Bamba Chakula: Wenn Geflüchtete mit dem Handy bezahlen
Stundenlanges Anstehen: Bei der Verteilung von Notrationen kommt es in Flüchtlingslagern oft zu Spannungen und Verteilungskämpfen. Kenia geht einen neuen Weg und verteilt statt Reissäcken digitales Geld. Damit können die Menschen selbst einkaufen und entscheiden, was auf den Tisch kommt.
Es ist heiß in der engen Gasse zwischen den Wellblechbaracken – 38 Grad Celsius. Doch hunderte Menschen drängen sich über den Lehmboden im sogenannten Äthiopier-Markt von Kakuma. Das Flüchtlingslager liegt inmitten einer Trockensavanne im Nordwesten Kenias, nahe den Grenzen zu Uganda und dem Südsudan.
»Hier von diesem Reis eine Schütte!« Christine Sande dirigiert den Verkäufer durch den Laden und lässt ihn Tüte um Tüte mit Lebensmitteln füllen: braune Bohnen und Rohrzucker aus dem Leinensack, dazu abgepacktes Mehl, mit Backpulver gemischt. Die roten Zwiebeln sucht sie selbst aus und füllt eine blaue Einkaufstüte damit. Heute macht die junge Mutter Großeinkauf, es muss den ganzen Monat für sie und ihre Familie ausreichen.
Christine Sande hat aber kein Geld in der Tasche. Sie ist Geflüchtete aus dem Sudan und auf Nahrungshilfe angewiesen. Sie bezahlt Bohnen und Mehl mit einer SIM-Karte, wie sie in jedem Handy steckt. Dazu gibt sie den Chip dem Kassierer. Der sitzt umringt von einem Dutzend anderer Kunden vor der Wellblechbaracke und macht den gesamten Tag nichts anderes, als die SIM-Karten der Einkäufer in ein Handy zu stecken, den Akku einzulegen, das Gerät anzuschalten und die vom
»Hol dir dein Essen«
»Bamba Chakula« ist Suaheli und bedeutet »Hol dir dein Essen«. So heißt das System, das im August 2015 vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen erstmals im Flüchtlingslager Kakuma eingeführt wurde. Statt die Nahrungsmittel an zentralen Ausgabe-Stationen an alle Lagerbewohner auszuteilen, wird der größte Teil gegen das Guthaben der Geflüchteten verkauft. Jeder von ihnen erhält eine spezielle Telefonkarte und kann so per SMS Guthaben empfangen. Um Missbrauch zu vermeiden, müssen sich Berechtigte zuvor per Fingerabdruck-Scan registrieren lassen. High-Tech in der Wüste.
Gleichzeitig verkündete die kenianische Regierung Anfang Mai 2016, das weltweit größte Flüchtlingslager Dadaab mit aktuell 345.000 Geflüchteten und auch Kakuma, das zweitgrößte Lager in Kenia,
Mehr als 500.000 Geflüchtete brauchen täglich Essen
Christine Sande kam als Kind vor 14 Jahren nach Kakuma. Aus dem Sudan war sie vor der grausamen Verfolgung durch marodierende Milizen geflüchtet, die Dörfer überfallen und ausgerottet hatten. An eine Rückkehr ist seitdem nicht zu denken, denn der Konflikt ist auch nach der Abspaltung des Südsudans vom Sudan 2011 nicht gelöst. Inzwischen ist sie selbst Mutter und hat ihre Kinder im Lager geboren. Mit diesen lebt sie in einer der für Kakuma typischen Baracken: Ein Wellblechdach, das mit Holzstelzen aufgeständert wird. Anfangs bilden weiße Zeltplanen die Außenwände der Hütten und schützen vor der Sonne und den Blicken der Nachbarn. Später erhalten die Geflüchteten getrocknete Lehmziegel, aus denen sie die Außenwände der Baracken mauern. Fenster und Türaussparungen werden mit Planen oder Tüchern abgehängt.
