Wir sitzen in der Redaktionskonferenz wie jeden Dienstag. Hier geht es darum, die anderen Redakteure von einer Artikelidee zu überzeugen. Weil in Sachsen, Brandenburg und Thüringen bald Landtagswahlen sind, liegt es mir am Herzen, über ein ostdeutsches Thema zu schreiben. Denn vor allem in sozialen Medien geht gerade die Angst vor einem Rechtsruck um, und das Image von Ostdeutschland leidet unter einer Flut von
Ich sage zu meinen Kollegen: »Ich will zeigen, dass das da drüben halt nicht nur brauner Sumpf ist, so wie das in manchen anderen Medien dargestellt wird und im Netz gerade Meinung ist.« Meine Kollegin Juliane, geboren in Thüringen, meldet sich: »Wem willst du das erzählen? Den Westdeutschen? Ich würde mich als ostdeutsche Leserin gar nicht angesprochen fühlen.« Ihre Antwort regt mich etwas auf, denn ich will doch niemanden ausschließen oder die neuen Bundesländer als fremd beschreiben. Aber sie hat schon recht: Irgendwie schaue ich doch von außen auf den »Osten« und schreibe natürlich aus meiner Perspektive – als Journalist aus Nordrhein-Westfalen.
1/3 der Westdeutschen finden, dass Ostdeutsche noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen sind. – Ergebnis der Studie »Ost-Migrantische Analogien I« des
Deutsche Demokratische Republik (DDR), das ruft in mir schnell Bilder von einem gescheiterten Staat, von Stasi-Spionen, Planwirtschaft und Plattenbauten hervor. Ganz schön trostlos. Genährt von Schlagzeilen und Rechtsradikalismus verschwimmen in meinem Kopf gleich 5 Bundesländer zu einer zähen Masse. Ich will besser verstehen, warum ich so denke und was ich dagegen tun kann.
Hier kommt Christoph Lorke ins Spiel. Der Historiker hat im deutschen Osten und Westen gelebt: Er stammt eigentlich aus Querfurt in Sachsen-Anhalt und ist im Erzgebirge großgeworden. Mittlerweile forscht er an der Universität Münster zur »Geschichte des doppelten Deutschlands« und legt die Trennlinien offen, die bis heute in deutschen Köpfen wie meinem sitzen.
Wiedervereinigung? Der Westen hat den Osten geschluckt!
Woher kommt das eigentlich, dass Westdeutsche sich ein Urteil über Ostdeutschland erlauben – und doch so wenig wissen?
Christoph Lorke:
Das stammt zu einem großen Teil noch aus der Zeit vor der Wende. In Westdeutschland schaute man mit dem Rücken zur Mauer stehend vor allem auf sich selbst. Der Blick vom Osten aber ging über die Mauer hinüber in den Westen. Für die DDR war Westdeutschland eine Gesellschaft, mit der sich ständig verglichen wurde – eine ausgesprochen asymmetrische Situation.
Nach der Wende musste man den »anderen« erst mal ganz neu kennenlernen?
Christoph Lorke:
Es brauchte erst mal so etwas wie einen interkulturellen Austausch, der aber aufgrund der Geschwindigkeit nur ansatzweise stattgefunden hat. Dazu hatten beide Seiten starke Klischees und Vorurteile, die dabei aufeinandergeprallt sind – und dabei entstanden dann die Bilder, die bis heute nachwirken: etwa der »Besserwessi« oder »Jammerossi«. Integration im heutigen Sinn passierte damals so nicht. Und deshalb blieb ein Teil dieser Asymmetrie bestehen.
Worin bestand diese Ungleichheit genau?
Christoph Lorke:
Damals gab es durchaus Ideen aus dem Osten selbst, dass die DDR zunächst unabhängig bleiben, vielleicht sogar den Sozialismus reformieren könnte. Doch der Sog des Westens, die Stärke der D-Mark, der klare Sieg von Helmut Kohl in den Kommunalwahlen im März 1990 – diese Ereignisse haben solche Ansätze überrollt.
Christoph Lorke:
In gewisser Weise ja. Ich würde nicht so weit gehen wie einige Historiker, die darin etwas also Eroberer, die sich ein Land aneignen. Doch es gab für viele ein klares Gefühl einer Hierarchie und Überlegenheit des Westens. Und die wurde nicht zuletzt durch Teile der Massenmedien rübergebracht und mitgetragen …
Die ja automatisch Westmedien waren. Was hat das mit den Ostdeutschen gemacht?
Christoph Lorke:
Man muss annehmen, dass bei der Wende auch Traumata entstanden sind. Ich habe selbst eine Ostvergangenheit und weiß: Neben vielen Gewinnern hat es auch zahlreiche Menschen gegeben, die sich fortan als Verlierer der Einheit fühlten. Aus heutiger Sicht wurde damals nur unzureichend Rücksicht auf die Sorgen und sozialen Nöte der Menschen genommen. Auch die Rolle der sollte hier nicht unterschätzt werden. Ganze Berufsgruppen waren von einem Tag auf den anderen nicht mehr gefragt. Plötzlich fanden sich Polizisten, Lehrer oder Beamte im Prekariat wieder oder mussten auf einmal Wohn-, Arbeitslosen- oder sogar Sozialhilfe beantragen – was zuvor völlig unbekannt war. Viele zogen weg. Und daran erinnern sich viele Ostdeutsche auch heute noch, da wirkt vieles als Phantomschmerz nach.
1/3 der Ostdeutschen sieht sich als Bürger zweiter Klasse.Ergebnis der Studie »Ost-Migrantische Analogien I« des
Nicht jede Ost-Biographie findet sich in der Stasivergangenheit wieder
Wenn wir heute an die DDR denken, dann auch vor allem an die Stasi …
Christoph Lorke:
Ja, im Nachgang der Wende und mit der Aufarbeitung wurde die DDR von einigen Zeitgenossen teilweise bewusst verkürzend als »Stasiland« dargestellt. Dazu kamen die vielen Skandale in den Medien um in den 1990ern, unter deutschen Politikern oder Im Zuge dieser Aufarbeitung entstand dann das alles überstrahlende Bild der DDR als »Unrechtsstaat«, als totalitäre Gesellschaft mit lückenloser Überwachung. Und auch Filme wie Das Leben der Anderen sprangen darauf auf und prägten die öffentliche Wahrnehmung.
»In einem System der Macht ist nichts privat« heißt es da im Trailer. Klar, das ist eine Dramatisierung. Aber ist das Bild denn so falsch?
Christoph Lorke:
Die Größenordnung der Stasi ist natürlich schon erschreckend, ihre historische Aufarbeitung wichtig für unser Verständnis. Und es gab damals gute Gründe, warum man sich da so auf das Thema stürzte – man wollte die Fehler nach 1945 nicht noch einmal machen, als die Aufarbeitung lange auf sich warten ließ. Aber man darf nicht vergessen: Wir kennen nur eine Seite. – auch eine Asymmetrie übrigens.
Welche Rolle hatten bei der Aufarbeitung der Stasi denn westdeutschen Medien?
Christoph Lorke:
Die »Bild-Zeitung«, aber bisweilen auch andere Medien zeigten erschreckend mangelndes Fingerspitzengefühl. Und auch linke Politiker wie Oskar Lafontaine reproduzierten überzeichnete Bilder von »unmündigen Bürgern« – für viele Ostdeutsche war das kränkend. Und wenn heute unter manchen Ostdeutschen Misstrauen gegenüber dem gedruckten Wort oder »der großen Politik« herrscht, dann hat das wohl zu einem guten Teil hier seine Wurzeln.
Gegenüber der Politik? Das hat mich immer schon gewundert. Denn zentrale politische Ämter in Deutschland haben ja unter anderem Menschen inne, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind!
Christoph Lorke:
Klar, wir haben mit Merkel eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, und hatten bis vor wenigen Jahren mit Gauck einen ostdeutschen Bundespräsidenten. Das sind Schlüsselstellen, die jedoch von vielen nicht so wahrgenommen werden. Sie erhielten auch rasch ein anderes Image, das sich vor allem mit Enttäuschung und falschen Erwartungen an deren Ost-Vergangenheit verband. Das kenne ich auch aus meinem Bekanntenkreis – da heißt es dann: »Die sind in den Westen gegangen. Die gehören nicht zu uns.« Auch mir geht es so. Als ich neulich auf einer Tagung in den Neuen Bundesländern auftrat, warf man mir vor, »wessifiziert« zu sein.
Das klingt nach platter Ablehnung und ein wenig nach Pegida.
Christoph Lorke:
Da haben Sie vermutlich nicht Unrecht. Unter vielen Ostdeutschen gab es durchaus einiges an Ernüchterung in den letzten Jahrzehnten. Trotz vieler Erfolge in Punkto »Aufbau Ost«: Die versprochenen »blühenden Landschaften« wuchsen nicht und wo sie heute blühen, da gibt es kaum noch Menschen, junge Menschen zieht es in die größeren Städte, die Infrastruktur bröckelt zusehends. Das ist Nährboden für populistische Deutungen – links wie rechts. Populisten nutzen diese Situation geschickt aus und inszenieren sich als Kümmerer. Aber auch dabei muss man aufpassen, dass man diese Entwicklung jetzt nicht verallgemeinert und von »dem Osten« spricht.
Und damit wieder ein falsches Bild erzeugt? Etwa 1/3 der Westdeutschen sagen über Ostdeutsche, dass diese sich nicht genug vom Extremismus distanzieren. – Ergebnis der Studie »Ost-Migrantische Analogien I«
Christoph Lorke:
Richtig. Denn wir sehen zwar Tendenzen und Wahlergebnisse, aber es gibt zahlreiche Leuchttürme im Osten, die auch anders wählen.
Haben Sie denn keine Angst, wie in etwa Sachsen und Thüringen die Wahlen ausgehen?
Christoph Lorke:
Natürlich teile ich so manche Befürchtung mit Blick auf den anstehenden Wahl-Herbst. Aber ein erhobener Zeigefinger gen »ihr da drüben« hilft niemandem weiter. Diese alten und auch neuen Ostbilder haben eine ungesunde Eigenlogik entwickelt. Wir müssen uns von ihnen verabschieden und uns stattdessen um Differenzierung bemühen.
So findet man zum echten Osten
Also Schluss mit dem Negativbild von Ostdeutschland. Wo wir eben bei Filmen waren: statt Das Leben der Anderen dann lieber Goodbye Lenin?
Christoph Lorke:
Romantisierte Ost-Nostalgie hatten wir ja schon. Da gab es dann Nostalgieshops, Spreewaldgurken und Prominente trugen FDJ-Hemden in Talkshows. Das ist ein anderes Extrem, das riskiert, zu verharmlosen.
Aber brauchen Menschen in Ostdeutschland nicht auch ein positives Narrativ, etwas, auf das sie stolz sein können?
Christoph Lorke:
Vieles aus der DDR-Vergangenheit ist heute sozusagen kontaminiert. Was Menschen mit Ostvergangenheit ausmacht, die Beschäftigung mit sich selbst, das Bewusstsein, trotz mitunter widriger Umstände ein Leben geführt zu haben, auf das man stolz sein darf … all das lässt sich nur schlecht artikulieren und verallgemeinern.
Könnte es nicht doch gelingen?
Christoph Lorke:
Es gibt einige Ansätze. Übrigens auch im Kino: Da lief im vergangenen Jahr etwa Gundermann, ein Film über einen singenden Baggerfahrer während und nach der DDR-Zeit. Hier wie auch bei der Serie Weißensee merkt man: Das ist jenseits von Schwarz und Weiß, das ist ein differenzierter Ansatz.
Gundermann habe ich gesehen! An der Produktion wirkten auch Ostdeutsche mit. Und der Film zeigt ja gerade die Widersprüchlichkeit des Lebens in der DDR und urteilt nicht. Wäre »mehr davon« eine Idee für die deutsche Filmförderung?
Christoph Lorke:
Keine schlechte Idee. Beim Thema Ostdeutschland gibt es in jedem Fall noch viel zu tun. Man spürt immer wieder, wie die Geschichte noch qualmt und wie emotional das Thema noch ist. Die Aufarbeitung ist längst nicht abgeschlossen, insbesondere jetzt, wenn wir jungen Menschen erklären wollen, »was« nun eigentlich »die DDR« war.
Und wenn ich nicht warten will und als Wessi Ostdeutschland besser verstehen möchte, was mache ich dann?
Christoph Lorke:
Vielleicht in den Urlaub in den Osten fahren. Wie viele Westdeutsche machen das denn, schauen sich um und unterhalten sich mit den Menschen dort? Und ich meine nicht die östlichen Teile von Berlin oder Leipzig, sondern vielleicht Ostbrandenburg, den Harz oder die Uckermark? Da ist noch viel Luft nach oben.
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Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.