Was sich ändern muss, damit Menschen in Not den richtigen Beistand bekommen
Im Gefängnis, am Unfallort, im Krankenhaus – Profis wie Aişe A. werden dort dringend gebraucht. Am Einsatzort mit einer muslimischen Seelsorgerin.
»Brand in Mehrfamilienhaus« wird die Lokalmeldung aus Köln in den Zeitungen am nächsten Morgen lauten. Doch noch bevor am Abend zuvor eine Reporterin vor Ort ist, klingelt das Telefon von
An der Brandstelle angekommen, drängelt sie sich durch eine Menge neugieriger Menschen. Das Feuer lodert noch immer. Sie hat ihre grellgelbe Weste angezogen; in großen Buchstaben steht jetzt auf ihrem Rücken geschrieben: Notfallseelsorgerin. Ein Polizist lässt Aişe A. durch die Absperrung. Bei ihm informiert sie sich über die Situation: Das Ehepaar habe sich im Haus befunden, der Grund für den Brand sei noch unklar. Die Tochter, eine junge Frau aus Osteuropa, sei am Leben und brauche Beistand. Für die Notfallseelsorgerin ist das der erste Brandeinsatz, deshalb weiß sie nicht, was sie erwartet.
Als sie die junge Frau sieht, spricht sie sie an – auf Türkisch. Sie sagt ihr auf Türkisch, dass sie jetzt da ist, dass sie nicht allein ist, dass sie ihr helfen möchte. Innerlich betet sie.
Aişe A. will zwischen den Rettungskräften und ihr vermitteln, die Trauer ins Sachliche übersetzen. Aber die Frau weint und schreit. Die Notfallseelsorgerin versucht sie in den Arm zu nehmen. Sagt ihr auf Türkisch, dass sie jetzt da ist, dass sie nicht allein ist, dass sie ihr helfen möchte. Innerlich betet sie.
Aişe A. kann von vielen solchen Situationen berichten. Meist wird sie bei Notfällen mit türkischen, arabischen, aber auch bulgarischen oder rumänischen Familien gerufen, die Türkisch sprechen. Dabei können die Polizisten nicht immer wissen, ob die Angehörigen Muslime sind oder nicht. Aişe A. übrigens auch nicht. Für den Notfall ist das aber auch nicht so wichtig. In diesem Fall stellt sich heraus, dass die junge Frau nicht religiös ist. Dennoch kann die Notfallseelsorgerin helfen.
Im Gegensatz zur christlichen Seelsorge ist die muslimische Seelsorge in
Auch wenn sich niemand gern Gedanken darüber macht, angesichts von Krankheit und Tod kann professioneller Beistand eine große Stütze sein. Aber welche Bedürfnisse muss dieser erfüllen? Sollte nach der christlichen auch die muslimische Seelsorge institutionalisiert werden oder sollten wir an diesem Punkt Seelsorge in Deutschland gleich ganz neu denken?
Es fehlt an muslimischen Gefängnisseelsorgern
Das Konzept der Seelsorge hat seinen Ursprung in der katholischen Kirche und ist eines ihrer zentralen Handlungsfelder. Christliche Seelsorger an öffentlichen Einrichtungen wie bei der Bundeswehr, der Polizei und in Gefängnissen werden staatlich subventioniert. Seit Jahren existiert die Forderung, zusätzlich jüdisches und muslimisches Personal für Soldaten einzusetzen. Auch in Gefängnissen und Krankenhäusern gibt es noch
Einer der Knackpunkte, wenn es um die Institutionalisierung von muslimischer Seelsorge geht, ist, dass es keine Antwort auf die Frage gibt: Wer vertritt die Muslime in Deutschland? Anders als die katholische Bischofskonferenz gibt es hierzulande keine zentrale Anlaufstelle. Konservative und liberale Stimmen streiten sich um die Repräsentation der Muslime in Deutschland.
Informiere dich hier über die größten muslimischen Dachverbände in Deutschland.