Eröffnet wurde das
In Flüchtlingslagern dieser Größe kommt es bei der zentralen Nahrungsverteilung in großen Ausgabestellen zwangsläufig zu Spannungen. Sei es aufgrund langer Wartezeiten oder einer Unzufriedenheit mit den Rationen und der Lebensmittelauswahl. Meist entsprechen die Lebensmittel nicht allen ethnischen oder religiösen Ernährungsgewohnheiten der Bewohner. Auch in Kakuma und Dadaab stellten die Mitarbeiter des Welternährungsprogramms immer wieder fest, dass viele Empfänger einen Teil ihrer Nahrung nach dem Empfang weiterverkauften, um sich mit dem Erlös Lebensmittel zu kaufen, die ihren Vorlieben entsprachen. Aus diesen Erfahrungen wurde die Idee des Bamba Chakula geboren.
90% der Haushalte in Kakuma kaufen bargeldlos ein
Im August 2015 ging es los: Zu Beginn wurden jedem Lagerbewohner monatlich nur 100 kenianische Schilling (umgerechnet etwa 1 Euro) überwiesen, um das System und die Akzeptanz zu testen. Inzwischen erhält jeder Bewohner jeden Monat 500 Schilling. Besteht ein Haushalt aus mehr als 2 Personen, gibt es nur 300 Schilling pro Person. Dazu kommen weiterhin feste Rationen von Grundnahrungsmitteln wie Getreide, Hülsenfrüchte, Speiseöl und mit Vitaminen angereicherte Aufbaunahrung. Kinder und Schwangere erhalten Zusatznahrung.
Mit Bamba Chakula können sich die Bewohner nun auch Lebensmittel wie Milch, frische Früchte, Gemüse und Fleisch kaufen. Dazu wird die in Kenia
Es folgten ein paar Anlaufschwierigkeiten: Einige Flüchtlinge bemängelten technische Probleme beim Empfang der Gutschein-SMS. Da die meisten Empfänger kein eigenes Handy besitzen, können sie ihr Guthaben nicht selbst überprüfen und sind somit auf Händler angewiesen. Es geht also auch um Vertrauen. In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden umgerechnet über 1 Million Euro per Bamba Chakula ausgezahlt.
Außerdem verzögert der schlechte Empfang immer mal wieder den Abbuchungsprozess, sodass Händler und Kunden warten müssen, bis die Verbindung steht.
Auch wenn sich einige dieser Herausforderungen nicht lösen lassen, funktioniert das System mittlerweile weitgehend reibungslos und die Zahlen sprechen für sich: Rund 250 Ladenbesitzer machen mit, die in ihren 10–50 Quadratmeter großen Baracken innerhalb des Lagers Lebensmittel und Haushaltswaren verkaufen. Die meisten der Händler sind selbst Geflüchtete aus dem Lager. Oft beschäftigen sie weitere Geflüchtete und verschaffen ihnen so ein kleines Einkommen. In Kakuma nutzen inzwischen über 90% aller Wohngemeinschaften, also mehr als 35.000 Haushalte, das System. In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden umgerechnet über 1 Million Euro per Bamba Chakula ausgezahlt. Zahlungen, die die Lebensmittel-Ausgabestellen entlasten und die lokale Wirtschaft ankurbeln.
Wirtschaftlicher Aufschwung im Flüchtlingslager
Abebe Chanako ist, wie die meisten anderen Händler, die seit Beginn dabei sind, begeistert. Am Eingang seiner Ausgabe-Station wartet ein Dutzend Frauen darauf, dass ihre SMS vom Kassierer in Gutscheine für den Einkauf umgewandelt werden. Innen sieht es aus wie in einem Tante-Emma-Laden: In der Mitte des kleinen Raumes stapeln sich große Säcke mit losem Reis, Bohnen, Getreide, Hülsenfrüchten. An den Wänden stehen Regale, gut gefüllt mit hunderten abgepackten Produkten: Fruchtsaftgetränke, Bonbons und andere Süßwaren, Reinigungsmittel und Plastikschüsseln aller Art.
