Warum du denken sollst, dass du zu viele Steuern zahlst
Wie viel von deinem Gehalt drückst du an den Staat ab? Wahrscheinlich weniger, als du vermutest. So wird unser Unwissen instrumentalisiert.
Mit Steuern ist es so eine Sache: Eigentlich will kaum jemand mit diesem lästigen Thema zu tun haben. Zu trocken die Materie, zu kompliziert die Gesetze, zu verwirrend die Zahlen. Warum sonst macht nur
Auf einen Standpunkt können sich aber wohl überdurchschnittlich viele einigen:
Und so ist auch die Debatte über die angemessene und vor allem
- Spitzensteuersatz für alle: In Deutschland müssen auch Lehrer und Facharbeiter den höchsten Steuersatz zahlen –
- Steuerzahler-Gedenktag 2019: Erst ab dem 15. Juli arbeiten wir in die eigene Tasche –
- Steuern runter! Volle Kassen, geschröpfte Bürger –
Das Problem ist: Das stimmt alles – und dann doch wieder nicht. Denn Schlagzeilen wie diese sind dazu gemacht, uns an der Nase herumzuführen – und möglichst hohe Klickzahlen in den sozialen Medien zu erreichen. Und wenn es nach denen geht, die für die Verwirrung sorgen, darf das auch gerne so bleiben.
Um daran etwas zu ändern, habe ich mir Unterstützung vom ehemaligen Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, geholt. Bis heute kämpft er dafür, die Bluffs der arbeitgebernahen Verbände zu entlarven.
Oder weißt du, wie viel Prozent Einkommensteuer du unterm Strich wirklich zahlst?
Wer will, dass du Angst vor dem nimmersatten Staat hast
Spitzensteuersatz. Ein Reizwort, das eine sachliche Diskussion durch sein Empörungspotenzial schnell zum hitzigen Gefecht werden lässt.
Man kann zum Beispiel sagen: »Der Durchschnittslohn nähert sich dem Spitzensteuersatz an«, wie es die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) in einer
Was wir sehen: Der dunkelgrüne Balken nähert sich dem schrumpfenden rosa Balken immer weiter an. Das lässt nur einen Schluss zu: »Steuern senken – jetzt!«
»Genau das ist der Punkt, der mich echt auf die Palme bringt!« Norbert Walter-Borjans, sonst stets ruhig und bedächtig in seiner Wortwahl, ist merklich aufgebracht, als wir über die INSM sprechen. Er kennt sich aus mit Kampagnen wie dieser, die ihm seine Arbeit als SPD-Finanzminister in den Jahren 2010–2017 ein ums andere Mal schwer gemacht haben.
Hinter Diagrammen wie diesen verbergen sich, so Borjans, »plausible Unwahrheiten«, mit denen die Mitte der Gesellschaft gezielt in die Irre geführt werden soll. Um das Verwirrspiel rund um den Spitzensteuersatz aufzudecken, müssen wir uns als Erstes den Spitzensteuersatz ansehen, der angeblich die Mitte der Gesellschaft auspresst.
Tut er nämlich gar nicht.
Den Steuermythen auf der Spur
»Jetzt kommt’s!« Norbert Walter-Borjans macht eine kurze Kunstpause, nachdem er das gesagt hat. Bei seinen zahlreichen Vorträgen nach seiner Zeit als Finanzminister hat er sie genau an dieser Stelle schon häufig gemacht. »Die Zahlen in der Grafik sind richtig! Nur hat die INSM einfach etwas ›vergessen‹ zu erwähnen: Der Spitzensteuersatz war in den ganzen angeführten Jahren bis auf 2016 viel höher – bis zu strammen 56% statt der heutigen 42.«
1980 etwa waren 42% Steuern schon beim 1,1-Fachen des Durchschnittseinkommens fällig, während der damalige Spitzensteuersatz noch weiter klettern konnte, bis hin zu den genannten 56%. Das galt bis 1999, als der Satz unter der rot-grünen Regierung Schröder schrittweise von zunächst 53% über 51% (bis 2000) auf unsere
»Einfach nur damit zu argumentieren, von welchem Einkommen an ganz unterschiedliche Höchstsätze fällig werden, ist zutiefst unredlich und irreführend. Das sind 2 ganz unterschiedliche Dinge, die da verglichen werden. Es wirkt, als sei die Einkommensteuerlast gestiegen, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Sie ist drastisch gesunken, und zwar am dramatischten für die hohen Einkommen«, erklärt Norbert Walter-Borjans und fügt hinzu: »Solche Geschichten entstehen ja nicht aus Versehen!«
Wahr ist: Nicht jeder Euro deines Gehalts wird gleich besteuert
Dass Absicht hinter der Verzerrung um Spitzensteuersätze steht, merkt man nicht zuletzt an einem reflexhaften Satz, der in der Diskussion regelmäßig aufkommt. Er lautet so: »Bereits Durchschnittsverdiener müssen heute fast jeden zweiten Euro abgeben. Und das ist ganz schön happig!«
Die Sache ist: Das stimmt so nicht.
Denn die Einkommensteuer steigt in Deutschland gestaffelt an:
- Bis zum sogenannten Grundfreibetrag von 9.168 Euro/Jahr fallen keine Steuern, also 0% an.
- Für jeden Euro über den Grundfreibetrag hinaus bis hin zu einem Jahreseinkommen von 55.961 Euro steigt der Steuersatz dann stufenweise von 14% bis hin zum Spitzensteuersatz von 42% an.
- Der Spitzensteuersatz von 42% gilt ab 55.961 Euro/Jahr bis hin zu 265.327 Euro/Jahr.
- Ab 265.327 Euro/Jahr kommen dann noch einmal 3% drauf. Das ist der eigentliche Spitzensteuersatz von 45%, der umgangssprachlich als Reichensteuer bezeichnet wird.
Wichtig! Überschreitet jemand den Jahresverdienst von 55.961 Euro, dann muss er nicht auf alles 42% Steuer bezahlen, sondern nur auf den Betrag, der diese Grenze überschreitet. Davor bleibt in den jeweiligen Stufen alles gleich. Deswegen spricht man auch von Grenzsteuersätzen. Hinzu kommt, dass sich diese bei Verheirateten einfach verdoppeln. Das heißt, wenn eine Managerin 500.000 Euro im Jahr verdient, ihr Ehemann aber kein Einkommen hat, muss sie trotzdem nicht den höchsten Steuersatz zahlen.
Zur Verdeutlichung rechnen wir die Zahlen mithilfe eines
Die Rechnungen zeigen deutlich: Berücksichtigen wir dies, dann greift der tatsächliche Spitzensteuersatz von 42% plus 3% »Reichensteuer« erst ab
Gleiches gilt auch für einen Bundestagsabgeordneten: Beispielhaft macht Fabio de Masi (Die Linke) jedes Jahr anhand seines eigenen Steuerbescheides transparent, wie viel Steuern er als Spitzenverdiener tatsächlich zahlen muss:
Wieso aber fühlen sich dann Mittelständler vom Spitzensteuersatz bedroht?
Der Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans hat eine Antwort: »Man weiß ganz genau, dass bestimmte Interessengruppen ausgefuchste Kommunikationsexperten beauftragen. Die bauen dann Sätze, die den unteren und mittleren Einkommensgruppen erklären: ›Ihr seid die Betroffenen! Und für euch ändern wir das jetzt!‹ Und am Ende profitieren nur die ganz oben.«
Eine dieser Interessengruppen neben der INSM ist eine, deren Name die eigentlichen Absichten gut verschleiert: der Bund der Steuerzahler.
Warum sich der Bund der Steuerzahler nicht für Normalverdiener interessiert
Alle Jahre wieder ruft der Bund der Steuerzahler (BdS) seinen eigenen Gedenktag aus – den »Steuerzahlergedenktag«.
Bis zum 15. Juli dieses Jahres hätte jeder Arbeitnehmer nur für »den Staat« gearbeitet. Die Botschaft, die hier vermittelt wird, ist klar und schlägt in die gleiche Kerbe wie die INSM: Der raffgierige Staat presst seinen Bürgern ihr Geld ab. Eine knackige, skandalträchtige Botschaft, die in nur einem einfachen Satz Platz findet und so dankbar von bestimmten Parteien und Medien aufgegriffen wird:
Das klingt empörend – wenn es nur stimmen würde.
Der Ökonom Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) hat einmal genauer nachgerechnet – und kam zu einem ganz anderen Ergebnis:
Das Konzept des Steuerzahlergedenktags ist verkorkst und geht in weiten Teilen von falschen Annahmen aus. Kurz gesagt: Es handelt sich um Vulgärökonomie und libertären Populismus – die Tea Party lässt grüßen.
Berücksichtige man dies, liegt die tatsächliche Belastungsquote laut Bach bei 37,1% anstatt der veranschlagten 54,6%. Doch mit einer solchen bleibt nicht viel übrig von der Erzählung, die von Parteien und Medien als Munition genutzt wird. Und die knackigen Einzeiler sind und bleiben in der Welt.
All das bedeutet natürlich nicht, dass es beim Thema Steuern in Deutschland nicht trotzdem ungerecht zugeht. Nur eben ganz anders, als der BdS oder die INSM weismachen wollen: »Seit 20 Jahren werden nur noch die Reichen nennenswert reicher und zugleich steuerlich entlastet, während die Mittelschichten nur noch mit mickrigen Einkommenszuwächsen vorliebnehmen müssen, die von steigenden
Diese Ungerechtigkeiten verschweigen der BdS und die INSM aber. Und das aus gutem Grund: Denn obwohl ihre Namen Verantwortung für alle Steuerzahler suggerieren, kommen ihre Geldgeber nicht gerade aus der Mittelschicht …
Die »scheinsozialen« Lobbyverbände
Die INSM wurde im Dezember 1999 von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie (Gesamtmetall) aus der Taufe gehoben und wird seither von diesen finanziert. Zuletzt konnte die INSM über ein Jahresbudget von 7 Millionen Euro (2017) verfügen.
»Solche Geschichten entstehen nicht aus Versehen!« – Norbert Walter-Borjans über die Kampagnen von Lobbyverbänden
Beauftragt mit Werbung und PR ist seit 2015 die Agentur Blumberry, Tochtergesellschaft der WPP Group, die sich selbst als Weltmarktführer für Kommunikationsdienste bezeichnet und laut der Nichtregierungsorganisation LobbyControl 200.000 Mitarbeiter in 113 Ländern beschäftigt. Die Werbe- und PR-Aktivitäten umfassen unter anderem Kampagnenarbeit für marktliberale Politik, gegen den Mindestlohn und gegen Steuerreformpläne
Auch bekannte Namen aus der Politik tauchen bei der INSM auf. So zählte unter anderem Friedrich Merz (CDU) zu den Unterstützern des 2016 aufgelösten INSM-Fördervereins. Interessanter ist noch, dass ausgerechnet der ehemalige SPD-Politiker Wolfgang Clement (Austritt 2008), der als Bundeswirtschaftsminister unter Gerhard Schröder wirkte, heute Vorsitzender des INSM-Kuratoriums ist. Wolfgang Clement ist zudem Mitglied des
Beim BdS sieht es ähnlich marktliberal aus. Hier sitzt der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) dem rheinland-pfälzischen Landesbund vor. Die Nähe des BdS zu den Freien Demokraten zeigt sich dann auch in offener und reger Zusammenarbeit – wie etwa bei gemeinsamen Presseerklärungen:
Finanziert wird der BdS aus Spenden und von den Mitgliedsbeiträgen seiner 250.000 Mitglieder, die laut LobbyControl kein repräsentatives Bild des deutschen Steuerzahlers abgeben. So sind 60% Unternehmen und gewerbliche Mittelständer, 15% Freiberufler und die übrigen mehrheitlich Angestellte in leitenden Positionen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich haben all diese Menschen natürlich das Recht, sich und ihre Interessen zu organisieren und vertreten zu lassen. Transparenz sieht allerdings eher anders aus. Es wird daher Zeit, mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Auch Multimillionäre haben ein Recht auf eine Lobby, aber …
Verbindungen zwischen Politikern und Interessengruppen sind weder ungesetzlich noch per se verwerflich. So pflegt die SPD traditionell enge Verbindungen zu Arbeitnehmervertretungen. Trotzdem sieht SPD-Politiker Norbert Walter Borjahns hier einen zentralen Unterschied: »Ich habe immer gesagt, dass auch Multimillionäre ein Recht auf eine Lobby und Interessenvertretung haben. Wenn aber die Multimillionäre ihre Interessen durchsetzen, indem sie den Kleinen erzählen, sie würden sich für sie einsetzen, dann habe ich ein Problem mit diesen Multimillionären«, sagt er. »Dieser grundlegende Mechanismus findet sich an enorm vielen Stellen, auch weit über die beiden genannten Organisationen hinaus. Das hat schon etwas von Propaganda.«
Ohne ein kritisches Bewusstsein für die Bluffs rund um Spitzensteuersatz und Sozialabgaben geht es also nicht. Ein erster Schritt dazu kann sein, sich bewusst zu machen, dass Lobbyisten nicht nur ins Parlament wollen – sondern auch in die Gehirne jedes Einzelnen von uns.
»Sie leben davon, dass sie die Distanzierung von den Menschen gegenüber ihrem eigenen Gemeinwesen vergrößern. So denken viele nicht mehr, dass sie gemeinsam mit anderen dieser Staat sind, sondern irgendwann nur noch ›Dieser Staat, immer will er was von uns. Und wir sind immer die Gebeutelten.‹«, ist sich Norbert Walter-Borjans sicher. Das Resultat ist ein Keil, der langsam, aber stetig zwischen Bürger und Staat getrieben wird. Und der dient dazu, die legitime Wut über ungerechte Lastenverteilung pauschal auf den »Steuerstaat« zu richten.
»Das alles geht dann weit über Finanzpolitik hinaus«, so Norbert Walter-Borjans.
»Wir dürfen nicht vergessen, dass der Großteil der Bevölkerung abends eben nicht im Sessel sitzt und Politmagazine schaut.« Umso wichtiger sei die Rolle von kritischen Journalisten und Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel dem
»Mindestens so wichtig für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft wie die Frage, wofür das Geld ausgegeben werden soll, ist, von wem es herkommen soll. Und zwar ohne dass sich Menschen einfach vor dieser Verantwortung davonstehlen.«
Mit Illustrationen von Adrian Szymanski für Perspective Daily