Du zahlst zu viele Steuern. Aber aus anderen Gründen, als du denkst
Deutschland besteuert seine Durchschnittsverdiener so hoch wie kaum ein anderes Land. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wer dafür verantwortlich ist – und wie es wieder anders werden kann.
Jedes Jahr aufs Neue ist es Anfang April so weit. Der deutsche Steuerzahler kocht vor Wut,
Und weißt du was?
Wir kochen zu Recht: Deutschland belegt hinter Belgien Platz 2 der Liste, bis zu 49,5% muss eine alleinstehende Durchschnittsverdienerin hierzulande von ihrem Lohn abtreten. Dieser Wert sorgt berechtigterweise für Zähneknirschen, auch wenn wir nicht vergessen dürfen, dass darin Sozialabgaben für Gesundheit, Pflege und Rente enthalten sind.
Doch diese hohe Belastung ist nicht gleichmäßig auf alle Schultern der Gesellschaft verteilt – und das ist auch richtig so: Der Lohn von Geringverdienern etwa ist – wie die Bezeichnung schon sagt – so gering, dass kaum Spielraum für Steuern und Abgaben bleibt, Arbeitssuchende können mangels Einkommen gar keine Abgaben beisteuern.
Das ist fair, denn unser Steuersystem ist so geregelt, dass jeder Bürger gemäß seinen finanziellen Möglichkeiten zum Gemeinwesen beizutragen hat, die Abgaben folgen also dem sogenannten »Leistungsfähigkeitsprinzip«. Wer wenig hat, kann wenig beisteuern – was im Umkehrschluss bedeutet, dass die finanziell stärkeren entsprechend ihrer höheren Einkommen mehr schultern müssen.
Vermögen ist Einkommen für Fortgeschrittene.
Folgen wir dieser Logik, sind diejenigen Menschen unserer Gesellschaft steuerlich am leistungsfähigsten, die am reichsten sind. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dabei geht es nicht um die Oberärztin mit 10.000 Euro Bruttoverdienst, ebenso wenig wie um den selbstständigen Familienunternehmer mit 50 Angestellten.
Es geht also, anders gesagt, nicht um die Porschefahrer oder Rolexträgerinnen dieses Landes, es geht um die Privatjetflieger. Also zumindest um die 45 Personen am oberen Ende der Reichtumsskala, die zuletzt so viel Vermögen besaßen wie die 41 Millionen Menschen, die das untere Ende der Vermögensskala bilden.
Da unser Gehirn Zahlen in einer solchen Größenordnung nicht mehr richtig einordnen kann, hilft es, Vergleiche wie diesen
Der jährliche OECD-Bericht kümmert die Menschen oberhalb des DIN-A4-Blattes wahrscheinlich in etwa so sehr wie der nächste Streik des Ryanair-Personals: nämlich gar nicht. Denn seit Ende der 1990er-Jahre wurden sämtliche Steuerarten, die besonders auf die Superreichen abzielten, systematisch abgebaut.
Welche das sind, wie es dazu kommen konnte – und wie wir die Uhr vielleicht zumindest ein bisschen zurückdrehen können, erfährst du auf dieser Reise durch die goldene Zeit für Vermögende, die vor ungefähr 20 Jahren begann.
Abfahrt!
Happy (?) Birthday! – Unser Steuersystem wird 100 Jahre alt
Bevor wir unseren Blick auf die Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre richten, lohnt es sich, noch ein ganzes Stück weiter auszuholen. Denn unser Steuersystem, wie wir es kennen, ist ein wahrer Greis und hat in seinen Grundzügen bereits ein ganzes Jahrhundert auf dem Buckel.
Auf zum ersten Stopp: Das Ende der Kaiserzeit!
1919: Der Erste Weltkrieg ist für das Deutsche Reich verloren. Millionen von Menschen aus aller Welt haben ihr Leben verloren, noch viele mehr sind – auch abseits der Fronten – von Leid, Elend und Hunger betroffen.
Schwere Startbedingungen für die erste Republik auf deutschem Boden: Die Weimarer Republik startet mit einer Staatspleite in eine
1923 wird eine Steuer auf
So viel zur Geburt der ersten Steuer auf Vermögen in Deutschland. Zeit, unsere Zeitmaschine wieder zu besteigen. Nächster Halt: Nachkriegsdeutschland, die zweite!
Vom Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung
Die Zeitspanne zwischen der totalen Niederlage Hitlerdeutschlands im Jahr 1945 über die Zeit des Wiederaufbaus bis hin zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 füllt Bände von Geschichtsbüchern und unzählige Uniseminare.
Mit unserer Zeitmaschine geht die Suche nach den Zusammenhängen etwas flotter.
1949: Die Vermögensteuer übersteht den Zweiten Weltkrieg und findet in Artikel 106 Einzug in das neu erlassene Grundgesetz. 3 Jahre später beschließt der Bundestag das Vermögensteuergesetz.
1952–1970: Die deutsche Wirtschaft boomt und lässt so auch die Steuereinnahmen sprudeln. Die Vermögensteuer trägt knapp 2% zum gesamten Steueraufkommen bei, was heute etwa 15 Milliarden Euro pro Jahr
1971: Wie schon in den 1920er-Jahren ist auch in diesem Jahr die Diskussion über eine zumutbare Steuerlast und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates immer ein Streitthema, die Bundesregierung unter Willy Brandt denkt über Reformen nach. Eine eigens eingesetzte Steuerreformkommission hält jedoch fest, dass es an der Vermögensteuer nichts zu rütteln gebe, denn sie schöpfe einen Teil der Leistungsfähigkeit ab, die das »Vermögen als solches« begründe. Entscheidend sei die »in dem Vermögen selbst unabhängig von seinem Ertrag begründete besondere steuerliche Leistungsfähigkeit.« Soll heißen: Es kann den Reichen durchaus zugemutet werden, dass sie einen größeren Teil beitragen als diejenigen,
So weit, so geradlinig der Lauf der Steuergeschichte: »Man hat in Deutschland schon immer nicht nur die Einkommen und Lohn besteuert, sondern auch vorhandenes Vermögen«, erläutert Joachim Wieland, Professor für Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. »Das bringt Leistungsfähigkeit zum Ausdruck und ist somit steuerrechtlich eigentlich ganz selbstverständlich.«
Doch irgendwann kam es zu einer Weichenstellung, die den Kurs der Vermögensbesteuerung veränderte.
Die letzten 25 Jahre – Goldene Zeiten für Vermögende
Diesmal können wir die Zeitmaschine auf ein konkretes Datum kalibrieren, denn der Tag, an dem die Vermögensteuer in Deutschland ihr Ende fand, ist noch nicht lange her.
1995: Es ist der 22. Juni. Das Bundesverfassungsgericht urteilt, dass die Vermögensteuer gegen das Grundgesetz verstößt. Der Grund: Sie ist ungerecht – aber nicht, weil die Vermögenden zu Unrecht belastet würden. Stefan Bach forscht am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu den Themen Steuerpolitik und Einkommens- und Vermögensverteilung. Er erklärt mir, warum: »Der Wert von Vermögen in Form von Immobilien wurde damals anhand sogenannter Einheitswerte berechnet,
Die schwarz-gelbe Regierungskoalition unter Helmut Kohl bekommt vom Verfassungsgericht eine Frist, um diese Ungerechtigkeit zu beheben, und zwar bis …
1997, … und entscheidet sich, die Vermögensteuer gar nicht mehr zu erheben. »SPD und Grüne forderten eine Neubewertung der Immobilien, aber die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit entschied sich, die Steuer faktisch einfach auslaufen zu lassen«, erläutert Stefan Bach.
»Dabei sieht das Grundgesetz ausdrücklich vor, diese Steuer zu erheben. Das hat das Bundesverfassungsgericht nie in Zweifel gezogen«, sagt Steuerrechtler Joachim Wieland. »Die Vermögensteuer entsprach 1995 lediglich nicht mehr den Anforderungen der Steuergerechtigkeit, weil die Immobilien viel zu gering bewertet wurden.«
Die Vermögensteuer ist der lebende Tote unter den Steuerarten
Und so wurde die Vermögensteuer zum Zombie der deutschen Steuerlandschaft: Nicht mehr eingefordert, aber formal auch nie abgeschafft. Wenn aber SPD und Grüne für den Erhalt sind, warum haben sie dann …
1998, … nach Regierungsantritt der rot-grünen Regierungskoalition unter Gerhard Schröder nicht für eine Wiederbelebung des lebenden Toten gesorgt? Kanzler Schröder äußerte sich nicht persönlich zum zunehmenden Druck aus der eigenen Partei, genau dies zu tun. Stattdessen ließ er über eine Sprecherin mitteilen, er habe
Egal wie man es dreht und wendet, klar ist: »Der Staat hat in dieser Zeit auf die Einnahmen aus der Vermögensteuer verzichtet und die Ausgaben nicht gesenkt« resümiert Joachim Wieland. »Daher mussten die Einnahmen in einem anderen Bereich erhöht werden.« Und zwar von jedem von uns, wie wir bei unserem nächsten Stopp erfahren.
2005: »Zur Mehrwertsteuererhöhung sage ich ganz klar: ›Nein!‹«, verkündet eine gewisse Angela Merkel in der »ZDF-Wahlarena« im Rahmen des Bundestagswahlkampfs, obwohl die CDU angekündigt hatte, die Mehrwertsteuer im Falle des Wahlsiegs um 2 Prozentpunkte auf 18% erhöhen zu wollen. Die SPD ist strikt dagegen und plakatiert währenddessen »Merkelsteuer – das wird teuer!«.
Zwei plus null = drei! Moment, was?
2006: Die Volksparteien finden sich in einer Großen Koalition wieder und einigen sich beim Streitthema Mehrwertsteuer auf einen Kompromiss – statt um die von der CDU ursprünglich geforderten 2
Mit diesen Eindrücken im Gepäck können wir ein letztes Mal den Motor anwerfen, um 13 Jahre zurück in die Zukunft zu steuern!
Zurück in der Zukunft
Nun ist es aber dringend an der Zeit, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Also, was war noch mal passiert? Einmal mehr hilft mir der Steuerrechtler Joachim Wieland auf die Sprünge: »Statt Vermögen durch die Vermögensteuer – oder auch durch die
Nun zum grundsätzlichen Problem, das daraus folgt: Die Mehrwertsteuer, aus der sich die öffentliche Hand mehr und mehr finanziert, ist im Kern eine absolut ungerechte Steuer.
»Wer wenig Geld hat, muss alles davon für den Konsum von überlebenswichtigen Dingen ausgeben«, so Wieland. Also für die absolut minimale Daseinsvorsorge wie Miete, Essen und Trinken oder für Klamotten. »Je größer das Einkommen eines Menschen ist, umso weniger muss er anteilig für diesen lebensnotwendigen Konsum ausgeben.«
Oder anders gesagt: Die Mehrwertsteuer ist im Gegensatz zu Steuern, die auf das Vermögen zielen, blind dafür, wie voll der Geldbeutel des Einkaufenden ist – Arm und Reich bezahlen den gleichen Satz. 275 Milliarden Euro wurden so an Mehreinnahmen gegenüber einem
Das ist ein Umbau des Steuersystems, der meines Erachtens dem Sozialstaatsprinzip nicht entspricht.
Und genau hier liegt die Antwort auf die Frage begraben, derentwegen wir uns ganz zu Anfang dieses Textes auf die Reise durch 100 Jahre Steuergeschichte gemacht haben. Die Antwort, warum die Steuerbelastung für alle unterhalb der Vermögensgrenze von 1 Million Euro plus x in Deutschland so hoch ist: »Weil eben die Mittelschichten und auch die Besserverdiener, nicht aber die wirklich Reichen über Einkommens- und Mehrwertsteuer überproportional stark zur Kasse gebeten werden«, so Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. »Gleichzeitig wurde ganz oben, bei den Superreichen, in den letzten 20 Jahren ordentlich entlastet.«
So wurde die Steuerlast durchgereicht, zu den Ärztinnen und Rechtsanwälten, zu den Bürokaufleuten – und zuletzt auch zum Geringverdiener,
Letzter Halt – eine gerechtere Zukunft?
Unsere gemeinsame Zeitreise hat nicht nur gezeigt, warum es heute ist, wie es ist, sondern auch, dass unsere Welt heute eine andere ist, als sie zu Zeiten der Weimarer Republik oder des Wirtschaftswunders war.
Das heißt, dass wir auch in Sachen Vermögensbesteuerung die Uhr nicht einfach zurückdrehen können: »Man muss schon sehen, dass die Menschen im obersten Vermögensbereich relativ mobil sind«, gibt Stefan Bach zu bedenken. Dabei gehe es weniger darum, dass sie bei höheren Steuern auswandern – das sei gar nicht nötig, denn durch die internationalisierten Kapitalmärkte kann ihr Vermögen relativ einfach »auswandern«
Wenn also jeder seinen fairen Anteil gemäß seiner Leistungsfähigkeit zahlen soll, müssen wir konsequenterweise international denken: »Am sinnvollsten wäre es, wenn zumindest die EU oder besser die OECD-Staaten gemeinsam aktiv werden«, sagt Stefan Bach. Er spricht sich dafür aus, dass alle Staaten gemeinsam sowohl eine Mindest-Unternehmensteuer von wenigstens 15% plus x einführen und zudem einheitliche Elemente einer Vermögensteuer, und zwar »für die Superreichen ab 5 Millionen Euro Vermögen, was ja schon jenseits von Gut und Böse und für den Normalbürger niemals zu erreichen ist.«
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty
Zum Vergleich: Laut einer
Der Steuerjurist und Staatsrechtler beschreibt eines der größten Hindernisse für diese vermeintliche Utopie so: »Die Gegner einer Vermögensteuer haben es geschafft, beim Durchschnittsbürger den Eindruck zu erwecken, dass auch das eigene kleine Eigenheim oder der mittelständische Betrieb mehr belastet werden würde.«
Mit Illustrationen von Isabell Altmaier für Perspective Daily