Sein Geschäft mache nun deutlich mehr Umsatz als früher, sagt er. Er habe den Laden nach hinten vergrößert. Dennoch platzt der Vorratsraum aus allen Nähten. Christine Sande trägt unterdessen ihre Einkäufe in prall gefüllten Plastiktüten aus seinem Laden. Sie hat ihr gesamtes Bamba Chakula für diesen Monat bei ihrem Lieblingshändler ausgegeben.
Nach Angaben des WFPs macht jeder Händler im Schnitt monatlich etwa 1.500 Euro Umsatz mit Bamba Chakula. Bamba Chakula soll ein Beitrag gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in den Flüchtlingslagern sein.
Zusätzlich verkaufen sie an diese Kunden auch noch Produkte wie Haushaltswaren oder Genussmittel gegen Bargeld. Damit durch die Subventionen an Bedürftige die Preise nicht steigen, werden die Handelspreise für wichtige Lebensmittel überwacht und mit anderen Händlern verglichen. So fiel den Prüfern auf, dass im Januar und Februar die Preise für Milch wegen der steigenden Nachfrage jeweils zu den Auszahlungsterminen anstiegen. Mit den Händlern wurde daraufhin vereinbart, dass sie ihre Vorräte in Zukunft rechtzeitig vor den monatlichen Auszahlungsterminen aufstocken, um Engpässe und extreme Preisschwankungen zu vermeiden.
Das Programm steigert auch die Autonomie der Geflüchteten, denn sie müssen lernen, mit ihrem Geld und den Nahrungsrationen hauszuhalten. Das ist nicht immer einfach: Die Versorgung liegt laut WFP in Kakuma nur beim Minimalstandard für eine ausreichende und gesunde Ernährung. Grund dafür sind laut WFP die begrenzten Mittel, die die Vereinten Nationen zur Verfügung stellen – trotz der oft wiederholten Beteuerungen, diese aufzustocken.
Im Januar dieses Jahres wurde Bamba Chakula auch im weltweit größten Lager Dadaab eingeführt, sodass mittlerweile insgesamt mehr als 100.000 Haushalte teilnehmen. Bamba Chakula soll ein Beitrag gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in den Flüchtlingslagern sein. Kein Anstellen für Notrationen mehr, sondern ein Schritt zu mehr Eigenständigkeit. Gleichzeitig stärkt das Programm die lokale Wirtschaft und die Beziehung zu den ortsansässigen Bewohnern.
Die positiven Erfahrungen in den Camps Dadaab und Kakuma sprechen sich rum: Die Vereinten Nationen planen, das Programm auf andere Lager ausweiten. Im neuen
Wenn das Lager zur Bleibe wird
Für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen (UNHCR) ist Kalobeyei so etwas wie der Prototyp eines Flüchtlingslagers. Künftig sollen Lager als dauerhafte Siedlungen gemeinsam mit den örtlichen Verwaltungen geplant werden. Dabei sollen die vor Ort lebenden Bewohner einbezogen und in der Siedlung Handel und Dienstleistungen und somit Einkünfte ermöglicht werden. Geplant ist zudem, einen Teil der Lebensmittel künftig vor Ort anzubauen.
»Entwicklungsorganisationen aus der ganzen Welt schauen auf uns«, sagt die Leiterin des UNHCR-Büros in Kakuma, Honorine Sommet-Lange. Das Projekt Bamba Chakula und die Weiterentwicklung von Flüchtlingscamps zu lokal integrierten Siedlungen habe die weltweite Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sagt sie. »Wenn wir erfolgreich sind, wird das zum Modell für andere Camps auf dem ganzen Kontinent.«
Titelbild: UNHCR/Benjamin Loyseau - copyright