- Ahmadiyya – Die Reformbewegung wurde vor rund 130 Jahren von Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Da sich ihre Anhänger auf ihn beziehen, gehen andere islamische Gruppierungen auf Abstand und bezeichnen sie als
- Aleviten – Die Alevitische Gemeinde in Deutschland ist mit etwa 150 Ortsgruppen und rund einer halben Million Mitglieder der zweitgrößte Moscheeverband türkischstämmiger Muslime. Aleviten (nicht zu verwechseln mit den syrischen Alawiten) sind im weiteren Sinne
- DITIB – Die Diyanet İşleri Türk İslam Birliği (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) betreibt rund 960 Vereine in ganz Deutschland und ist zahlenmäßig der größte islamische Dachverband. Sie vertritt einen großen Teil der türkischstämmigen Muslime und fungiert als ihre spirituelle Verbindung in die Heimat: DITIB ist institutionell eng mit dem türkischen Staat verflochten. Neben der religiösen Arbeit bietet DITIB zum Beispiel gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Alphabetisierungskurse an.
- Islamrat – Der Islamrat der Bundesrepublik Deutschland vertritt als Dachverband 40.000–60.000 Muslime. In ihm sind sehr unterschiedliche Strömungen organisiert: Der Deutsch-Somalische Verein und die Union Marokkanischer Imame genauso wie eine Bosniakische Vereinigung oder die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş. Der Islamrat sieht sich als Vertreter aller Muslime in Deutschland.
- VIKZ – Dem Verband Islamischer Kulturzentren gehören etwa 300 sunnitische Moscheegemeinden an. In den 1980er-Jahren begann der VIKZ als erste islamische Gruppierung, Imame in Deutschland auszubilden. Der Verband wurde im Jahr 1973 als erste muslimische Organisation Deutschlands gegründet. Er war bis zu seinem Austritt im Jahr 2000 das größte Mitglied des ZMD.
- ZMD – Der Zentralrat der Muslime in Deutschland ist ein mit seinen 10.000 Mitgliedern verhältnismäßig kleiner, aber dank seines medial dauerpräsenten Vorsitzenden Aiman Mazyek gewichtiger Dachverband. In ihm sind sowohl sunnitische als auch schiitische Vereine organisiert; darunter das Islamische Zentrum Hamburg, das in den 1960er-Jahren die erste Anlaufstelle für Schiiten in Deutschland war.
Die Beschreibungen der Islamverbände stammen aus diesem Artikel von David Ehl.
Die Verschiedenartigkeit der Akteure beschreibt das Dilemma: Es gibt nicht den Islam und nicht den verantwortlichen Verband. Ein aktuelles Beispiel: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (kurz: DITIB) ist zahlenmäßig der größte islamische Dachverband in Deutschland. Sie untersteht der türkischen Regierung seit ihrer Vereinsgründung im Jahr 1984. Viele Jahre war die DITIB auch ein gern gesehener Kooperationspartner in Deutschland. Seit ein paar Jahren nimmt die Bereitschaft zur Zusammenarbeit aufgrund der politischen Entwicklungen in der Türkei aber immer stärker ab. Das hat auch Konsequenzen für den Ausbau der islamischen Seelsorge – wie aktuell in Niedersachsen.
Gemeinsam mit der
In anderen Punkten kooperiert das Land Niedersachsen weiterhin mit der DITIB –
Die aktuelle Situation führt dazu, dass muslimische Seelsorge nicht überall dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Und dazu gehören nicht nur die Gefängnisse. Auch in der Notfallseelsorge fehlen Ressourcen und Struktur, was dazu führt, dass sich nur wenige als Seelsorger engagieren können. Zum Beispiel genießt Aişe A. nicht die gleichen Rechte wie ihre christlichen Kollegen, ihre Arbeit wird nicht vergütet und sie ist nicht versichert.
Wo werden Seelsorger ausgebildet?
In Deutschland gibt es keine konkrete Ausbildungsstätte für muslimische Seelsorger. Der Religionspsychologe und Soziologe Cemil Şahinöz zählt rund 119 islamische Seelsorge-Angebote in der Bundesrepublik, die allesamt unterschiedliche Träger haben. In den meisten Fällen sind es Vereine, die vom Land oder der Stadt Projektfördergelder beantragen.
Aişe A.s Ausbildung zur Notfallseelsorgerin wurde vom Verein Christlich-Islamische Gesellschaft (CIG e. V.) in Köln durchgeführt. Dabei kamen ihre Sprachkenntnisse, das religiöse Wissen und ihre psychische Verfassung auf den Prüfstand. Nach einem Jahr schloss sie die Grundausbildung zur Seelsorgerin erfolgreich ab. Das war vor 9 Jahren. Heute arbeitet Aişe A. auf Rufbereitschaft und kann ihre Zeiten selbstständig und flexibel einteilen.
Meist wird sie nach plötzlichen Todesfällen angerufen, bei denen ihr kulturelles und religiöses Wissen gefragt ist: »Während Christen den Tod im Stillen betrauern, versammelt sich bei Muslimen oft die ganze Familie beim Toten.« Das weiß die Notfallseelsorgerin, und noch viel wichtiger: Sie versteht es.
Außerdem kennt Aişe A. die religiösen Rituale und kann gegebenenfalls mitmachen. Mal wird sie gefragt: »Kannst du aus dem Koran lesen?«, mal
In der Notfallseelsorge geht es konkret um die Betreuung und Begleitung von Menschen in schwierigen Situationen. Das genuin Religiöse kommt hier nicht explizit zur Sprache, sondern geschieht vielmehr im Vollzug und in der Art der Begegnung.
Wäre konfessionsübergreifender spiritueller Beistand also möglicherweise eine Lösung, wenn politische und institutionelle Hürden dem Angebot muslimischer Seelsorge im Weg stehen? Ein Konzept namens Spiritual Care könnte nicht nur Christen und Muslimen, sondern auch Nichtreligiösen helfen. Was hat es damit auf sich?
Spiritueller Beistand für alle
In den Niederlanden laufen bereits seit einigen Jahren Spiritual-Care-Programme in der palliativen Pflege von Schwerkranken und Sterbenden. Dabei wird der Schmerz auf mehreren Ebenen behandelt – traditionell physisch und psychisch, aber eben auch sozial und spirituell. Seelsorger sind fester Teil der Pflege religiöser Patienten. Rituale, Glaube und Tradition sollen das Lebensende genauso begleiten, wie sie in anderen Phasen des Lebens über Schicksalsschläge hinweggeholfen haben. In manchen Fällen kann sogar speziell
Damit grenzt sich Spiritual Care nicht von der Seelsorge ab, sondern kann helfen, sie als Teil eines ganzheitlichen Pflegekonzepts zu institutionalisieren. Neben der praktischen Palliativpflege sind Spiritual-Care-Lehrstühle an Universitäten in Zürich und München im deutschsprachigen Raum eingerichtet worden. Die interdisziplinäre Forschung an den Schnittpunkten von Theologie, Medizin und Seelsorge soll aufzeigen, wie Spiritualität auch den Bedürfnissen von nichtreligiösen Patienten gerecht wird.
Denn Religion kann, muss aber nicht die Quelle der spirituellen Kraft sein. Laut der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) ist die größte weltanschauliche Gruppe in Deutschland die Gruppe der Konfessionsfreien. Sie stellte im Jahr 2016 36,2% der Gesamtbevölkerung dar. Mit dem wachsenden Trend der Selbstfürsorge und Achtsamkeit bekommt auch die Spiritualität wieder mehr Aufmerksamkeit. Eine zitierwürdige Studie, die dieses Wachstum abbildet, gibt es aber noch nicht.
Spiritual Care ist eine Möglichkeit, spirituellen Beistand zu bieten. Ausgebildete muslimische Seelsorger kann sie aber dennoch nicht ersetzen – und dass ihr Einsatz in Deutschland möglich wird, ist auch eine Sache der Religionsfreiheit.
Welche Seelsorge möchten wir in Deutschland?
Also bleibt es dabei, dass Wege gefunden werden müssen, um Zugänge zu individueller Seelsorge für Muslime und andere Religionsangehörige zu schaffen. Solange islamische Seelsorge-Angebote nicht strukturell ausgebaut und institutionalisiert werden, greift die im deutschen Grundgesetz verankerte freie Religionsausübung nicht vollständig.
Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.
Es gibt aber erste gute Nachrichten: Nach jahrelanger Prüfung hat kürzlich das Verteidigungsministerium beschlossen, dass fortan Rabbiner und Imame religiöse
Ihre ehrenamtliche Tätigkeit sieht Aişe A. als eine »besondere Art von gesellschaftlicher Präsenz«. Als Muslimin mit Kopftuch hat sie Ausgrenzung erlebt und weiß, dass ihre Selbstbestimmung innerhalb der deutschen Gesellschaft infrage gestellt wird. Dieses Bild will sie ändern. Ihre Seelsorge versteht sie deshalb als ein Zeichen der Anteilnahme – nicht nur am Leid der Menschen, sondern auch am gesellschaftlichen Leben in Deutschland.
Titelbild: Rémi Walle - CC0 1.0