Oh, Mann*Frau! Wie sag ich’s nur?
Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Glaubst du nicht? Dann lies selbst …
Ein Vater fuhr mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglückten. Der Vater starb an der Unfallstelle. Der Sohn wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und musste operiert werden. Ein diensthabendes Mitglied des ärztlichen Personals eilte in den OP, trat an den Operationstisch heran, auf dem der Junge lag, wurde kreidebleich und sagte: ›Ich bin nicht imstande zu operieren. Dies ist mein Sohn.‹
Wie kann das sein?
Des Rätsels Lösung ist einfach: Das »diensthabende Mitglied des ärztlichen Personals« ist die Mutter des verletzten Jungen. Warum fällt es uns dennoch so schwer, darauf zu kommen? Die Kurzgeschichte offenbart ein kulturelles Phänomen, das mit unserer Sprache eng verknüpft ist. Ist von einem »diensthabenden Mitglied des ärztlichen Personals« die Rede, gilt unser erster Gedanke dem Bild eines Mannes – nicht dem einer Frau.
Wenn ich als GermanistGermanistinGermanist*in auf einer Party versuche, über Sprachwandel zu sprechen, ernte ich meist nur genervte oder gelangweilte Blicke. Doch ein ganz bestimmtes Sprach-Thema, ja nur ein Wort, sorgt regelmäßig dafür, dass jede gemütliche Gesprächsrunde zu einer hitzigen Debatte wird: Gendern.
Das Mitdenken und Mitsprechen von Geschlechtern ist ein Reizthema, das polarisiert. Die 2 Dutzend E-Mails und Nachrichten, die wir seit dem Start von Perspective Daily vor gut 2 Monaten dazu erhalten haben, sprechen für sich.
Ich finde es traurig, dass ein Online-Magazin im Jahr 2016 nicht stärker gendert.
Wenn ihr Gendern einführt, habt ihr ein Mitglied weniger.
Wir geben euch LesernLeserinnenLeser*innen jetzt die Wahl: Lest diesen Text auf 3 verschiedene Arten und findet selbst heraus, wie das Geschlecht in der Sprache euer Denken beeinflusst!
Welches Geschlecht wählst du?
Bevor ich – abseits von Polemik und politischen Kampfbegriffen – das Für und Wider des Genderns beleuchte, muss ich 2 Begrifflichkeiten klären.
- Gendern bedeutet, bei Begriffen mit Geschlecht eine möglichst neutrale Schreibweise zu wählen. So soll verhindert werden, dass der Leserdie Leserinder*die Leser*in den Begriff mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert. Dafür können unterschiedliche Schreibweisen genutzt werden. Die Praxis des Genderns stammt aus der feministischen Linguistik.
- Gender steht sowohl für das biologische Geschlecht als auch die soziale Kategorie, der wir uns zuordnen. Dazu gehört die psychologische Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe, zum Beispiel Mann und Frau, aber auch
Die hitzigen Debatten zum Gendern enden meist schnell: Die einen können nicht nachvollziehen, wie wir im Jahr 2016 auf das Gendern verzichten können; die anderen verstehen die ganze Diskussion nicht, da jede Form des Genderns lediglich die Lesbarkeit störe.
Was spricht wirklich dafür und dagegen?
These Nummer 1: »Gendern stärkt Gleichstellung«
Die Kurzgeschichte vom Einstieg verweist auf ein Ungleichgewicht in unserer Kultur: Bestimmte Berufe (zum Beispiel Arzt, Polizist, PolitikerÄrztin, Polizistin, PolitikerinArzt*Ärztin, Polizist*in, Politiker*in) und Eigenschaften (zum Beispiel zielstrebig, durchsetzungsstark, analytisch) assoziieren wir eher mit Männern, als mit
Mit diesem Bewusstsein im Hinterkopf kommt die Idee des Genderns ins Spiel: Wenn Unternehmen das »Geschlecht mitdenken« und die Sprache bei Ausschreibungen anpassen, schrecken sie weibliche BewerberBewerberinnenBewerber*innen weniger ab. So trauen sich tatsächlich mehr Mädchen typisch »männliche Berufe« zu, wenn auch
Ein weniger ermutigendes Ergebnis der Studie: Trotz einer geschlechterbewussten Berufsbezeichnung bewerten wir klassisch »weibliche Berufe« als weniger wichtig und haben eine geringere Gehaltseinschätzung.
Fazit: Geschlechterbewusste Sprache betont, dass unterschiedliche Geschlechter verschiedene Tätigkeiten ausführen können und sollen. So können zum Beispiel Berufe, die traditionell eher mit bestimmten Geschlechtern assoziiert werden, Anreiz und Zukunftschancen für andere Geschlechter bieten. Das ist im Sinne der beruflichen Gleichstellung der Geschlechter. Über die berufliche Perspektive hinaus gibt es zahlreiche andere Themenfelder, bei denen wir von Männern reden, aber alle Menschen meinen.
These Nummer 2: »Gendern macht andere Geschlechter sichtbar«
Kommen wir zur Grammatik – keine Sorge, ich halte es kurz. Im Deutschen haben wir grammatikalisch gesehen ein generisches Maskulinum – das heißt: Weibliche Bezeichnungen wie »Autorin« und »Polizistin« stehen nur für weibliche Personen; männliche Bezeichnungen wie »Autor« und »Polizist« können hingegen auch weibliche Personen
Doch
Und was passiert, wenn wir den Spieß einfach umdrehen? Alles weiblich. Das zeigt ein Experiment der Uni Leipzig. Dort wurde im Jahr 2011
Die Reaktionen auf das Experiment: Belustigung unter JournalistenJournalistinnenJournalist*innen, Empörung an der Hochschule. Die Aktion ist sicher gut gemeint, aber ebenfalls verzerrend. Das generische Femininum reduziert (zugunsten der Lesbarkeit) die Wahrnehmung aller nicht-femininen Geschlechter. Also quasi das gleiche Problem, nur in »blau«. Das Ziel, Männer, Frauen und andere Geschlechteridentitäten gleichermaßen anzusprechen oder zumindest sichtbar zu machen, wird so nicht erreicht. Eins hat das Experiment in Leipzig auf jeden Fall erreicht: Einen symbolischen Anstoß zu geben, um mehr Menschen für das eigentliche Dilemma zu sensibilisieren.
Fazit: Eine gleichmäßige Ansprache aller Geschlechter ist gar nicht so einfach. Die traditionelle Form der deutschen Sprache spricht Männer stärker an, neue Formen wollen andere Geschlechter sichtbar machen. Eine klare Lösung gibt es (noch) nicht.
These Nummer 3: »Gendern hindert den Lesefluss und das Verständnis«
Sprache ist nicht in Stein gemeißelt. Sie entwickelt sich ständig und passt sich sozialer Entwicklung an –
Mindestens 5 Möglichkeiten habe ich beobachtet:
- Paarform: In öffentlichen Dokumenten hat sich zur Vorbeugung von Diskriminierung die Zweifachnennung
- Alternierendes Geschlecht: Eine kreative Gendern-Alternative ist die Idee eines alternierenden Geschlechts in Texten. Dabei wird regelmäßig (etwa jeden Absatz oder jede Seite) das Geschlecht gewechselt. Auf einer Seite werden »Leser« angesprochen, auf der nächsten »Leserinnen«. Die Regelmäßigkeit beugt Diskriminierung vor. Die Kritik: Dabei verliert sich unter Umständen der grammatische Bezug und Übergangsstellen könnten missverständlich werden.
- Binnen-I: Bei dieser Variante werden 2 Formen aneinandergereiht und durch ein großgeschriebenes »I« verbunden, zum Beispiel: FeministIn. Damit ist sowohl der männliche Feminist als auch die weibliche Feministin gemeint. Das Problem: Allein das »I« markiert die männliche Form, schnell gelesenen wirkt es wie das grammatisch weibliche Geschlecht – oder ein Tippfehler. Außerdem sind alle anderen Geschlechter nicht mit einbezogen. Argumentiert man nun, diese seien dabei »doch mit gemeint«, hätten wir auch gleich beim generischem Maskulinum bleiben können – es sei ja dieselbe Idee nur in
- Gender-Gap: Um alle Geschlechter in der Sprache kenntlich zu machen, dient die »Geschlechter-Lücke«
- Neue Form: Die vielleicht extremste Variante schlägt die Genderforscherin Lann Hornscheidt der Berliner Humboldt-Universität
Eines haben alle konkreten Vorschläge zum Gendern von Texten gemeinsam: Sie sind ungewohnt und hindern zunächst den Lesefluss. Vor allem für Kinder mit Sprachdefiziten oder MigrantenMigrantinnenMigrant*innen sind gegenderte Texte schwerer
Außerdem tragen polarisierende und sensationshungrige Berichte und Beiträge bei sozialen Medien zu einer Skepsis gegenüber dem Thema bei. Gerade konservative Kreise verschließen sich teilweise vollständig dem Thema Gendern und laufen so Gefahr, auch Geschlechtergerechtigkeit zu vernachlässigen.
Die Suche nach einer gangbaren, geschlechterneutralen Form ist in Deutschland nicht abgeschlossen. Der Rat der deutschen Rechtschreibung etwa betont bei seinen Überlegungen zum Binnen-I: »Seine Verbreitung [ist] nicht so allgemein gebräuchlich, dass es ins Rechtschreibregelwerk aufgenommen werden müsste. Das kann sich im Lauf der Zeit freilich ändern (und der Rechtschreibrat wird das beobachten).« Dabei hat er sicher noch die Rechtschreibreform von 1996 im Hinterkopf, die in der deutschen Bevölkerung auf breiten Widerstand stieß.
Der Schriftsteller
Wird man also ständig mit Wörtern konfrontiert, deren Aura zerstört ist, weil sie zerschnitten sind […], weil sie so, wie sie jetzt geschrieben werden, anders klingen […], dann ist die Wahrnehmung dieser Zerstörung jedes mal ein Mikrotrauma, eine winzige psychische Läsion, was auf die Dauer entweder zu Sprachdesensibilisierung, Abstumpfung und Resignation oder zu zunehmend unfreundlicheren Gefühlen denen gegenüber führt, die das alles ohne Not verursacht haben.
Fazit: Sprache verändert sich ständig und wurde auch in der Vergangenheit aktiv modifiziert. Eine Reform der Sprache von oben stellt aber einen Eingriff der Beziehung eines Leserseiner Leserineines*einer Leser*in zu seiner Sprache dar und kann entfremden. Es gibt zahlreiche Arten zu gendern, die alle Vor- und Nachteile haben.
Kann Gendern die Welt verändern?
Kommen wir zur unausgesprochenen, zentralen Idee hinter der Praxis des Genderns in der Sprache. Das Ziel ist dabei nicht weniger, als die Welt zu verändern, oder wenigstens das Denken der sprechenden Menschen. Zumindest bei der Wahrnehmung von Stellenausschreibungen scheint das ja der Fall zu sein. Aber wie weit kann Sprache unsere Wahrnehmung wirklich beeinflussen?
BefürworterBefürworterinnenBefürworter*innen der These nennen an dieser Stelle gern die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese: In den 1950er-Jahren untersuchte der US-amerikanische Linguist Benjamin Whorf die Sprache der Hopi-IndianerIndianerinnenIndianer*innen. Sein Ergebnis: Sie haben keine Möglichkeit, Zeit auszudrücken und sind darum nicht in der Lage, zeitliche Einheiten zu denken. Die Schlussfolgerung: Unsere Sprache bestimmt unser
Das Problem an dieser Idee: Die Grundlagen der Hypothese sind mittlerweile widerlegt. Die Hopi-IndianerIndianerinnenIndianer*innen haben sehr wohl Möglichkeiten, Zeit
Auf das Gendern bezogen bedeutet das: Gendern als Sprach-Praxis kann theoretisch tatsächlich dabei helfen, ein Umdenken in der Gesellschaft zu fördern und andere Geschlechter mitzudenken. Doch das geht auch ohne Sprache, einfach dadurch, dass wir anfangen, diese Geschlechter mitzudenken und uns über sie zu informieren. Eine nachhaltige Veränderung kann schon bei der eigenen Wahrnehmung anfangen.
Gendern oder nicht Gendern ist damit eine Gretchenfrage, die jedes Medium (ja sogar jeder Sprecherjede Sprecherinjede*r Sprecher*in) für sich selbst beantworten muss. Das heißt natürlich nicht, dass damit die ganze
Ein solides Fazit zieht hier die Universität Leipzig nach ihrem Experiment mit dem generischen Femininum. 3 Jahre nach Einführung bilanziert der Gleichstellungsbeauftragte Georg Teichert im Deutschlandfunk:
»Ich weiß nicht, ob da ein tiefgreifendes Verständnis für Gleichstellungsfragen entstanden ist, da würde ich eher kritisch sein, aber zumindest ist auch bei sehr vielen konservativen Einrichtungen ein Bewusstsein dafür entstanden, was man mit Sprache machen kann und dass Sprache auch Bewusstsein
Und nun? Was bedeutet das für Perspective Daily?
Auch wir hatten während der Entstehung von Perspective Daily eine längere Diskussion – wenn auch nicht so hitzig, wie meine Party-Gespräche – zum Thema Gendern. Teil des Ergebnisses ist dieser Text, mit dem wir über das Tool für das Thema des Geschlechterbewusstseins sensibilisieren möchten.
Was wir uns sonst noch überlegt haben, erfährst du in den Diskussionen.
Titelbild: Mario Purisic - CC0 1.0