Die befreiende Leere im Kleiderschrank
Wie viele Kleiderstücke besitzt du? Und wie viele davon trägst du wirklich? Minimalismus ist eine Bewegung, die sich bewusst gegen die Trends unserer Konsumgesellschaft entscheidet.
Der Kleiderschrank platzt aus allen Nähten und trotzdem hast du wieder nichts zum Anziehen? Die meisten Deutschen kennen diese Situation. Von den 5,2 Milliarden Kleidungsstücken in deutschen Schränken werden 19% sehr selten oder nie getragen – das ist immerhin jedes fünfte Kleidungsstück, zusammen sind es fast
Zentral am Alexanderplatz liegt eine der beiden Primark-Filialen in Berlin. Der Discounter aus Irland ist bei Teenagern äußerst beliebt:
»Kauf dich glücklich«
Dieses Credo steht hinter dem Konzept der Billig-Ketten. Es geht um Emotionen: »Shoppen soll Spaß machen!« Die
Dass niedrige Preise und hoher Umsatz nicht ohne Ausbeutung funktionieren können, sollte eigentlich klar sein. Doch das scheint nicht viele Kunden zu stören: Der Zusammenhang zwischen Kampfpreisen in der Textilbranche und ausbeuterischen Produktionsbedingungen ist vielen Kunden zwar bewusst. Die Liste ist lang:
Dennoch achten Hersteller vor allem darauf, der Nachfrage nach günstiger Mode gerecht zu werden, die dem aktuellen Fashion-Trend entspricht. Kleidung hat sich vom kostbaren Gut zum temporären Mode-Statement entwickelt. Das führt mitunter direkt zu Verschwendung:
2010 entdeckten Passanten während eines bitterkalten New Yorker Winters mehrere zerschnittene Winterjacken in einem Abfalleimer – alle von
Wir Konsumenten tragen eine Mitschuld an diesen Verhältnissen – denn die Nachfrage nach immer neuen Billigprodukten ist nach wie vor hoch.
Solange gekauft wird, wird produziert.
Ein schlechtes Gewissen können sich viele Kunden von Primark und Co. auch gar nicht leisten, denn gerade einkommensschwache Haushalte sind auf Discounter angewiesen. Das ist auch die Argumentation der Hersteller: Vor allem für Teenager sei es wichtig, die neueste Mode zu tragen, um »dazuzugehören«. Aber auch wer ein größeres Budget für Kleidung hat, kauft oft lieber bei den Discountern schlecht produzierte Ware – und davon viel zu viel. Für unser Belohnungssystem kommt Quantität eben vor Qualität.
Teurer ist nicht gleich besser
Pro Monat kauft jeder Deutsche im Schnitt für 107 Euro Bekleidung und Schuhe. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 64,3 Milliarden Euro
Auf der anderen Seite reagierten gerade Discounter auf ihr schlechtes Image und bemühten sich in den letzten Jahren mehr um Transparenz und faire Produktionsbedingungen. H&M bietet heute sogar einen Recyclingservice für Textilien an – gegen Wertgutscheine. Doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein – geläufig ist dafür der marketing-strategische Begriff
Wir stecken also in einem Dilemma: Die meisten Konsumenten wollen möglichst günstig
Dieses Kaufverhalten wiederum dient den Händlern als Anreiz, die Qualitätsspirale weiter nach unten zu drehen. Das Ergebnis: Hosen für 10 Euro, Kinderarbeit mit 14-Stunden-Schichten.
Warum nicht einen Beitrag zur Lösung bei uns selbst und unserem übervollen Kleiderschrank suchen?
Weniger im Schrank: Eine kleine Einführung in den Minimalismus
Eine individuelle Möglichkeit aus diesem
auszubrechen ist, sich der Minimalismus-Bewegung anzuschließen. Die ist nicht neu: Schon die
»Weder annehmen noch besitzen, was man nicht wirklich zum Leben braucht.« – Gandhi
Samuel Alexander, Co-Direktor des Simplicity Institute, beschreibt das Konzept als »eine konsumkritische Lebensweise, die sich der gängigen Verschwendung unserer Gesellschaft entgegensetzt und freiwillig ein ›einfacheres Leben‹ reduzierten Konsums
- Einfach bleiben: Um minimalistisch zu leben, solle man »[…] seine materiellen Bedürfnisse so einfach und direkt wie möglich befriedigen.« Es muss also nicht ein Designer-Hemd mit schickem Logo und neuestem Modeschnitt sein – ein beliebiges Hemd in der gewünschten Farbe tut es auch.
- Konsum minimieren: Minimalisten reduzieren ihre Ausgaben für Konsumgüter und Dienstleistungen und suchen nach nicht-materialistischen Quellen für Zufriedenheit und Bedeutung. So muss es nach einer stressigen Woche vielleicht gar kein neues Hemd »zur Belohnung« sein – ein Spaziergang mit Freunden kann denselben Effekt auf unser Belohnungszentrum haben.
Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt die japanische Beraterin und Autorin Marie Kondo: Sie hat die
Ganz ähnlich funktioniert das
Kann sich Minimalismus jeder leisten?
Obwohl nachhaltigere Kleidung meist teurer ist, kann ein bewussterer Kauf von Kleidung im Ergebnis sogar den Geldbeutel schonen. Paul Jannaschk ist Student in Berlin und hat ein beschränktes monatliches Budget. »Ich habe früher auch bei billigen Modeketten eingekauft, weil es günstig war«, sagt er. Heute dagegen kauft er nur noch bei
Von denen gibt es mittlerweile eine ganze Menge.
