Wer davon profitiert, dass du an den »Fachkräftemangel« glaubst
Schluss mit dem Mythos: Was dem Arbeitsmarkt wirklich fehlt.
Der Warteraum des Jobcenters ist prall gefüllt. Doch statt Menschen, die Arbeit suchen, sitzen hier Führungskräfte örtlicher Unternehmen. Die Chefs warten verzweifelt, denn ihre Firmen haben einfach zu wenig Arbeitskräfte und stehen fast still. Da überbringt der Sachbearbeiter die schlechte Nachricht: »Heute ist nichts mehr zu machen. Es sind keine qualifizierten Arbeitnehmer mehr verfügbar.« Enttäuschte Gesichter. Der Fachkräftemangel hat wieder einmal zugeschlagen!
Ist diese ausgedachte Szene unrealistisch? Angeblich nicht. Bei der Diskussion um den allseits beschworenen »Fachkräftemangel« bekommt man den Eindruck, Unternehmen seien längst die Bittsteller auf dem Arbeitsmarkt und würden um eine Handvoll Arbeitnehmer buhlen.
Die BILD ruft den »Kampf um Fachkräfte« aus, das Handelsblatt schrieb schon im November: »Fachkräftemangel verschärft sich«. Es wirkt, als gehe es schon ums Ganze, als befinde sich der Arbeitsmarkt in einer Krise.
Und aktuelle Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) scheinen das zu belegen:
Arbeitsmarktforscher Alexander Kubis hat diese Zahlen für das IAB zusammengetragen. So klar, wie es zunächst scheint, ist die Lage nicht. Er hilft uns, die Mythen und Missverständnisse einzuordnen.
Mythos 1: Zu viele Akademiker, zu wenige Handwerker
Handwerker werden gesucht. Denn kein anderer Ausbildungsbereich hat so große Nachwuchssorgen wie das Handwerk.
Genaue Daten zur Arbeitslosigkeit unter Handwerkern erhebt das IAB zwar nicht, aber eine Orientierung gibt zumindest folgende Zahl: Von den Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind 3,9% arbeitslos, darunter fallen Handwerksgesellen und Meister, aber auch Angehörige anderer Berufszweige, die Ausbildungen voraussetzen.
Akademiker und Handwerker gegeneinander auszuspielen, zielt am Thema vorbei. Generell gelte die Aussage: Je höher die Ausbildung, desto besser die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, erklärt der Forscher des IAB. Und beide Gruppen – Akademiker sowie jene, die eine Berufsausbildung hinter sich haben – liegen sogar unter dem Durchschnitt der Arbeitslosen insgesamt. Es gibt also in beiden Bereichen eine große Nachfrage.
Der wahre Kern des Mythos: Da seit Jahren immer mehr junge Schulabgänger an die Unis gehen, sinkt auch die Zahl zukünftiger potenzieller Azubis für die Handwerksbetriebe. Zu sagen, es gebe zu viele von dem einen oder dem anderen, treffe es aber nicht, so Kubis: »Man muss wirklich in die einzelnen Berufe und in die einzelnen Studiengänge hineingehen. Denn selbst der Ingenieur ist nicht gleich Ingenieur, wenn wir jetzt an einen Elektroingenieur im Vergleich zum Bauingenieur denken.«
Und wenn Handwerker dringend gebraucht werden, liegt das auch daran, dass Unternehmen sich in den vergangenen Jahren nicht attraktiv genug für junge Leute dargestellt haben, sei es bei Lohn- oder Arbeitszeitmodellen, aber auch hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit. Hier sind also auch die Unternehmen in der Verantwortung.
Mythos 2: Der Arbeitsmarkt ist leergefegt
»Vor allem der Fachkräfte-Engpass hemmt die wirtschaftliche Dynamik immer stärker, der Arbeitsmarkt ist leergefegt.« So heißt es etwa vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW)
Arbeitnehmerverbände können bei diesen schrillen Tönen nur müde lächeln. Dahinter stehe lediglich der Wunsch nach noch schnellerem Wachstum.
Was ist also richtig?
Alexander Kubis hält offene Stellen an sich nicht für ein Problem:
Eigentlich sind offene Stellen etwas Gutes, denn sie zeigen ja, dass der Arbeitsmarkt sehr aufnahmefähig für neue Beschäftigung ist. Wir haben zwar rund 1,5 Millionen unbesetzte Stellen, aber wir haben weiterhin eben auch 2,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das heißt: Von einem flächendeckenden Fachkräftemangel, der oftmals in den Medien diskutiert wird, kann man eigentlich nicht sprechen.
Kubis erklärt, dass tatsächlich Regionen und Berufsfelder existieren, in denen es schwer ist, Arbeitskräfte zu finden, weil dort praktisch Vollbeschäftigung herrscht. Das sei vor allem in süddeutschen Ballungsräumen der Fall. Allerdings: »Großbetriebe sind dort meistens so positioniert, dass sie auch ein gut aufgestelltes Personalmanagement haben, vergleichsweise gute Löhne zahlen können und dass sie auch in der Wahrnehmung der Bewerber zuerst auftauchen«.
