Bald merken alle, dass ich gar nichts kann!
Viele Menschen zweifeln an ihren Fähigkeiten – obwohl es gar keinen Grund dafür gibt. So stellst du dich deinen Hochstapler-Gefühlen.
Der erste Tag im neuen Job. Es ist normal, dass ich da etwas aufgeregt bin. Ein paar Arbeitstage vergehen. Ich schreibe an meinem ersten Artikel und zögere die Abgabe heraus –
Was in schwacher Ausprägung normal ist, kann in extremer Form fatale Folgen haben. Wie bei Sophie M.: Sie arbeitete jahrelang als wissenschaftliche Hilfskraft an ihrer Universität, bestand ihren Psychologie-Master mit der Note »sehr gut«. Obwohl sie eigentlich Wissenschaftlerin werden wollte, lehnte sie das Angebot ab, an ihrem Lehrstuhl zu promovieren – aus Angst, als Hochstaplerin aufzufliegen, wie sie ihrem Lehrstuhlleiter Jahre später gestand.
Diese diffuse Angst, als Betrüger entlarvt zu werden, hat seit den 80er-Jahren einen Namen:
»Das Imposter-Phänomen ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal«, sagt mir Psychologin Sonja Rohrmann. Sie schrieb Sophie M.s Geschichte in ihrem
Wie häufig das Phänomen tatsächlich ist, lässt sich deshalb kaum ermitteln. In meinem Freundeskreis jedenfalls wissen die meisten direkt, was ich meine, wenn ich ihnen kurz erkläre, was das Imposter-Phänomen ausmacht – und in irgendeiner Form hat es fast jeder schon erlebt.
Ich fühle mich oft, als wäre meine Arbeit im Vergleich zu dem, was andere machen, wenig wert. Dabei weiß ich, dass ich eigentlich einen guten Job mache.
Was ich mit Emma Watson gemeinsam habe
Auch aus meinem eigenen Leben fallen mir Situationen ein, in denen ich mich wie eine Betrügerin gefühlt habe, obwohl es objektiv betrachtet keinen Grund dafür gab. Da ist zum Beispiel
Diese Gefühle lassen sich nicht nur in meinem direkten Umfeld finden, sondern auch bei Menschen, von denen ich es noch weniger erwartet hätte: Erfolgreiche Frauen wie Emma Watson, Lady Gaga und Michelle Obama verkündeten öffentlich, dass auch sie sich manchmal wie Hochstaplerinnen fühlen.
Es ist fast so, dass mein Gefühl der Unzulänglichkeit immer weiter wächst, je besser ich werde. Ich denke nur: ›Irgendjemand wird herausfinden, dass ich eine totale Betrügerin bin und nichts von dem verdiene, was ich erreicht habe.‹
Wie kann es sein, dass man so über sich denkt, obwohl es Beweise gibt, die etwas anderes sagen? Der gute Abschluss, die Jobzusage, der gewonnene Preis (oder in Emma Watsons Fall: ihr filmischer Erfolg) – würde das alles wirklich jemandem gelingen, der gar nichts leistet?
Wann Selbstzweifel gut sind – und wann nicht
Bis zu einem gewissen Grad sind Selbstzweifel Teil des Lebens und völlig normal. Sie haben sogar einen evolutionären Zweck, erklärt die britische Psychologin Jessamy Hibberd in ihrem
Auch Sonja Rohrmann weiß von den positiven Effekten, die Selbstzweifel bis heute haben können: »Selbstzweifel können uns antreiben, alles besonders gut zu machen«, sagt die Psychologin. Oft würden Menschen, die an sich zweifeln, auch als sympathisch wahrgenommen, weil sie sich nicht selbst überschätzen. Außerdem können Zweifel dafür sorgen, dass wir uns selbst hinterfragen, uns informieren und so weiterentwickeln.
Werden die Zweifel aber so extrem, dass sie von der ständigen Angst aufzufliegen begleitet werden, können sie echte Nachteile mit sich bringen. Wie bei Sophie M., die ihre Imposter-Gefühle ihren Traumjob gekostet haben.
Laut der Psychologin gibt es 2 Arten, auf die Menschen mit Imposter-Gefühlen reagieren: »Entweder sind sie zu 180% perfektionistisch oder sie schieben ihre Arbeit aus Angst bis auf den letzten Drücker vor sich her.«
Erledigen sie ihre Aufgabe erfolgreich, führt das nicht etwa zu Glücksgefühlen. Den Erfolg erklären sich selbst ernannte Hochstapler dann beispielsweise mit Glück oder damit, dass sie viel Zeit in die Aufgabe investiert haben. »Beide Verhaltensweisen sind erschöpfend«, sagt Rohrmann. Die ständige Angst, der Perfektionismus und die
Menschen mit starken Imposter-Gefühlen schaffen es nur schwer, sich in der Freizeit von ihrer Arbeit zu lösen, sie neigen auch dazu, viel Alkohol zu trinken und ihre Ernährung zu vernachlässigen.
