte. Stattdessen finden sich Mehrheiten für Themen wie Integration, Sterbehilfe, Klimaschutz oder Demokratiereform.
Das ist die erste Lektion in Sachen Dialog-Demokratie: Es geht hier nicht um mich und meine Meinung. Ich lasse mir meine Enttäuschung nicht anmerken und stelle mich, nur innerlich ein bisschen schmollend, zur Integrationsgruppe.
Wie rund 70 andere Menschen bin ich der Einladung von
Wir sind heute Teil eines Experimentierlabors zur Umsetzung dieser Idee: Im Jahr 2020 sollen 100 per Losverfahren bestimmte Bürgerinnen und Bürger aus allen Gesellschaftsgruppen über mehrere Wochenenden zusammenkommen, um gemeinsam Entscheidungen oder Positionen zu kontroversen Zukunftsthemen zu erarbeiten.
An diesem Samstag im Januar 2019 soll das Konzept der Bürgerräte in einem Kulturquartier im Berliner Norden näher erklärt und in
Gleich am Eingang treffe ich Katharina Liesenberg, eine der Organisatorinnen des heutigen Experiments. Sie erklärt mir, warum Bürgerräte ein echter Gewinn für die Demokratie seien: »Zum einen, weil unterschiedliche Menschen miteinander reden und so auch unterschiedliche Lebensrealitäten kennenlernen.«
Und Katharina sieht noch ein Problem, für das Bürgerräte eine Lösung sein können: »Viele Leute schimpfen über ›die da oben‹ und ich merke, dass manchmal wenig Grundverständnis dafür vorhanden ist, wie eine demokratische Gesellschaft eigentlich funktioniert. Es entscheiden nicht nur die Mitglieder des Bundestags darüber, was in den nächsten 4 Jahren passiert.« In einer Demokratie reiche es einfach nicht aus, alle paar Jahre sein Kreuz zu machen. »Bürgerräte bieten eine Art der Beteiligung, mit der man
Sind Bürgerräte also das Rezept gegen Politikverdrossenheit und Polarisierung? Wer Antworten auf diese Frage sucht, muss zuerst nach Irland schauen.
Demokratie neu denken: das Beispiel Irland
Im Jahr 2008 traf die Finanzkrise Irland hart; die strenge Sparpolitik der kommenden Jahre stürzte die Beziehung der irischen Bürger zu ihrem Staat dann auch noch in eine ausgewachsene Vertrauenskrise.
Der Politikwissenschaftler David Farrell hatte eine Idee, wie der Riss zwischen Politik und Gesellschaft zu kitten sei. Vielleicht wäre es eine gute Idee, die Bürger selbst formulieren zu lassen, wie es in Zukunft besser laufen könne? Ein Rat zufällig ausgewählter Bürger könnte Vorschläge zur Verfassungsreform erarbeiten – mit dem übergeordneten Ziel, ein besser funktionierendes System der repräsentativen Demokratie und damit auch wieder mehr Vertrauen zwischen Bürgern und ihren Repräsentanten im Parlament zu schaffen.
Warum formulieren die Bürger nicht einfach selbst, wie in Zukunft alles besser laufen könnte?
Farrell hatte zuvor ein ähnliches Experiment der Bürgerbeteiligung in der kanadischen Provinz British Columbia genau beobachtet und dort selbst
Zurück in Irland gründete der Politologe mit einer Arbeitsgruppe die Initiative
Befragungen der Teilnehmer durch das Politologenteam zeigten, dass die Bürger nach den gemeinsamen Beratungen nicht nur ein größeres Bewusstsein für die Komplexität politischer Entscheidungen hatten,
Die Ergebnisse überzeugten die Regierung, ein Experiment in
In diesem Gremium diskutierten 66 Bürger mit 33 Abgeordneten des irischen Parlaments an 10 Wochenenden über Änderungen an der irischen Verfassung. Konkret ging es beispielsweise um die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten, um ein Wahlrecht ab 17 Jahren, die Rolle der Frau in Verfassung und Gesellschaft – und um die Ehe für alle.
Im folgenden Jahr wurde das Experiment Bürgerrat von der neu ins Amt gewählten Regierung ausgeweitet. Sie beschloss die Einrichtung der Irish Citizens Assembly (ICA), dieses Mal ganz ohne die Beteiligung von Berufspolitikern, dafür mit dem Mandat für die Bürger, sich über einen längeren Zeitraum mit wichtigen – und sehr unterschiedlichen – Zukunftsthemen zu befassen; darunter die
Ohne Konflikte gingen die Beratungen wohl nicht über die Bühne. Die Teilnehmer bewerteten die Diskussionen zum Thema Schwangerschaftsabbrüche im Nachhinein als »eher spannungsgeladen«. Trotzdem waren sie überwiegend zufrieden mit dem Verlauf der Bürgerversammlungen.
Das Schöne daran ist die neutrale Umgebung. Es gibt ein hohes Maß an Respekt für alle unterschiedlichen Meinungen, wir hatten jedenfalls keine Faustkämpfe. Es wurden manchmal starke Meinungen vertreten, aber niemand hat deshalb einen Streit angezettelt.
Das Referendum zur Streichung des umstrittenen Paragrafen ist bis jetzt das wohl greifbarste Ergebnis des Bürgerrates.
Menschen aus allen Echokammern der Gesellschaft
Zurück nach Berlin. Hier überlegen wir uns heute in einem Workshop, welche Themen für einen Bürgerrat nach irischem Vorbild überhaupt geeignet wären. In einer Vorstellungsrunde in 3er-Grüppchen erzählen mir Joachim und Konstantin von ihren Biografien, der eine ist Jurist, der andere Erziehungswissenschaftler. In der großen Runde sind außerdem vertreten: ein emeritierter Professor der Politikwissenschaft, ein Wahlbeobachter, eine Künstlerin, gleich mehrere Journalisten.
Mir wird klar, dass ein wichtiger Aspekt heute gar nicht geprobt werden kann: Im »richtigen« Bürgerrat sollen die Teilnehmer qualifiziert ausgelost werden, sodass sich auch wirklich Menschen aus »allen Echokammern der Gesellschaft« begegnen, wie es auf einem Poster an der Wand in dem schicken Eventspace aus Glas und Beton steht. Heute sind wir altersmäßig zwar ganz gut durchmischt, Menschen mit Migrationshintergrund, aus ländlichen Regionen oder ohne Uni-Abschluss aber wohl deutlich unterrepräsentiert.
Beim Mittagessen unterhalte ich mich mit einer anderen Teilnehmerin. Wir schauen durch die großen Fenster in der Fassade wie aus einem gläsernen Turm auf die Straßen des Berliner Stadtteils Wedding. Hier sind in den letzten Jahren immer mehr Studenten und Zugezogene unterwegs, aber auch viele Geringverdiener. Mehr als 80% der Jugendlichen unter 18 Jahren haben hier einen Migrationshintergrund. Am nahegelegenen Leopoldplatz sitzen bei jedem Wetter Menschen draußen und trinken Alkohol.
Es wäre interessant, was die Passanten hier zum Thema Bürgerbeteiligung zu sagen hätten. Für meinen Geschmack haben wir uns am Vormittag ein bisschen zu lange in einer Metadiskussion im Kreis gedreht.
Nachmittags diskutieren wir in Kleingruppen weiter, es geht um die Themen, über die wir am Anfang abgestimmt hatten. Meine Gruppe zieht mit mehreren Zetteln ab, auf denen Schlagworte notiert sind, die sich mit Migration und Integration zusammenfassen lassen. Am meisten hätte mich die Diskussion um ein Einwanderungsgesetz interessiert, aber auch hier läuft es nicht so, wie ich es gern hätte. Wir müssen feststellen, dass wir gar nicht genug Expertise haben, um über ein solches Gesetz zu sprechen, und wenden uns dann doch dem – mich eigentlich schrecklich nervenden – Begriff der
Am Ende der vereinbarten Zeit haben wir lediglich über unsere unterschiedlichen Definitionen diskutiert und sind nicht wirklich zu einem Ergebnis gekommen, ob hinter dem Begriff auch ein Problem steckt, für das ein Bürgerrat Lösungsvorschläge erarbeiten könnte. Wahrscheinlich ist er zu unkonkret, bestimmt fehlen uns wichtige Perspektiven.
Mir wird in unserer Runde klar, wie wichtig die Aufgabe der Experten im Prozess eines Bürgerrates ist – und dass es ohne eine strukturierte, moderierte Diskussion wahrscheinlich nicht funktioniert. Ich finde es ein bisschen unbefriedigend, dass wir nicht gleich anfangen, über Lösungen nachzudenken, merke aber hinterher, dass auch das eine Lektion in Sachen Dialog-Demokratie für mich war: Der Prozess ist genauso wichtig wie das Thema an sich.
Eine andere Teilnehmerin fasst es in der Feedbackrunde ganz gut zusammen: Es ist gar nicht so einfach, die eigenen Interessen, Wünsche und Meinungen zu zügeln und sich selbst zurückzunehmen, um gemeinsam einen Konsens zu finden.
In einer Demokratie sollte es nicht darum gehen, dass eine Meinung über die andere »siegt« – sondern um das ständige Bemühen, einen Konsens zu finden, mit dem möglichst viele Menschen möglichst gut leben können. Ohne Dialog geht das nicht.
Es geht LOS!
Bürgerräte könnten Dialog stimulieren, wenn der politische Prozess offensichtlich in eine Sackgasse geraten ist, wenn eine Streitfrage derart polarisiert, dass eine Kompromissfindung kaum noch möglich scheint.
So
Jeder von uns hat eine andere Meinung dazu, was beim Brexit als Nächstes geschehen sollte. Aber wir stimmen alle überein, dass ein Weg nach vorne gefunden werden muss, um wieder Vertrauen in unsere Demokratie zu etablieren.
Und auch woanders hat man erkannt, welches Potenzial Demokratie per Losverfahren birgt. Im österreichischen
Daneben arbeitet sie mit Es geht LOS! weiter auf einen Bürgerrat auf Bundesebene hin, der im Herbst 2020 loslegen soll. Doch was bringen die Beratungen, wenn die Politik nicht verpflichtet ist, die mühsam erarbeiteten Forderungen und Positionen auch umzusetzen? Die Demokratie-Entrepreneurs von Es geht LOS! hoffen darauf,
Das irische Beispiel zeigt, dass Bürgerräte als Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Politik funktionieren können – wenn sich die Politik dazu verpflichtet, die Ergebnisse der Bürgerberatungen aufzugreifen.
Bis die erarbeitet sind, ist es aber noch ein langer Weg. Katharina Liesenberg und das Team von Es geht LOS! arbeiten nun erst mal daran, die Bürgerräte in Deutschland bekannt zu machen. Testläufe wie in Berlin sollen bald auch in anderen deutschen Städten stattfinden.
Titelbild: Raphael Janzer - copyright