Schwerer hätten es vor allem kleinere Betriebe, die meist Familienunternehmen sind. Diese machen laut Kubis mehr als 90% der deutschen Betriebe aus, viele sind in ländlicheren Regionen angesiedelt. Und das bringt ein Problem mit sich, vor allem für Paare und Familien: Denn dass 2 berufstätige Ehepartner gleichzeitig einen Job in einer Region finden, ist eher selten.
Man muss im Detail darüber reden, ob ein Betrieb keine Mitarbeiter findet, weil der Markt in diesem Bereich wirklich leergefegt ist, oder ob es daran liegt, dass der Betrieb zum Beispiel weniger attraktive Bedingungen bietet als andere Arbeitgeber und das Angebot deswegen im Markt vielleicht einfach nicht konkurrenzfähig ist.
Der wahre Kern des Mythos: Da das Arbeiten in Ballungsräumen immer attraktiver wird, haben es Betriebe auf dem Land schwerer. Diese Situation wird sich aber kaum ändern und gut ausgebildete Kräfte nehmen nicht von allein Standortnachteile in Kauf. Pauschal zu sagen, »der Arbeitsmarkt sei leergefegt«, ist nicht richtig.
Unternehmen müssen in Zukunft in den sauren Apfel beißen und aktiver etwas tun, um für Arbeitnehmer attraktiv zu werden – zum Beispiel mit interessanten Arbeitszeitmodellen oder deutlich steigenden Löhnen.
Und es wird höchste Zeit! Denn in absehbarer Zukunft könnte der »leergefegte Arbeitsmarkt« tatsächlich wahr(er) werden und es für alle Arbeitgeber deutlich schwerer machen, sofort einsatzfähige, fertig ausgebildete Arbeitskräfte zu finden. Und das hat etwas mit Mythos Nummer 3 zu tun.
Mythos 3: Einwanderung löst das Problem der Überalterung des Arbeitsmarktes
»Viele Migranten sind eine Stütze der deutschen Wirtschaft geworden«, sagte
Aber kann die deutsche Wirtschaft mit Arbeitskräften aus dem Ausland ihre Probleme lösen?
Tatsächlich gingen in den vergangenen Jahren jeweils
Und Zuwanderung kann unter Umständen auch Probleme auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen, sagt Kubis. Bei den ungelernten Hilfskräften sind hierzulande rund 17% arbeitslos. Zuwanderer könnten da insbesondere mit den bereits in Deutschland lebenden Migranten in Konkurrenz treten.
Der wahre Kern des Mythos: Die pauschale Aussage, Einwanderung könne die Herausforderungen eines Fachkräftemangels lösen, ist arg verkürzt. Allein schließen kann sie die demografische Lücke nicht – sondern nur einen Teil des Bedarfs, den Menschen hinterlassen, die in den kommenden Jahren in Rente gehen. Kubis’ Studie hat herausgefunden, dass Deutschland jährlich 260.000 qualifizierte Zuwanderer brauche, um die Sozialsysteme in ihrer aktuellen Form aufrechtzuerhalten.
Zusätzlich müssen dann aber auch die Möglichkeiten innerhalb Deutschlands ausgeschöpft werden – etwa indem Frauen mehr in Vollzeit arbeiten,
Interessen bestimmen Mythen
Ist dir bei den Mythen etwas aufgefallen? Der Begriff »Fachkräftemangel« nutzt überwiegend der Arbeitgeberseite. Er zeichnet ein eher undifferenziertes Bild der deutschen Arbeitslandschaft und dient vor allem dazu, Arbeitgeber-Interessen zu stützen. Dahinter verbirgt sich also vielmehr ein Instrument in der Debatte als eine neutrale Beschreibung der Situation. Die Arbeitgeberseite leitet daraus Forderungen ab, für deren Kosten die Allgemeinheit aufkommen soll: mehr Infrastruktur, bessere schulische Bildung und schnell einsatzfähige, günstige Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Die Erwartung, dass es durch den demografischen Wandel eines Tages tatsächlich zu wenig arbeitsfähige und ausreichend ausgebildete Menschen geben könnte, vermischt sich oft mit den Arbeitsmarkt-Herausforderungen von heute.
Und noch ein Detail ist Alexander Kubis wichtig: »Die Arbeitsstellen, die wir im 3. Quartal 2018 berichten, sind nicht die dieselben wie die, über die wir im 4. Quartal sprechen.« Viele der offenen Arbeitsstellen aus dem IAB-Bericht sind eben keine, die für immer unbesetzt bleiben, sondern bei denen Unternehmen länger brauchen, um sie zu besetzen, als sie es eigentlich geplant hatten.
Ratsamer als Alarmstimmung zu verbreiten, ist es also, nüchtern die Situation zu analysieren und dann alle vorhandenen Ansätze zur Lösung der Herausforderungen zu verfolgen – damit der Arbeitsmarkt auch in Zukunft nicht leergefegt wird.
Titelbild: Toa Heftiba - CC0 1.0