Manche Menschen sind anfälliger für Imposter-Gefühle
Wie sehr sich unsere Selbstzweifel ausprägen und ob sie in Imposter-Gefühlen münden, hängt auch mit unserem Umfeld zusammen. »Vom Imposter-Phänomen sind vor allem Menschen betroffen, die eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur haben, die ängstlich sind und ein geringes Selbstwertgefühl besitzen«, sagt Sonja Rohrmann. Wer so eine Persönlichkeitsstruktur habe, könne positive Leistungen nur schwer auf sich selbst und seine eigene Leistung zurückführen, negative dafür umso leichter.
Als das Imposter-Phänomen erstmals beschrieben wurde, gingen die beiden US-amerikanischen Forscherinnen Pauline Clance und Suzanne Imes davon aus, dass es sich um
Trotz herausragender akademischer und beruflicher Leistungen glauben Frauen, die das Imposter-Phänomen erleben, immer noch, dass sie wirklich nicht klug sind und jeden, der etwas anderes denkt, zum Narren gehalten haben.
Auch wenn die Gedanken der beiden Wissenschaftlerinnen nachvollziehbar scheinen und auch heute vor allem weibliche Betroffene in der Öffentlichkeit stehen, konnten Studien keinen Geschlechterunterschied feststellen: Frauen und Männer, so lautet die Erkenntnis, können gleichermaßen vom
»Besonders anfällig für Imposter-Gefühle sind Menschen, bei denen eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur auf ein bestimmtes Umfeld trifft«, sagt Rohrmann. Wenn sich etwa
Menschen, die in eine Außenseiterrolle gedrängt werden, sind besonders anfällig.
Das Gefühl zu betrügen äußert sich dabei auf verschiedenste Weise und kann auch gesellschaftliche Ursachen haben: Im amerikanischen National Public Radio berichteten People of Color von dem Gefühl, ein Racial-Imposter,
Eine Forschergruppe aus Austin, Texas, fand zudem heraus, dass asiatisch-amerikanische Studierende im Vergleich zu anderen Minderheiten
So stellst du dich deinen Imposter-Gefühlen
Die Beispiele machen klar, welche Folgen es haben kann, wenn Menschen das Gefühl haben, einer bestimmten Rolle entsprechen zu müssen. Weniger Erwartungen und weniger Vorurteile an bestimmte Gruppen und einzelne Menschen zu stellen, könnte ein Anfang sein, das zu ändern. Denn wenn es keine Rollenklischees gäbe, müsste auch niemand versuchen, einer bestimmten Rolle
Dabei hilft es nicht nur, anzuerkennen, dass es natürlich Menschen gibt, die besser sind als man selbst, sondern auch, dass das vollkommen okay ist! Viele Menschen übersehen durch ständiges Vergleichen, dass sie selbst auch viel leisten.
»Vielen hilft es bereits, dass dieses Gefühl einen Namen hat«, sagt Rohrmann. So lasse sich besser darüber reden. Und genau das kann helfen: Indem Imposter über ihre Gefühle sprechen, können sie Menschen finden, denen es ähnlich geht – das können Freunde, Kollegen oder auch Fremde sein. Hier können beispielsweise auch Psychotherapeuten oder Coaches helfen, eine Gruppentherapie zu finden. »Wer erkennt, dass er nicht alleine ist und sich sozusagen in bester Gesellschaft mit anderen erfolgreichen Personen befindet, kann besser mit seinen Gefühlen umgehen«, sagt Rohrmann.
Auch Freunde oder Familienmitglieder, die nicht selbst von Imposter-Gefühlen geplagt werden, können helfen. Wer offen mit seinen Gefühlen umgeht, kann andere bitten, zu spiegeln, wie sie den Betroffenen wahrnehmen.
Ich bin besser, als ich denke.
Eine andere Maßnahme zur Selbsthilfe ist die Tagebuchmethode: Wer jeden Tag aufschreibt, was er gut gemacht hat und was er gut kann, lernt die eigenen Fähigkeiten besser kennen. Wer sich – aus welchen Gründen auch immer – als Außenseiter fühlt, kann beispielsweise daran denken, welche einzigartigen Perspektiven er in einem Team einbringt. So kann man am Ende einsehen: Ich bin besser, als ich denke.
Auch mir ist aufgefallen, dass es mir guttat, mich im Rahmen dieses Textes mit anderen über dieses Thema auszutauschen. Ich war überrascht, wie viele dieses Gefühl kennen. Mir hat es auch geholfen, objektiv über meine Leistung nachzudenken: Beispielsweise weiß ich eigentlich, dass ich den Text, für den ich den Preis gewonnen habe, gründlich recherchiert habe.
Und dass ich, nur weil ich nicht alles weiß, noch lange keine Hochstaplerin bin. Es kann helfen, sich solche kleinen Fakten in Erinnerung zu rufen!
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily