Schluss mit dem täglichen Weltuntergang
Perspective-Daily-Gründerin und Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat in ihrem neuen Buch darüber geschrieben, wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren. Lies hier einen exklusiven Vorabauszug daraus.
Am ersten Aprilwochenende 2018 mit Frühlingswetter fährt ein Mann einen Campingbus in das Traditionslokal Kiepenkerl in der Innenstadt Münsters in Westfalen. In den darauffolgenden Stunden des 7. Aprils wird meine Heimatstadt der lebende Beweis für einen mittlerweile gut erforschten Zusammenhang zwischen Medien und Stresswahrnehmung.
Wer an diesem Tag die Nachrichten verfolgte, konnte nicht nur allerhand Falschmeldungen zu vermeintlichen Hintergründen der Tat in den Livetickern mitverfolgen, er erfuhr auch vor allem eines:
Nachrichten sind stressiger als die Realität
Wahrscheinlich sind die Menschen, die von der Amokfahrt in Münster aus den Medien erfahren haben, gestresster und emotional aufgewühlter als diejenigen, die selbst in der Nähe des Tatorts waren. Diesen Effekt belegen die Ergebnisse einer Studie, die Wissenschaftler in den Wochen nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013 durchführten: Menschen, die zahlreiche Medienberichte in Zeitungen, Radio und Fernsehen über den Anschlag konsumierten, hatten ein
Die Studie zum Boston-Marathon ist nicht die einzige, die die negativen Folgen der Katastrophen-Berichterstattung für unsere psychische Gesundheit zeigt. Die Liste der schädlichen Folgen des anhaltenden Konsums negativer Nachrichten ist lang. So können aus der daraus resultierenden schlechten Laune und gesteigerten Angst chronisch schlechte Laune und anhaltende Angstzustände werden.
So zeigten Wissenschaftler in einer Untersuchung den Versuchsteilnehmern Videos mit negativen Nachrichten, um sie im Anschluss nach ihrer Stimmung zu fragen. Wenig überraschend waren die Probanden nach den Videos ängstlicher und trauriger als davor. Die Videos wirkten sich sogar auf die Wahrnehmung der eigenen Probleme aus. Die Probanden tendierten dazu, ihre persönlichen Probleme als deutlich größer und bedrückender einzuschätzen,
Wir lernen, hilflos zu sein
Bekommen wir immer wieder nur das vorgesetzt, was falsch läuft in der Welt, sorgt das bei uns nicht nur für ein zu negatives Weltbild und möglicherweise chronischen Stress, der uns krank machen kann. Es lässt uns auch hilflos zurück. Dabei spielt ein bekanntes Phänomen der Psychologie eine Rolle, die sogenannte erlernte Hilflosigkeit. Der Begriff und die ersten Untersuchungen dazu gehen auf den amerikanischen Psychologen Martin Seligman zurück. In den späten 1960er-Jahren
Katastrophen, Mord und Totschlag auf allen Kanälen können uns in einen Zustand der erlernten Hilflosigkeit versetzen.
So zum Beispiel bei Schulkindern. Bekommen diese von einem Lehrer wiederholt lösbare und von einem anderen Lehrer immer wieder unlösbare Matheaufgaben gestellt, lernen auch sie, den Aufgaben des zweiten Lehrers gegenüber »hilflos« zu sein. Denn wenn der plötzlich die gleichen – und damit lösbaren – Aufgaben wie der erste Lehrer verteilt, sind sie trotzdem nicht in der Lage, die Lösungen zu finden. Auch wenn sie zuvor die gleichen Aufgaben schon erfolgreich gelöst hatten, wenn der erste Lehrer diese gestellt hatte. Die Schulkinder hatten gelernt, dass Lehrer Nummer 2 nur unlösbare Aufgaben verteilt – jeder Lösungsversuch erschien also aussichtslos.
Die Ergebnisse lassen sich auch auf unseren Medienkonsum übertragen: Denn die geballte Ladung Katastrophen, Mord und Totschlag auf allen Kanälen kann uns in einen Zustand der erlernten Hilflosigkeit versetzen. Als die amerikanische Medienwissenschaftlerin Grace Levine die Abendnachrichten im Fernsehen 2 Jahre nach den ersten Studien zu erlernter Hilflosigkeit analysierte, stellte sie fest: Mehr als 70% aller Beiträge zeigten unterschiedliche Ausprägungen von Hilflosigkeit, also Menschen, die sich in
Übertragen auf die Medien bedeutet das: Bekommen wir dort immer und immer wieder gezeigt, wie ausweglos viele Situationen sind, und werden wir fast ausschließlich mit Problemen konfrontiert, lehren uns die Nachrichten Hilflosigkeit. Für jeden Einzelnen
Das Versagen der Medien?
Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass Medienberichte bei uns oft genau das Gegenteil ihres eigentlichen Zwecks hervorrufen: Statt uns zu empören und unsere Wut in Energie und gesellschaftliches Engagement umzuwandeln, sind wir durch sie gestresst und überfordert, im schlimmsten Fall gar deprimiert. Schließlich können die in vielen Berichten gezeigten Menschen und somit sicherlich auch wir selbst offenbar nichts ausrichten. Stattdessen stehen wir den Problemen und Herausforderungen machtlos gegenüber und lernen durch das immer wiederkehrende Narrativ der Hilflosigkeit, selbst hilflos zu sein.
Kann es da jemandem verübelt werden, wenn er sich von den Medien und damit auch den aktuellen gesellschaftlichen oder internationalen Problemen und Herausforderungen abwendet? Wenn er sich stattdessen zurückzieht, in sein eigenes Leben, in das »neue Biedermeier«? Statt sich über Klimawandel, Migration und geopolitische Spannungen tiefgehende Gedanken zu machen, schnappt er sich dann eines der Wohlfühl-, Yoga- oder Ernährungs-Magazine, die uns so zahlreich und bunt am Bahnhofskiosk entgegenlachen. Farbenfroh verraten sie den Bahnreisenden, wie sie am besten Marmelade einkochen, Freunde fürs Leben finden und Familienkonflikten vorbeugen.
Statt einer informierten Bevölkerung haben wir eine Bevölkerung, die gelernt hat, hilflos zu sein.
Nach ihren Gründen gefragt, bestätigen Nachrichten-Verweigerer auf der ganzen Welt die Ergebnisse der Studien zur Nachrichtenwirkung. Fast jeder zweite Befragte, der aktiv versucht, Nachrichten nicht zu konsumieren, begründet seine Entscheidung damit, dass sich die Nachrichten negativ auf die eigene Stimmung auswirkten. Auch Platz 3 und 4 der meistgenannten Gründe sollten dir bekannt vorkommen: »Ich habe nicht das Gefühl, dass ich irgendetwas tun kann« und
Hier kommt das Thema Gewohnheiten ins Spiel: Wir haben uns nicht nur an Katastrophenbilder, reißerische Überschriften und Weltuntergangsszenarien gewöhnt, sondern eben auch an das Gefühl der Machtlosigkeit. Mit anderen Worten ist die durch unseren Medienkonsum antrainierte erlernte Hilflosigkeit nichts weiter als eine Gewohnheit inklusive entsprechender Erwartungshaltungen. Mit der modernen Medienwelt konfrontiert, muss unser Gehirn, metaphorisch gesprochen, täglich kurz vor der Überhitzung stehen: Es ist, wie unser gesamter Körper, biologisch nicht auf eine Welt ausgelegt, in der ständig der Weltuntergang droht. Um Kabelbrände oder gar den Komplettausfall zu verhindern, lohnt es sich also,
Titelbild: Greg Rakozy - CC0 1.0