Besser als Hartz IV
Jobcenter bauen eher Druck auf, statt zu helfen. Ein Berliner Verein will zeigen, dass es auch anders geht.
Am meisten macht ihr neben der Arbeitslosigkeit die ständige Angst vor der Willkür ihres Betreuers im Jobcenter zu schaffen. Manchmal drohe er offen mit Sanktionen, sagt sie, manchmal bekomme sie Geld für Bewerbungsunterlagen oder Fahrkarten im Voraus erstattet, dann wieder erst nach Vorlage des Belegs. Für sie sei nicht nachvollziehbar, warum das so ist. Aber es erzeugt ein ständiges Grundrauschen der Sorge. Das teilt sie mit vielen Hartz-IV-Empfängern, die das Jobcenter oft eher als Problembereiter denn als Hilfe wahrnehmen.
Bisher wurden gegen sie keine
Arbeitslosigkeit als Makel
Maria Marquardt bringt auf den Punkt, wo sie ein zentrales Problem sieht. Nämlich darin, wie die Gesellschaft Menschen wahrnimmt, die auf Hartz IV angewiesen sind.
Man hat immer das Gefühl, man muss sich rechtfertigen. ›Warum hast du keinen Job, was hast du denn gelernt?‹ Aber ich kann ja meinen Job einfach aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr machen.
Dieser Rechtfertigungsdruck herrscht auch im Jobcenter. Die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte mit der
Dieser Druck hat Maria Marquardt dazu gebracht, an einer Schulung teilzunehmen. Nach 3 Jahren Arbeitslosigkeit sollte 2 Wochen lang festgestellt werden, wo sie steht, ob sie psychisch und physisch fit ist für den Arbeitsmarkt. Über weitere 4 Wochen sollte sie unterschiedliche Berufe näher kennenlernen. Im Schulungszentrum gab es dafür passende Büros und Werkstätten. Die Palette reichte von EDV über Metall- und Holzverarbeitung, Elektrotechnik bis hin zu Garten- und Landschaftsbau. Alles wenig geeignet für Maria Marquardt, bei der längst medizinisch festgestellt worden war, dass sie nicht schwer körperlich arbeiten kann und auch Vollzeit noch nicht drin ist. Außerdem hat sie einen konkreten und realisierbaren Berufswunsch: Von zu Hause aus könnte sie eine Teilzeit-Ausbildung zur medizinischen Schreibkraft machen, die Ärzte und anderes Gesundheitspersonal unterstützt.
Was ihr dafür fehle, sei ein Laptop, den das Jobcenter nicht bewilligen wolle, sagt sie. Die vermutlich deutlich teurere Maßnahme dagegen habe sie nicht weitergebracht. Aber auch hier gilt: Wer ablehnt, wird bestraft.
Der Vorstandsvorsitzende des Wuppertaler Jobcenters Thomas Lenz hat mit Maria Marquardts Fall nichts zu tun. Er findet Sanktionen aber grundsätzlich in Ordnung. »Ich sehe darin nichts Schlimmes, wenn jemand, der eine Unterstützung bekommt, auch alle 6 Monate zum Amt gehen muss, um mit seinem Berater über die berufliche Zukunft zu sprechen.« Sanktionen würden nur ausgesprochen, wenn die Mitarbeit komplett verweigert werde, sagt der Behördenleiter. Sie seien kein Massenphänomen, die Sanktionsquote in Wuppertal liege in der Regel bei 3%, sagt Thomas Lenz.
Gemessen daran, dass Hartz IV an sich bereits ein Minimum darstellt und zumindest
Hilfe von den Sanktionssanitätern
Helena Steinhaus kennt die Fakten. Als Geschäftsführerin des Vereins
Im Februar 2019 ist das neue Projekt »HartzPlus« angelaufen. 3 Jahre lang sichert der Verein 250 Menschen ab,
In den Medien ist oft von der bundesweiten Sanktionsquote die Rede, die etwa bei 3% liegt. Die Quote sagt aus, wie viele aller Hartz-IV-Bezieher zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Teil der Leistungen verzichten müssen. Diese Zahl ist eine Momentaufnahme. Anders sieht die sogenannte Sanktionsverlaufsquote aus: Diese zeigt, wie viele Menschen innerhalb eines Jahres mindestens einmal bestraft wurden. Das waren im Jahr 2018 bundesweit immerhin 8,5% oder in Zahlen: 441.000 Menschen, die addierte Einwohnerzahl von Bonn und Bottrop. Die Gesamtzahl der Sanktionen, inklusive mehrfacher Bestrafung derselben Person, lag bei 904.000. Verständlich, dass Langzeitarbeitslose wie Maria Marquardt Sanktionen immer im Hinterkopf haben, wenn sie von ihrem Jobcenter hören.
Was es bei ihnen bewirkt, wenn »HartzPlus« dieses Damoklesschwert für 3 Jahre in die Abstellkammer verbannt, soll die wissenschaftliche Studie der Universität Wuppertal dokumentieren. Zwar gebe es Untersuchungen darüber, wie Sanktionen wirken, aber wie die Abwesenheit der Sanktionen wirkt, sei bisher nicht erforscht, sagt Helena Steinhaus.
Sanktionsfrei e. V. hat deswegen den Kontakt zu Rainer Wieland vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie (WIFOP) gesucht. Der Arbeitspsychologe führt die Studie durch und benutzt dafür ein sogenanntes triadisches Modell.
Dieses Modell geht davon aus, dass die Verhältnisse, in denen jemand lebt, seine Handlungen beeinflussen. Die Handlungen wirken sich wiederum auf Haltungen und Werte einer Person aus. Rainer Wieland nennt ein Beispiel: »Angenommen, die Verhältnisse sind eher ungünstig. Ich unternehme etwas und merke, es funktioniert nicht. Dann entwickle ich ein Gefühl oder eine Haltung von Kontrollverlust.«
4.400 Bewerber hatten sich für »HartzPlus« in dem Wissen beworben, auch an der Studie teilzunehmen. Wieland und sein Team bestimmten dann 250 Personen, die eine Absicherung gegen Sanktionen erhalten. Als Kontrollgruppe dienen 250 Menschen, die kein »HartzPlus« bekommen. Für die Auswahl nutzten die Wissenschaftler ein Zufallsverfahren, das die aktuellen Lebensumstände und Wertevorstellungen der Menschen berücksichtigt. Sie müssen in beiden Gruppen ähnlich sein, damit sie verglichen werden können. Über einen Zeitraum von 3 Jahren werden die Teilnehmer regelmäßig zu ihren Lebensumständen, dem Befinden, Haltungen und Verhalten befragt. Die Studie soll dann sichtbar machen, wie sich die Sanktionsfreiheit auf die Menschen auswirkt und welche Entwicklungen stattfinden.
Das Modell benutzt Rainer Wieland eigentlich in Unternehmen, er findet es aber wichtig, Arbeitslose nach ähnlichen Maßstäben zu untersuchen wie Arbeitnehmer. »Wir haben da ein paradoxes Menschenbild. Das Modell wird benutzt, um sicherzustellen, dass die Menschen in Unternehmen hoch motiviert sind und nicht in die innere Kündigung gehen. Man nutzt Anreize wie mehr Freiräume, Betriebskindergärten und Arbeitszeitmodelle, um die Menschen zu motivieren. Bei Hartz-IV-Empfängern sagt man aber: Es ist relativ egal, wie die leben, die sollen mal in die Pötte kommen.«
Sanktionsfreiheit bedeutet mehr Entscheidungsfreiheit
Es geht den Initiatoren von »HartzPlus« darum, das Muster aus Hilfe und gleichzeitiger Drohkulisse zu durchbrechen. Deswegen sieht Helena Steinhaus »HartzPlus« als »einen realpolitischen Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen«. Die Themen sind miteinander verwandt und so verwundert es nicht, dass der Verein
Das Einzige, was wir als Gesellschaft tun können, ist, zu akzeptieren, dass es auch Leute gibt, die sich dem System verweigern, die keine Hilfe wollen. Da kann man gar nichts dran ändern. Wir können aber dafür sorgen, dass wir ein System schaffen, das nicht immer mehr Menschen mit so einer Einstellung produziert.
Zurück in die Bäckerei zu Maria Marquardt. Um sie nicht weiter in die Resignation zu treiben und ihre Eigeninitiative zu unterstützen, würde es nur ein Notebook brauchen, sogar ein gebrauchtes würde reichen, lediglich Office-Programme und Internet brauche sie. Dass sie jetzt durch die Unterstützung von »HartzPlus« keine Angst mehr vor Sanktionen haben muss, ist ein Anfang. »Ich werde es zwar nicht bewusst provozieren, aber wenn ich noch mal eine Maßnahme aufgezwungen bekomme, von der ich schon vorher weiß, dass sie mir nicht weiterhilft, würde ich Nein sagen.«
Jetzt kann sie etwas freier selbst entscheiden, was gut für sie ist. Der Druck sei das gewesen, was sie in der Arbeitslosigkeit krank gemacht habe. »Ich bin gerade wieder dabei, auf die Beine zu kommen und durchzustarten«, sagt sie. Wenn »HartzPlus« in knapp 3 Jahren endet, möchte sie schon längst wieder Arbeit haben – eine sinnvolle, die sie erfüllt.
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily