Mit quietschenden Reifen bleibt das Auto direkt vor meinem Fahrrad stehen. »Bist du gestört, oder was?«, schreit mich der Fahrer des Wagens an. »Das ist eine Einbahnstraße!« Ich bekomme Herzrasen und überlege blitzschnell. Mist, er könnte Recht haben. Auch wenn ich am liebsten zurückbrüllen würde, biege ich brav ab und fahre auf dem Gehweg weiter. Der Klügere gibt nach, denke ich – und ich habe gelernt, dass es wichtig ist, auch zu wütenden Menschen höflich zu sein.
Einige Meter weiter kommt mir auf dem Bürgersteig ein älteres Ehepaar entgegen. »Also, das geht ja gar nicht!«, geifert die Frau. Der Mann bekommt einen hochroten Kopf und fährt mich an. »Runter vom Bürgersteig. Das ist kein Fahrradweg!« Jetzt explodiere ich – zumindest für meine Verhältnisse – und sage laut: »Ist mir doch egal!« Der Typ beginnt mich mit Worten zu beschimpfen, die ich hier nicht wiedergeben möchte, während ich an ihm vorbeifahre. Danach koche ich vor Wut und brauche bestimmt eine Stunde, um mich zu beruhigen.
Wut löst etwas in uns aus. Nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch bei politischen Diskussionen, die sich täglich in den Medien und im Netz abspielen. Wenn ich dort sehe, wie sich Menschen aufschaukeln und eine Beleidigung die andere ergibt, bekomme ich Angst. Ich will nicht so unkontrolliert reagieren – und verdränge deshalb oft dieses lodernde Gefühl.
Aber ist das gut?
Wut zu zeigen, ist unter »vernünftigen« Menschen verpönt.
Ein Beispiel dafür ist Robert Habeck, Bundesvorsitzender der Grünen, der sich eigentlich für eine achtsam gewählte, nicht ausgrenzende Sprache in der Politik einsetzt
In einem
Individuell mag man glauben: Das muss mal raus! Aber für das, was Politik sein soll, nämlich Verkörperung und Spiegel der Gesellschaft, ist das Vorbild ›Ich bin wütend‹ ein ganz schlechtes. Es ist der Beruf eines Politikers, daran zu arbeiten, nicht wütend zu sein.
Wenige Monate nach diesem Interview verabschiedet sich Robert Habeck nach einem Shitstorm von dem sozialen Netzwerk Twitter mit der Erklärung: »Offenbar triggert Twitter in mir etwas an: aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein – und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen.«
Hat der Politiker Robert Habeck Angst vor seiner eigenen Wut? Er wäre nicht der einzige. Die Furcht vor diesem Gefühl ist allgegenwärtig. Dabei sollten wir die Wut in uns umarmen – denn die Energie, die sich dahinter verbirgt, ist enorm. Und sie kann auch konstruktiv genutzt werden.
Doch der Reihe nach.
Ganz unberechtigt ist die Angst vor der Wut nicht, denn sie gehört zu den Gefühlen, die
Aggressives Verhalten ist laut Neurowissenschaftler Joachim Bauer schlicht »ein evolutionär entstandenes, neurobiologisch verankertes Verhaltensprogramm, welches den Menschen in die Lage versetzen soll, seine körperliche Unversehrtheit zu bewahren und Schmerz abzuwehren.« Auf mich bezogen heißt das: Die Neandertalerin in mir wird wütend, sobald der Säbelzahntiger mich und die Meinigen anzugreifen droht. Mein erster Impuls ist, mich zu verteidigen. So gesehen ist Wut
»Hoppla! Pass auf, du darfst dir das hier nicht gefallen lassen!« – die Wut
Es macht darauf aufmerksam, dass hier gerade meine Grenzen überschritten werden. Ich fühle mich bedroht, der Selbstschutz-Instinkt wird geweckt. In diesem Schreckmoment wird eine Stressreaktion im Körper ausgelöst –
Diese mobilisierte Wutenergie ist die Kraft, die evolutionspsychologisch betrachtet 3 instinktive Reaktionen – Kampf, Flucht oder Erstarren – auslösen kann, um mich vor einer Bedrohung zu schützen. Diese Energie wird an einem durchschnittlichen Tag viele Male getriggert. Dafür braucht es keinen Säbelzahntiger – es reicht schon der Gedanke an das meckernde Bürgersteig-Ehepaar, um meine Wut wieder aufsteigen zu spüren.
Was wäre, wenn ich diese Energiereserven nutzen könnte, um für Dinge einzustehen, die mir wichtig sind? Um meine Ziele zu erreichen? Oder mein Umfeld bereichernd zu gestalten?
»Nur Hunde, die Angst haben, beißen.« – Serge Schulz
Stattdessen gebe ich mir oft größte Mühe, diese Wutreaktion zu verdrängen. »Ist doch nicht so schlimm«, sage ich mir in Gedanken beschwichtigend.
»Wir haben Angst vor den Folgen unseres aggressiven, wütenden Verhaltens«,
Werde das Unterdrücken von Wutenergie zur Gewohnheit, könnten Depression, Resignation und psychosomatische Erkrankungen entstehen, so Serge Sulz.
Serge Sulz ist Professor für Verhaltenstherapie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Gründer vom Centrum für Integrative Psychotherapie (CIP) München, arbeitet selbst als Therapeut und Coach und schreibt in seinen Publikationen über den Umgang mit Emotionen.
Bildquelle: privat»Wut ist unsere vitale Kraft«, sagt der Psychologe. »Es gehört zur Vitalität eines Menschen, dass er Dinge anpackt – und natürlich auch, dass er sich da, wo andere ihn und die Seinigen schlecht behandeln, wehrt.«
Weder dem Impulsiv-Aggressiven noch dem Ängstlich-Vermeidenden gelingt ein konstruktiver Umgang mit Wut. In der Mitte zwischen den beiden Polen steht eine gesunde Wehrhaftigkeit. »Und die ist etwas sehr Prosoziales«, sagt Serge Sulz. Auch wenn sie primär den Einzelnen schützt, sei sie gut für die Gemeinschaft.
Nur wenn ich selbst wehrhaft bin, kann ich einen angstfreien und verständnisvollen Umgang mit der Wut anderer entwickeln. Klar – denn wenn ich meine Wut gut kenne und keine Angst vor ihr habe, löst Wut von außen in mir auch nicht mehr so viel Angst aus. Dann kann ich
Sowohl der Autofahrer, der mit quietschenden Reifen vor mir zu stehen kam, als auch das Bürgersteig-Ehepaar haben indirekt ein Bedürfnis nach Sicherheit formuliert. Dieses Bedürfnis kann ich nachvollziehen. Ich merke, wie sich ein Knoten in mir löst. Was wäre gewesen, wenn ich ihnen dieses Verständnis entgegengebracht hätte? Hätte das ihre Wut auch reduziert?
Man solle den Wütenden mit Verständnis begegnen, fordert Serge Sulz: »Eigentlich müssten wir in unserer Gesellschaft nicht Polizisten mit Schutzhelmen haben, sondern mehr Polizeipsychologen.«
Ich weiß jetzt: Meine Wutenergie kann mir helfen, für mich einzustehen. Wenn ich die Angst vor ihr verliere, kann ich auch die Wut anderer besser verstehen.
Laut Serge Sulz gewinnen diejenigen, die Wut ungehemmt zeigen, besonders bei wutgehemmten Menschen Sympathien: »Die trauen sich wenigstens, sich aufzulehnen«, heißt es dann. Die Wut wird zum Objekt der Furcht und der Bewunderung zugleich.
Ich übersetze für mich: Nur wenn wir
Aber was passiert, wenn in der öffentlichen Debatte Emotionen wie Angst und Wut als »schlecht« dargestellt werden? »Fakten statt Emotionen!« fordern Menschen, die sich als vernünftig und rational bezeichnen würden, oft als Antwort auf Trump-Tweets oder Wutausbrüche aus den Reihen der AfD.
Als ob Emotionen niederträchtig wären und in unserer modernen Welt
Unterdrückte Wut führt dazu, dass sich Menschen nicht mehr wehren können – so entsteht eine Opfermentalität, die dem gesellschaftlichen Miteinander nicht guttut. »Menschen, die nicht wehrhaft sind, schaden der Gesellschaft«, sagt Serge Sulz, »weil sie andere verlocken, sie zu benutzen und schlecht zu behandeln.« Wer sich selbst
Die Ursache für den gehemmten Umgang mit Wut in der Gesellschaft liegt auch in der Erziehung – in vielen Familien herrscht das Credo »Du darfst nicht wütend sein«. Eltern verwechseln das Gefühl der Wut mit der aggressiven Handlung – und verbieten oft beides. Wenn sie selbst keinen bewussten Umgang mit der Wut gelernt haben, »fühlen sie sich durch die kindliche Wut angegriffen und gehen mit massiven Drohungen und Gegenaggressionen vor«, schreibt Serge Sulz.
Wie können wir also unsere Wut ausleben – ohne dabei gewalttätig zu werden?
Wut kann zerstören oder Neues erschaffen. Sie kann Beziehungen vergiften oder vertiefen. Sie kann uns selbst depressiv machen oder zu aktiven Gestaltern entwickeln. Es kommt nur darauf an, wie wir mit ihr umgehen. Doch wie können wir einen konstruktiven Umgang mit Wut schaffen?
Wut für mich selbst nutzen: Leidenschaft für etwas statt Wut auf etwas
Diese Strategie eignet sich besonders, wenn ich mich über bestimmte Situationen immer wieder aufrege. Zum Beispiel, wenn es mich bei der Arbeit regelmäßig wütend macht, dass anspruchslose und langweilige Aufgaben immer wieder ausgerechnet auf meinem Schreibtisch landen.
In 3 Schritten kann ich mir der Wutenergie bewusstwerden und sie konstruktiv kanalisieren:
Anstatt weiter am Schreibtisch vor mich hin zu schmollen, dass ich immer wieder langweilige Aufgaben erledigen muss, sorge ich jetzt vielleicht selbst für Kreativität am Arbeitsplatz, indem ich das Gespräch mit meiner Chefin suche oder im Rahmen meiner Möglichkeiten selbst damit anfange, kreativer zu gestalten.
Warum ist es so wichtig, zu formulieren, was man möchte – und nicht etwa, was man nicht möchte? Neurolinguistische Untersuchungen zeigen, dass es unserem Gehirn egal ist, ob wir etwas verneinen oder es bejahen: in beiden Fällen
Wut in Beziehungen nutzen: »So nicht, mein Lieber!«
Diese Strategie dient dazu, mit der Wut in zwischenmenschlichen Interaktionen konstruktiv umzugehen – und sie kommunikativ auszudrücken.
Wenn ich mit der Wut von anderen konfrontiert bin, kann ich in 3 Schritten wehrhafte Empathie üben:
Wenn ich selbst wütend bin, empfiehlt Psychologe Serge Sulz die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation:
Dem Bürgersteig-Ehepaar hätte ich also am besten gesagt: »Sie sind gerade laut geworden. Wenn ich das höre, werde ich wütend, denn ich kläre die Dinge gerne in aller Ruhe. Sie erreichen also mehr bei mir, wenn Sie mich ohne Schimpfen ansprechen. Aber falls wir uns mal wieder auf einem Bürgersteig begegnen, sprechen Sie mich bitte ruhig an – dann braucht sich keiner von uns aufzuregen!«
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily
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