Mir ging es vor allem um faire Produktionsbedingungen und gute Qualität. Und wenn man sich einmal damit beschäftigt, kommt man zwangsläufig zu nachhaltigen Marken. […] Zwar ist das einzelne Kleidungsstück teurer, aber man muss ja auch einberechnen, wie oft man ein Teil dann trägt. Im Endeffekt ist das billiger und nachhaltiger.
Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und einem minimalistischen Lebensstil belegt. So fand
Wer dann seltener, dafür qualitativ hochwertigere Kleidung kauft und diese dann auch länger trägt und gegebenenfalls repariert, anstatt beim ersten Löchlein zu ersetzen, schlägt sogar die Dumping-Preise von Primark und Co. Eine einfache Berechnungsart für den Wert eines Kleidungsstückes ist es, den Stückpreis durch die Anzahl der Gelegenheiten zu teilen, zu denen man das Kleidungsstück voraussichtlich tragen wird. So kostet ein Kleid für 60 Euro, das man vielleicht 15 Mal trägt, durchschnittlich 4 Euro pro Tragen – also weniger als ein 10-Euro-Kleid, das man vielleicht nur 2 Mal trägt (5 Euro pro Tragen).
»Do it yourself statt Discounter« – Minimalismus als politisches Einkaufen
Minimalismus ist auch ein Versuch, sich dem Druck der
Ein wachsendes Bewusstsein für Minimalismus kann auch gegen die soziale Ausgrenzung armer Bevölkerungsschichten wirken. – Iris Pufé
Auch für Nachhaltigkeits-Vorreiter wie Iris Pufé ist der Minimalismus eine Chance. Die Beraterin, Autorin und Dozentin lehrt an der Hochschule München und berät seit über 10 Jahren Unternehmen, Behörden und NGOs dabei, nachhaltiger zu werden. Minimalistischer leben sieht sie tatsächlich als eine mögliche Lösung – aber nur, wenn dies nicht lediglich ein
Es muss um die Motivation hinter Minimalismus gehen, für ökologische und soziale Verantwortung zu sensibilisieren. Mit einer ethischen Motivation hat das Potenzial. Vergleichen wir es mit Bio-Produkten. Von denen hat auch niemand erwartet, dass wir sie einmal in Discountern finden würden. Und heute haben wir einen stetigen Zuwachs und sie machen in etwa 5% Marktanteil aus. […] Über das Kaufverhalten wirkt das auch auf die Wirtschaft. So haben bereits heute alle Outdoorhersteller gute Nachhaltigkeits-Werte, eben, weil die Outdoor-Konsumenten dafür sensibilisiert sind.
Mehr noch, sollte Minimalismus gesellschaftlich akzeptierter werden, könnte dies auch einkommensschwache Konsumenten entlasten, die bisher auf weniger Konsum (oder Primark) angewiesen sind. Geflickte Kleidung oder fünfmal die Woche denselben Pullover auf der Arbeit zu tragen, wäre dann kein gesellschaftlicher Makel, sondern eine akzeptierte Alternative.
Und wie sieht Minimalismus konkret aus? Hier einige Beispiele aus unserer Hauptstadt Berlin:
- Repair Cafés: In Berlin gibt es zahlreiche offene Werkstätten und Repair-Cafés wie das Kunst-Stoffe-Berlin, wo man gemeinsam etwas reparieren oder selbst bauen kann – anstatt es gleich wegzuwerfen.
- Kleidertausch: Ähnlich auch beim Kleidertausch vom Kulturlabor Trial & Error. Hier können die Besucher Kleidung tauschen oder gratis mitnehmen, auch Nähmaschinen zum Flicken oder Verschönern stehen bereit.
- Reparaturservice: Ein anderes Beispiel ist der schwedische Jeanshersteller Nudie Jeans, der viel Wert auf die Nachhaltigkeit seiner Produkte legt – bei der Herstellung und auch nach dem Verkauf. Das Motto des Labels ist: »Eine gute Jeans ist wie eine zweite Haut«. Eingetragene Jeans seien wie gute Freunde, deshalb sollten sie so lange wie möglich getragen werden können. Um das zu ermöglichen, bietet die Firma einen kostenlosen Reparaturservice in den Läden an.
- »Capsule Wardrobe«: Der Begriff wurde von der amerikanischen Designerin Donna Karan populär gemacht. Dazu gehört ein Kleiderschrank, der aus wenigen Kleidungsstücken besteht, die gut miteinander zu verschiedenen Outfits kombiniert werden können. Auch die Designerin Nina Walter von IND-Berlin will mit ihren Klamotten die Vielfalt des minimalistischen Kleiderschranks erhöhen. Seit September 2014 entwirft sie multifunktionale Kleidungsstücke wie den »Twock«. Diesen kann man als Rock, Oberteil, Weste oder sogar Tasche verwenden – insgesamt auf 16 verschiedene Arten.
Es ist eine neue Interpretation des Themas Nachhaltigkeit. Je weniger man besitzt, desto besser. – Nina Walter
Die Zukunft der Textilindustrie wird natürlich nicht so aussehen, dass wir uns alle unsere Kleidung selbst nähen oder nur Second-Hand tragen. Aber ein größeres Bewusstsein dafür, sich dem Konsumtrend entgegenzusetzen, trägt zur Lösung bei. Auch dann, wenn manch einer dennoch nicht auf den günstigeren 10er-Pack Unterwäsche bei H&M verzichten möchte. Wenn bewussterer Einkauf beispielsweise dazu führt, dass der durchschnittliche Deutsche 10% weniger Kleidung kauft, so hätten wir insgesamt über 500 Millionen Kleidungsstücke weniger in unseren Kleiderschränken. Das wäre doch schon einmal ein Anfang!
Titelbild: Emma Kate - CC BY-SA 3.0