Macht uns Meditation zu Egoisten?
Nur durch Achtsamkeit begreifen wir die Probleme der Welt, sagt Stefan Boes. Schön und gut, meint Katharina Wiegmann. Aber die Lösungen dafür finden sich nicht auf der Yogamatte.
Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen. Rastlos eilen wir von der Arbeit aufs Laufband im Fitnessstudio, weiter zum Abendessen mit Freunden, zwischendurch immer wieder der Blick auf das Handy, wo Messenger blinken und uns Eilmeldungen daran erinnern, was wir alles wissen könnten, müssten, sollten. Brexit-Chaos!
Ganz schön anstrengend. Viele Menschen wollen das nicht mehr: Sie
»Ja, Meditation verschafft uns Klarheit. Das ist die Voraussetzung, um unsere soziale Verantwortung zu begreifen«
»Der Achtsamkeitstrend sucht individuelle Lösungen für systemische Probleme. Damit macht er alles noch schlimmer«
Entscheide, welche Antwort du zuerst lesen willst.
Ohne Achtsamkeit sehen wir gar nichts
von Stefan BoesEs ist schon erstaunlich, was man mit nur wenigen Minuten der inneren Einkehr bewirken kann. Einfach nur dazusitzen, mit geschlossenen Augen, nur dem eigenen Atem zu lauschen und zu spüren, wie alles in einem ruhig, langsam und klar wird.
Regelmäßig angewandt sorgen Techniken der Meditation und Achtsamkeit nicht nur für Entspannung, sie können auch
Das alles sind Wirkungen, die nicht nur Ratgeber, Coaches und Klangschalen-Studios versprechen. Schon lange sind Achtsamkeit und Meditation Gegenstand
Dass sich Meditation auch im Alltag wachsender Beliebtheit erfreut, ist verständlich. Denn sie hilft dabei, einen Bewusstseinszustand zu erreichen, der heute
»Wir sind im Hier und Jetzt nicht etwa sicher verankert, sondern reagieren nur noch auf den allgegenwärtigen Ansturm simultaner Impulse und Anforderungen«, schrieb der Medientheoretiker Douglas Rushkoff vor wenigen Jahren in seinem Buch »Present Shock. Wenn alles jetzt passiert«.
Die ständigen Ablenkungen, die auf unser Smartphone drängen, vermitteln uns das Gefühl, wir müssten mit ihrem Tempo mithalten, um nicht den Kontakt zur Gegenwart zu verlieren, so Rushkoff. Dabei ist es doch in Wirklichkeit andersherum: Wir verlieren den Kontakt zur Gegenwart, weil wir ständig abgelenkt sind und Dinge gleichzeitig erledigen.
Meditation und Achtsamkeit setzen dem etwas entgegen. Aber nicht allen gefällt das. Die Achtsamkeitsbewegung bekommt Gegenwind aus
Doch wenn man sich näher mit der Bedeutung von Meditation beschäftigt, sieht man: Das, was auf den ersten Blick nach Weltflucht aussieht, ist tatsächlich das genaue Gegenteil. Zu meditieren bedeutet nicht, die Augen vor etwas zu verschließen, sondern die eigene Wahrnehmung zu schulen. Verlangsamtes und geistesgegenwärtiges Handeln bedeutet eine Hinwendung zur Welt. Es stimmt zwar: Fokussierung heißt, dass man etwas ausblenden muss. Aber ohne die Aufmerksamkeit konzentriert auf einen Gegenstand zu richten, ist Weltwahrnehmung nicht möglich. Erst dadurch gewinnen wir eine eigene, innere Haltung und hören auf, Getriebene im öffentlichen Nachrichten- und Meinungsaustausch zu sein.
Achtsamkeit bedeutet, die Umwelt zu begreifen und sich selbst in ihr zu verorten. Und damit hat Meditation eben etwas mit sozialer Verantwortung zu tun. Das sieht auch Jack Kornfield so, einer der bekanntesten westlichen Meditationslehrer. In seinem Bestseller »Meditation für Anfänger« schreibt er:
Der tiefere Sinn der Meditation besteht darin zu erkennen, dass wir ein Teil von allem sind, und nicht darin, vor irgendeinem Aspekt unseres Lebens davonzulaufen. Ein wichtiger Aspekt unseres Lebens ist die soziale Verantwortung.
Jack Kornfield hält Meditation weder für einen Luxus noch für einen Weg zur Weltflucht, sondern sieht darin die Möglichkeit, ein tiefes Verständnis für die eigene Verantwortung zu entwickeln.
Ich unterstütze diese Sicht. Meditation bedeutet allenfalls einen kurzen Rückzug aus allem, das uns umgibt. Aber nur um dann umso klarer aus der Versenkung aufzutauchen.
Meditation löst vielleicht Verspannungen, aber bestimmt keine gesellschaftlichen Probleme
von Katharina Wiegmann»Heeey, schön, dass du da bist und dich entschlossen hast, den Tag mit einer geführten Meditation zu ergänzen!« Während sie mir über den Bildschirm diese Begrüßung entgegenhaucht, nimmt Mady Morrison auf einer Bank aus hellem Holz Platz. Links neben ihr steht eine dieser Grünpflanzen, mit denen sich
Stimmt beides.
Mady Morrison ist eine von sehr vielen Youtuberinnen, die auf ihrem Kanal zu Meditation, Yoga, Fitness und Achtsamkeit animieren wollen.
Was sie und die ganzen anderen da machen, trifft einen Nerv. Das ist verständlich. Nahezu im Sekundentakt prasseln Informationen auf uns ein, ständig pingt, pusht und ploppt es irgendwo. Arbeit verdichtet sich, Stress, Lärm und die zunehmende Geschwindigkeit von eigentlich allem sorgen für eine konstante Reizüberflutung. Natürlich will man da raus, wieder zu sich kommen. Mir wird auch manchmal alles zu viel.
Trotzdem nervt der Achtsamkeitstrend.
Denn die individuelle Stressbewältigung auf der Yogamatte löst vielleicht innere Spannungen, aber ganz sicher keine gesellschaftlichen Probleme. Der Fokus auf das Selbst, dessen Optimierung und die Anpassung an äußere Umstände sind Auswüchse des Systems, das die oben genannten Überforderungen geschaffen hat. Wenn wir da wieder raus wollen, brauchen wir aber keine ausgefeilten Atemtechniken, sondern kollektive Anstrengungen – über Engagement in
Wer schon einmal inmitten einer großen Demonstration mit vielen Gleichgesinnten stand, der weiß auch, dass das gegenseitige Empowerment in einem solchen Moment einen mindestens genauso im Hier und Jetzt ankommen lässt wie eine geführte Meditation.
»All diese Probleme erscheinen individuell – aber sie haben systemische und institutionelle Bedingungen.« – Hartmut Rosa, Soziologe
Davon abgesehen ist der Rückzug ins Selbst etwas, das sich gar nicht jeder leisten kann. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einem
Das Ziel ist ein leidenschaftsloses, rein beobachtendes Bewusstsein, das sich nicht involviert, wo alles gleichmäßig betrachtet wird.
Hartmut Rosa hat eine andere Antwort auf die Beschleunigung und den Stress der Zeit: das Empfinden von Resonanz. »Ich muss in der Lage sein, da draußen eine andere Stimme zu hören und mich berühren zu lassen.« Merke: eine andere als die eigene, die innere Stimme.
Der Achtsamkeitstrend entspringt dem Bedürfnis nach einem anderen Verhältnis zur Welt, folgt aber einer alten Logik. In erster Linie ist er im Jahr 2019 ein profitables Business, eine Industrie, ein Geschäftsmodell. Klar kannst du auch einfach still auf einer alten Decke vor dich hin meditieren, aber kauf dir doch lieber eine Yogamatte, ein passendes Outfit – und warum nicht auch noch gleich einen Entsafter für die Anti-Stress-Smoothies? Dann bist du bestimmt wieder entspannt im Büro, fit für die Überstunden.
Du merkst, ich bin ein bisschen wütend. Macht nichts. Wut halte ich für ein produktiveres Gefühl als Entspannung.
Meditation löst vielleicht Verspannungen, aber bestimmt keine gesellschaftlichen Probleme
von Katharina Wiegmann»Heeey, schön, dass du da bist und dich entschlossen hast, den Tag mit einer geführten Meditation zu ergänzen.« Während sie mir über den Bildschirm diese Begrüßung entgegenhaucht, nimmt Mady Morrison auf einer Bank aus hellem Holz Platz. Links neben ihr eine dieser Grünpflanzen, mit denen sich gestresste Großstädter gerade massenweise die Altbauwohnungen vollstellen. Auf ihrer rechten Seite sind ein paar Kissen mit Ethnomuster und eine Klangschale drapiert. Mady strahlt mir selig entgegen und säuselt weiter: »Vielleicht ist es dein allererstes Mal? Vielleicht konntest du bisher mit dem Begriff Meditation auch noch gar nicht so viel anfangen?«
Stimmt beides.
Mady Morrison ist eine von sehr vielen Youtuberinnen, die auf ihrem Kanal zu Meditation, Yoga, Fitness und Achtsamkeit animieren wollen.
Was sie und die ganzen anderen da machen, trifft einen Nerv. Das ist verständlich. Nahezu im Sekundentakt prasseln Informationen auf uns ein, ständig pingt, pusht und ploppt es irgendwo. Arbeit verdichtet sich, Stress, Lärm und die zunehmende Geschwindigkeit von eigentlich allem sorgen für eine konstante Reizüberflutung. Natürlich will man da raus, wieder zu sich kommen. Mir wird auch manchmal alles zu viel.
Trotzdem nervt der Achtsamkeitstrend.
Denn die individuelle Stressbewältigung auf der Yogamatte löst vielleicht innere Spannungen, aber ganz sicher keine gesellschaftlichen Probleme. Der Fokus auf das Selbst, dessen Optimierung und die Anpassung an äußere Umstände sind Auswüchse des Systems, das die oben genannten Überforderungen geschaffen hat. Wenn wir da wieder raus wollen, brauchen wir aber keine ausgefeilten Atemtechniken, sondern kollektive Anstrengungen – über Engagement in
Wer schon einmal inmitten einer großen Demonstration mit vielen Gleichgesinnten stand, der weiß auch, dass das gegenseitige Empowerment in einem solchen Moment einen mindestens genauso im Hier und Jetzt ankommen lässt wie eine geführte Meditation.
»All diese Probleme erscheinen individuell – aber sie haben systemische und institutionelle Bedingungen.« – Hartmut Rosa, Soziologe
Davon abgesehen ist der Rückzug ins Selbst etwas, das sich gar nicht jeder leisten kann. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einem
Das Ziel ist ein leidenschaftsloses, rein beobachtendes Bewusstsein, das sich nicht involviert, wo alles gleichmäßig betrachtet wird.
Hartmut Rosa hat eine andere Antwort auf die Beschleunigung und den Stress der Zeit: das Empfinden von Resonanz. »Ich muss in der Lage sein, da draußen eine andere Stimme zu hören und mich berühren zu lassen.« Merke: eine andere als die eigene, die innere Stimme.
Der Achtsamkeitstrend entspringt dem Bedürfnis nach einem anderen Verhältnis zur Welt, folgt aber einer alten Logik. In erster Linie ist er im Jahr 2019 ein profitables Business, eine Industrie, ein Geschäftsmodell. Klar kannst du auch einfach still auf einer alten Decke vor dich hin meditieren, aber kauf dir doch lieber eine Yogamatte, ein passendes Outfit – und warum nicht auch noch gleich einen Entsafter für die Anti-Stress-Smoothies? Dann bist du bestimmt wieder entspannt im Büro, fit für die Überstunden.
Du merkst, ich bin ein bisschen wütend. Macht nichts. Wut halte ich für ein produktiveres Gefühl als Entspannung.
Ohne Achtsamkeit sehen wir gar nichts
von Stefan BoesEs ist schon erstaunlich, was man mit nur wenigen Minuten der inneren Einkehr bewirken kann. Einfach nur dazusitzen, mit geschlossenen Augen, nur dem eigenen Atem zu lauschen und zu spüren, wie alles in einem ruhig, langsam und klar wird.
Regelmäßig angewandt sorgen Techniken der Meditation und Achtsamkeit nicht nur für Entspannung, sie können auch
Das alles sind Wirkungen, die nicht nur Ratgeber, Coaches und Klangschalen-Studios versprechen. Schon lange sind Achtsamkeit und Meditation Gegenstand
Dass sich Meditation auch im Alltag wachsender Beliebtheit erfreut, ist verständlich. Denn sie hilft dabei, einen Bewusstseinszustand zu erreichen, der heute
»Wir sind im Hier und Jetzt nicht etwa sicher verankert, sondern reagieren nur noch auf den allgegenwärtigen Ansturm simultaner Impulse und Anforderungen«, schrieb der Medientheoretiker Douglas Rushkoff vor wenigen Jahren in seinem Buch »Present Shock. Wenn alles jetzt passiert«.
Die ständigen Ablenkungen, die auf unser Smartphone drängen, vermitteln uns das Gefühl, wir müssten mit ihrem Tempo mithalten, um nicht den Kontakt zur Gegenwart zu verlieren, so Rushkoff. Dabei ist es doch in Wirklichkeit andersherum: Wir verlieren den Kontakt zur Gegenwart, weil wir ständig abgelenkt sind und Dinge gleichzeitig erledigen.
Meditation und Achtsamkeit setzen dem etwas entgegen. Aber nicht allen gefällt das. Die Achtsamkeitsbewegung bekommt Gegenwind aus
Doch wenn man sich näher mit der Bedeutung von Meditation beschäftigt, sieht man: Das, was auf den ersten Blick nach
Achtsamkeit bedeutet, die Umwelt zu begreifen und sich selbst in ihr zu verorten. Und damit hat Meditation eben etwas mit sozialer Verantwortung zu tun. Das sieht auch Jack Kornfield so, einer der bekanntesten westlichen Meditationslehrer. In seinem Bestseller »Meditation für Anfänger« schreibt er:
Der tiefere Sinn der Meditation besteht darin zu erkennen, dass wir ein Teil von allem sind, und nicht darin, vor irgendeinem Aspekt unseres Lebens davonzulaufen. Ein wichtiger Aspekt unseres Lebens ist die soziale Verantwortung.
Jack Kornfield hält Meditation weder für einen Luxus noch für einen Weg zur Weltflucht, sondern sieht darin die Möglichkeit, ein tiefes Verständnis für die eigene Verantwortung zu entwickeln.
Ich unterstütze diese Sicht. Meditation bedeutet allenfalls einen kurzen Rückzug aus allem, das uns umgibt. Aber nur um dann umso klarer aus der Versenkung aufzutauchen.
Titelbild: Isabell Winter - CC0 1.0