Stell dir vor, es ist Krieg und du schaust zu
Blutverschmierte Kinder vor der Kamera haben bisher niemanden dazu bewegt, das Massensterben in Syrien zu beenden. Kann die Dokumentation »Die Weißhelme« über freiwillige Helfer in Aleppo noch etwas am Blutvergießen ändern?
Schwarzer Bildschirm. Das Röhren einer herabdonnernden Bombe ertönt. Dann der Einschlag. Ein paar Sekunden später erklingen gedämpft die Sirenen von Krankenwagen, Menschen rufen, schreien und erst jetzt beginnt das Video dazu. Es sind verwackelte Aufnahmen von einem Gebäude in Trümmern. 2 Männer rennen mit einer Trage in den Hauseingang. Im Inneren zeichnen sich im grauen Dunst die Umrisse von Helfern ab, die Kinder aus dem Haus tragen. Sekunden später donnert es wieder durch die Luft und vor der Kameralinse bersten die Wände.
Ortswechsel: Ein junger Mann spielt mit seiner 2-jährigen Tochter. Für sie knipst Khalid Fardi das Licht an seinem weißen Schutzhelm an und aus. Dann muss er los, zum Einsatz. Er küsst das kleine Mädchen zum Abschied. Sie heißt »Amal« – ihr Name bedeutet auf Arabisch »Hoffnung«. Khalid Fardi ist Mitglied der
»Meine Familie ist mir sehr wichtig. Bei jedem Rettungseinsatz denke ich an sie.« – Khalid Fardi
Mit diesen beiden Szenen eröffnet die
Wir sehen eine Stadt im Krieg und Menschen, die noch in ihr leben. Es gibt viele Ebenen, auf denen solch ein Film besprochen werden kann: politisch, gesellschaftlich, inszenatorisch, um nur einige zu nennen. Der Zuschauer aus der Ferne hat aber meist weder einen Zugang zu der Situation vor Ort noch war er bei der Produktion anwesend. Was kann er also mitnehmen, außer dem bleiernen Gefühl der Hilflosigkeit? Welche Botschaft und Funktion kommunizieren diese Bilder aus dem Krieg?
Die Hintergründe
Seit 2012 fliegt das syrische Regime Bombenangriffe auf die Stellungen der bewaffneten Opposition in Aleppo. In diesen Gebieten leben aber nicht nur Kämpfer, sondern auch noch Zehntausende von Zivilisten.
»Der Kampfgeist unter den Weißhelmen ist immer stark. Wir sind immer bereit, auf Vorfälle zu reagieren.« – Abu Omar
Es hätten noch mehr Tote sein können, gäbe es nicht Hilfsorganisationen wie die Weißhelme. Die zivilen Ersthelfer, Männer und Frauen, sind nach Bombenangriffen zur Stelle, um Menschen aus den Trümmern zu bergen. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden sie durch ihre Nominierung für den
Jetzt sind sie sogar die Protagonisten einer Netflix-Dokumentation des britischen Regisseurs Orlando von Einsiedel. Mit seinen Dokus aus Afghanistan, Nigeria und Äthiopien wurde er bekannt.
»Alles Propaganda!«
Die Dokumentation wurde in 190 Länder und 21 Sprachen veröffentlicht. Die ersten Reaktionen darauf sind gespalten:
Vor allem die Tatsache, dass die Weißhelme in den Rebellengebieten agieren, rief viele Kritiker auf den Plan. Sie behaupten, die Freiwilligen stünden Terroristengruppen nahe. Tatsächlich arbeiten die Weißhelme in Gebieten, in denen auch Anhänger der radikal-islamistischen Nusra-Front vermutet werden.
»Ich fand es besser, humanitäre Hilfe zu leisten, als bewaffnet zu sein. Besser ein Leben retten als eines nehmen.« – Mohammad Farah
Die Dokumentation konzentriert sich sehr auf die persönlichen Beweggründe der Männer, für die Weißhelme zu arbeiten. Wer die Gruppe finanziert und in der Türkei trainiert, erläutert die Dokumentation nicht. Tatsächlich gründete der ehemalige britische Infanterieoffizier James Le Mesurier die Weißhelme 2013. Aktuell unterstützt er sie weiterhin mit seiner
Die internationale Verschränkung der Freiwilligen öffnet Tür und Tor für Spekulationen. Dabei lassen sich Propaganda und Krieg nicht voneinander trennen: »Kriege sind Sondersituationen, in denen eine allgemeine propagandistische Kommunikationslage sich noch einmal ganz stark zuspitzt. Es wird mit Techniken gearbeitet, wo Wahrheit und Lüge sehr eng miteinander verwoben sind«, stellt Medienprofessor
»Das ist keine Fiktion!«
Die Frage nach der Propaganda setzt einen sehr nüchternen Umgang mit der Kriegsdokumentation voraus. Die humanitäre Katastrophe in Syrien tritt dabei in den Hintergrund.
Wie schwer ist es, der Außenwelt Bilder vom Krieg zu zeigen? Eine Dokumentarfilmerin, die sich ebenfalls Propagandavorwürfe anhören musste, ist die Libanesin Carol Mansour. Ihre Dokumentation
»Das ist keine Fiktion«, stellte Carol Mansour zu Anfang ihrer Doku klar. Denn wie in »Die Weißhelme« zeigte sie die zivilen Opfer des Krieges ungefiltert: Frauen, Männer und Kinder, tot oder schwer verwundet. »Die Bilder waren so voller Gewalt, dass ich mich dazu gezwungen sah, zu sagen: Das ist keine Fiktion, das ist die Realität«, erklärt sie heute im Interview.
10 Jahre nach den Ereignissen fragt sie sich, ob diese Bilder überhaupt noch eine Wirkung haben: »Wir sind so unsensibel geworden. Hoffentlich ist das nicht überall so. Aber ich glaube, da wir jeden Tag Zugang zu solchen Bildern haben, haben wir uns daran gewöhnt.«
Dabei spricht Carol Mansour auch über die Bilder aus Syrien. Eines der eindrücklichsten Fotos der letzten Monate war das des 4-jährigen Omran, den ebenfalls die Weißhelme in Aleppo aus einem bombardierten Gebäude retteten. Schnell wurde der Junge zur Ikone des Syrienkrieges, millionenfach in sozialen Netzwerken geteilt und in fast jeder Nachrichtensendung weltweit präsentiert.
Eine Zukunft für Syrien
Vor allem die ikonischen Bilder geben wenig Mut. Zeigen sie doch nur, was in Syrien nicht möglich ist, nämlich die Gewalt endlich zu beenden. Eine andere Perspektive nimmt die Dokumentation über die Weißhelme ein. Mit jedem geretteten Menschenleben beweisen sie, was im Zusammenhang mit dem Syrienkrieg fast unmöglich scheint: Eine Zukunft für Syrien, in der diese Menschen eines Tages leben werden.
Ein Beispiel ist eine Geschichte, die uns in Aleppo passierte. 2 Fassbomben wurden über al-Ansari abgeworfen. Von der ersten wurde eine Reihe von Menschen verletzt, doch von der zweiten wurden sehr viele getötet.
Wir gingen in das Gebiet. Es war wie ein kleines Dorf aus 10 Häusern und alle Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Ich dachte, ich würde unter dem Schutt nach einem toten Baby suchen. Doch Ehre sei Gott. Es war uns nicht bestimmt, das Gebiet zu verlassen, ohne etwas zu hören. Als ich ein Baby hörte … hatte ich ein unbeschreibliches Gefühl. […] Nach 16 Stunden unter dem Schutt lebte ein Baby noch, das keinen Monat alt war … unter dem Staub … unter der Decke, die über ihm eingestürzt war …
Wir nannten es das ›Wunderbaby‹.
Die Rettung und das Motiv geben Hoffnung – zumindest den Zuschauern, die sich für diese Botschaft öffnen. Natürlich prallt in den Diskussionen über die Weißhelme der Wunsch nach mehr Information auf pure Emotion. Dabei vergessen beide Seiten: Die perfekte Geschichte aus dem Krieg, die die Weltöffentlichkeit überzeugt, endlich eine Lösung für den Syrienkrieg zu fordern – es kann sie nicht geben.
Die Funktion einer Dokumentation ist es, einen Teil der Geschichte zu dokumentieren. Im besten Falle übertreibt sie nicht, aber das kann der Zuschauer aus der Ferne nicht beurteilen. Den Krieg kann er allein auch nicht beenden. Aber die Hoffnung, versinnbildlicht durch die Weißhelme, kann innerhalb und außerhalb Syriens konstruktiv sein. Leben zu retten ist menschlich und konstruktiv, in welchem Kontext es auch immer geschieht. Denn es zeigt, dass es eine Zukunft für diese geretteten Syrer geben soll. Davon ausgehend könnten konkrete Visionen und Vorschläge für die Zukunft Syriens ein entscheidender Hebel sein, um den Krieg zu beenden.
Anmerkungen der Redaktion: Am 22. September 2016 wurde bestätigt, dass »Die Weißhelme« den alternativen Nobelpreis erhalten werden. Am 26. Februar 2017 erhielt die Dokumentation »Die Weißhelme« einen Oscar in der Kategorie »Documentary (Short Subject)«.
Titelbild: Screenshot aus der Netflix-Dokumentation »Die Weißhelme« - Netflix - copyright