Bevor du Nahrungsergänzungsmittel schluckst, solltest du diesen Text lesen
Vitamintabletten, Mineralstoffkapseln und exotische Pflanzenextrakte versprechen viel. Dahinter steckt ein Milliardenmarkt, der seit Jahren unkontrolliert wächst. Was ist dran – und wann wird es gefährlich?
Und nun die Werbung:
Staubtrockene Studien wälzen, verschiedene Stimmen berücksichtigen und dabei nie Lösungen aus dem Blick verlieren? Puh! Sich fundiert, umfassend und nach wissenschaftlichen Standards zu informieren kann ganz schön anstrengend sein!
Doch das muss nicht sein!
Zum Glück gibt es jetzt Konstruktivo forte! Nur 500 Milligramm täglich wirken abführend bei Frustration und Weltschmerz, verbessern die Hirnleistung und stärken das Wohlbefinden. Für Konstruktivo forte kommen nur die besten, rein natürlichen Inhaltsstoffe zum Einsatz: Jede kleine Pille steckt voller exquisiter Inhaltstoffe, bestehend aus der konzentrierten Kraft von
Klingt zu verrückt, um wahr zu sein? Vielleicht.
Möglich wäre diese Werbung aber trotzdem. Denn bei uns in Deutschland ist es komplett legal, ein Mittel wie unser Fantasie-Nahrungsergänzungsmittel Konstruktivo forte auf den Markt zu bringen und Menschen zum Verzehr anzubieten, mit exakt diesen Inhaltsstoffen. Ob dieses Mittelchen auch bewirkt, was es verspricht, ist dafür erst einmal irrelevant. Eine
Doch wer garantiert die Sicherheit dieser Mittel, mit denen allein in Deutschland jährlich mehr als 2 Milliarden Euro umgesetzt werden? Multivitamin-Brausetabletten, Schlankmachpillen, Kurkuma-Präparate – was nutzen solche und ähnliche Nahrungsergänzungsmittel überhaupt?
Vitamingläubigkeit hat in Deutschland Tradition
Richten wir unseren Blick zunächst auf die Nahrungsergänzungsmittel, die wohl fast jedem schon einmal untergekommen sind: bunt bedruckte Röhrchen, gefüllt mit Brausetabletten. Schnell in einem Glas Wasser aufgelöst und runtergespült, sollen uns die enthaltenen Vitamine gesünder, fitter und leistungsfähiger für den stressigen Alltag machen.
Die Wurzeln dieser immer noch verbreiteten »Vitamingläubigkeit« reichen weiter zurück, als man vielleicht denkt. Sie nahmen ihren Anfang vor etwa 100 Jahren, als an
Da das krankhafte Vitamin-C-Defizit der Seeleute auf diese Weise schnell und einfach in den Griff zu bekommen war und die nicht zur See fahrende Bevölkerung kaum Mangelerscheinungen aufwies, suchte die Arzneimittelindustrie bald nach neuen Absatzmöglichkeiten. So startete der Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche im Jahr 1933 eine
Es gab Nahrungsmittel, denen Vitamine beigefügt worden sind, zum Beispiel eine Koproduktion von Roche und Nestlé, eine vitaminisierte Schokolade. Außerdem gab es vitaminisierte Nylonstrümpfe. An vitaminisierten Zigaretten wurde geforscht – es gab fast nichts, bei dem nicht versucht worden ist, es mit Vitamin C zu vermischen.
Heute wissen wir: Vitamine sind elementare Bausteine des Lebens, das ist in der Wissenschaft unumstritten. Gleiches gilt für Mineralstoffe wie etwa Magnesium oder Eisen. Diese gibt es ebenfalls in Form von Brausetabletten oder Kapseln zu kaufen, sie sind aber für einen gesunden Menschen im Normalfall ebenso überflüssig wie künstliche Vitamine.
»Generell ist Deutschland kein Vitamin- und Mineralmangelland. In der Regel ernähren wir uns in Deutschland ausreichend und abwechslungsreich, sodass eine zusätzliche Zufuhr nicht nötig ist«, betont die Diplom-Ökotrophologin Sigrid Röchter von der Verbraucherzentrale NRW. Wer sich etwa von der Einnahme solcher Mittel verspreche, im Winter keine Erkältung zu bekommen oder dadurch bis ins hohe Alter gesund und fit zu bleiben, der mache sich etwas vor.
Das häufig vorgebrachte Argument »Es kann ja nicht schaden!« will sie nicht so richtig gelten lassen. Zwar scheide der Körper ein Übermaß an wasserlöslichen Vitaminen wie B und C einfach ungenutzt aus. Dies stelle aber eine Belastung für die Nieren dar, da diese durch eine regelmäßige Überdosierung kontinuierlich beansprucht und mittel- bis langfristig irreparabel geschädigt werden können. Verkalkungen des Organs können die Folge sein. Im schlimmsten Fall müsse die Filterfunktion der Nieren dann für den Rest des Lebens künstlich durch eine Dialyse ersetzt werden.
»Viel hilft eben nicht viel! Hier sind besonders die fettlöslichen Vitamine A, D und E zu nennen«, so Sigrid Röchter. Denn diese werden nicht einfach wieder auf der Toilette ausgeschieden, sondern reichern sich im Körper an. »Wenn vorne auf dem Produkt ›hochdosiert‹ zu lesen ist, dann ist das bei einer normalen Ernährung in jedem Fall zu viel.«
Das heißt natürlich nicht, dass es nicht vereinzelt zu Mangelerscheinungen kommen kann. Um in diesen Fällen aber wirklich zielgerichtet vorgehen zu können, sollte man sich an einen Arzt wenden und die Werte im Blut genau klären lassen. »Eine Alternative kann es aber auch sein, sich an eine seriöse Ernährungsberatung zu wenden und dort ein Ernährungsprotokoll anzufertigen«, so Röchter. Seriöse Ernährungsberaterinnen und Fachberater sind durch Fachgesellschaften, wie zum Beispiel den Verband der Oecotrophologen e. V., zertifiziert. Generell misstrauisch sollte man hingegen werden, wenn in den sozialen Medien Empfehlungen gegeben und ganz bestimmte Produkte empfohlen oder gar direkt verkauft werden.
Seriöse Ernährungsberatung hilft dabei festzustellen, ob man das Nahrungsangebot, das in der Geschichte der Menschheit wohl niemals zuvor so im Überfluss vorhanden war wie heute, sinnvoll nutzt. Wer das tut, braucht dann auch keine künstlich hergestellten Ergänzungsmittel. Davon ausgenommen sind Menschen mit bestimmten Erkrankungen oder Personengruppen, die zu bestimmten Unterversorgungen neigen.
Zu den Mikronährstoffen, die für gesunde Menschen sinnvoll sind, zählen:
- Folsäure:
- Vitamin D: Für Säuglinge und ältere Menschen ab etwa 70 Jahren ist die Ergänzung von Vitamin D sinnvoll, da diese selten oder gar nicht der Sonne ausgesetzt sind, durch die unser Körper dieses Vitamin selbst bildet. Auch Menschen mit dunkler Hautfarbe und solche, die sich aus religiösen Gründen stark verschleiern, können auf zusätzliches Vitamin D angewiesen sein.
- Vitamin B12: Vitamin B12 kommt nur in tierischen Produkten vor, daher sollten Menschen, die sich vegan ernähren, ihren Vitamin-B12-Spiegel regelmäßig kontrollieren lassen, um einem Mangel vorzubeugen.
Liegt nachweislich ein Mangel vor, ergibt es übrigens keinen Unterschied, ob man zu Mitteln aus der Drogerie, dem Supermarkt oder der Apotheke greift. Das liegt daran, dass der Gesetzgeber bei Vitamin- und Mineralstoffpräparaten auf einer bestimmten Liste genau vorschreibt, aus welchen Stoffen sich die Mittel zusammensetzen dürfen, um so deren Unbedenklichkeit für den Verbraucher sicherzustellen.
Doch das ist leider nicht für alle Mittel der Fall, die frei verkäuflich sind. Denn eine solche Positivliste gibt es für Präparate aus rein pflanzlichen Inhaltsstoffen, die sogenannten »Botanicals«, nicht.
Und genau diese Lücke machen sich dubiose Hersteller zunutze, die alle erdenklichen Pflanzenstoffe in Pillenform pressen und mit den abenteuerlichsten Heilsversprechen versehen – Konstruktivo forte lässt grüßen.
Klingt gefährlich? Ist es auch.
Botanicals: rein pflanzlich = reines Gewissen?
Dass das eingangs zugespitzte Gedankenexperiment vom selbstgemachten Nahrungsergänzungsmittel nicht so weit hergeholt ist, hat das Politmagazin Report Mainz im September dieses Jahres bewiesen:
Dabei trieb es das Autorenteam auf die Spitze: Neben harmlosen Zutaten wie Zucker, Mehl und Paprikapulver gaben sie vor, dass auch Stechapfel unter den Inhaltsstoffen sei, und wiesen auch diese Zutat transparent und gut sichtbar auf der Liste der Inhaltsstoffe aus. Was die Autoren nicht auf die Verpackung schrieben: Alle Teile der Pflanze sind giftig, bereits der Verzehr von geringen Mengen kann tödlich sein.
Das erschreckende Ergebnis des Experiments: Während des gesamten Recherchezeitraums von 2 Monaten wurden die lebensgefährlichen Pillen weder kontrolliert noch verboten.
Zuständig dafür sind die lokalen Landkreise und kreisfreien Städte, aus denen die jeweilige Anmeldung stammt. 400 gibt es davon in Deutschland. Auf Anfrage erklärten die von dem Experiment betroffenen Städte Berlin, Köln und Leipzig später, dass Nahrungsergänzungsmittel nur stichprobenartig kontrolliert würden – für die Sicherheit sei der Hersteller selbst verantwortlich. Und damit haben sich die Städte sogar konform zur aktuellen Gesetzeslage verhalten, wie mir Karen Hirsch-Ernst, Fachgruppenleiterin für Ernährungsrisiken, Allergien und Neuartige Lebensmittel beim Bundesinstitut für Risikobewertung, erläutert:
Im Gegensatz zu Arzneimitteln unterliegen Nahrungsergänzungsmittel wie die Botanicals keiner behördlichen Prüfung auf Sicherheit oder Wirksamkeit, bevor sie in den Verkehr gebracht werden.
Angesichts der Flut von 5.000 neu angemeldeten Nahrungsergänzungsmitteln pro Jahr kann eine Stichprobe da schon einmal etwas länger auf sich warten lassen. »Bei Vitaminen und Mineralien wissen wir dank der Positivliste, was überhaupt in die Ergänzungsmittel reindarf. Eine solch spezifische Liste existiert für die Botanicals allerdings nicht«, sagt Karen Hirsch-Ernst weiter. Bei vielen dieser Mittel sei es daher oftmals der Fall, dass zwar angegeben werde, dass ein Extrakt einer bestimmten Pflanze enthalten sei, aber nicht genau nachvollzogen werden könne, aus welchen chemischen Verbindungen dieser bestehe und wie viel des vermeintlichen Wirkstoffs sich tatsächlich in dem Mittel verberge.
Kommt es doch einmal zu einer Stichprobe, können die zuständigen Behörden im Zweifel das Bundesinstitut für Risikobewertung hinzuziehen. Doch selbst Expertinnen wie Karen Hirsch-Ernst können in diesen Fällen nicht immer eine sichere Auskunft erteilen: »Diese Mittel sind natürlich schwierig zu bewerten, wenn man in vielen Fällen gar nicht genau weiß, was drin ist und wie der Herstellungsprozess erfolgte. Oftmals gibt es auch nur wenige Studien zur Wirkung der Pflanzenstoffe auf den Organismus.«
»Wenn es wirken würde, wäre es ein Arzneimittel.«
Gerade Botanicals suggerieren häufig, dass sie Abhilfe bei den verschiedensten gesundheitlichen Problemen schaffen könnten. »Gewichtsreduktion, Anti-Aging, Potenzstörungen und Krebs: Das sind die großen Themen, bei denen Leidensdruck herrscht – und bei denen die Gewinnmargen besonders hoch sind«, sagt Martin Smollich, Leiter der Arbeitsgruppe
So gebe es natürlich durchaus eine Reihe von »echten« Arzneimitteln, die auf der Basis von Pflanzenstoffen wirken, etwa Johanniskraut bei depressiven Verstimmungen oder Lavendel bei Einschlafstörungen. Maßgeblich für die Wirksamkeit ist oft die Dosierung. Doch die Entscheidung, ob ein Präparat als Arzneimittel oder Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt gebracht werden soll, hängt auch von der Marketingstrategie des Herstellers ab. Genau hier müsse man laut Smollich unterscheiden zwischen erwiesenermaßen wirksamen Arzneipflanzen und Nahrungsergänzungsmitteln mit zweifelhaften Heilsversprechen.
Doch den Eindruck, es handele sich bei ihren Präparaten um unwirksame Lebensmittel, wollen die Hersteller von Botanicals in der Regel mit aller Macht verhindern. Mehr noch: Durch die Darreichungsform als Pille oder eingeschweißt in Plastik wie eine Tablette soll der Eindruck vermittelt werden, es handele sich um eine Art Medikament. Durch gezieltes Marketing soll dieser Eindruck sogar noch verstärkt werden, etwa über Instagram-Influencer oder zweifelhafte Publikationen:
Da schreibt dann jemand kurzerhand ein Buch darüber, dass er Krebs hatte und den nur mithilfe von Kurkuma besiegt hätte. Das wird dann bei Amazon eingestellt und mit gekauften oder selbst verfassten Bewertungen mit 5 Sternen versehen, in denen steht, es hätte den Verfassern auch geholfen.
Gegen diese Vorgehensweise gibt es in der Regel keine juristische Handhabe – es gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung. »In solchen Diskussionen sage ich immer: Zeigen Sie mir eine klinische Studie, die das beweist! Genauso gut kann ich nämlich sagen: ›Kauen Sie jeden Tag 5 Kamillenblüten, dann kriegen Sie keine Demenz.‹ Da gibt es keine belastbaren Daten zu«, sagt Smollich.
Doch wie könnte es anders gehen?
»Es gibt beispielsweise den Vorschlag, Nahrungsergänzungsmittel mit dem Hinweis zu versehen, dass sie ohne nachgewiesene Wirksamkeit sind«, so Smollich. Konsequenter wäre es jedoch, eine Positivliste für Botanicals einzuführen, wie sie auch für Vitamin- und Mineralpräparate existiert. »Hier würden nur Substanzen aufgenommen werden, bei denen wir die Wirkweise und die Nebenwirkungen kennen. Dann könnte im Rahmen einer Zulassungspflicht vor dem Verkauf einfach geprüft werden, ob die enthaltenen Inhaltsstoffe auf der Positivliste stehen oder eben nicht.«
Das Bundesministerium für Ernährung weist die Verantwortung von sich
Eine strengere Regulierung des Marktes ist aktuell jedoch nicht absehbar. Auf Anfrage an das zuständige Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft, ob Handlungsbedarf in Sachen Regulierung von Botanicals gesehen werde, antwortete eine Sprecherin ausweichend. Eine Positivliste stehe nicht im Einklang mit dem EU-Recht, da auf dieser Ebene nur eine Negativliste für verbotene Stoffe vorgesehen sei. Die Frage, ob Pläne für eine Initiative bestünden, dies zu ändern, blieb unbeantwortet. 2.000 Anträge seien bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) gestellt worden, deren wissenschaftliches Ergebnis zu prüfen war. Das Ergebnis:
Die entsprechenden EFSA-Bewertungen zeigten, dass bei keinem der Anträge die geforderten wissenschaftlichen Belege substantiiert genug waren. Die EFSA hat die Bewertungen nicht veröffentlicht und die EU-Kommission hat entschieden, die Anträge für Botanicals zurückzustellen.
Seitdem tat sich … nichts. Und so bleiben die Verbraucher weiter auf sich allein gestellt.
Glücklicherweise gibt es zumindest 2 Anlaufstellen, die bei der Orientierung im Umgang mit Nahrungsergänzungsmitteln helfen können:
- Die Verbraucherzentrale bietet die durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderte Informationsplattform
- Die Europäische Kommission führt bereits eine Art
Martin Smollich erklärt das am Beispiel Kurkuma, die besonders häufig in Botanicals verwendet wird und laut einiger dubioser Anbieter vorgeblich Krebs vorbeugen oder gar heilen könne: »Schaut man in die EU-Health-Claim-Liste, wird man feststellen: Da steht nichts. Es gibt keine wissenschaftlichen Daten darüber, dass das enthaltene Curcumin oder irgendwelche angereicherten Extrakte etwas von dem einhalten, was die Hersteller postulieren.«
Die Masche der Anbieter, die dahinterstecke, sei dabei immer die gleiche: »Diese Extrakte werden im Labor an isolierten Zellen oder an Mäusen getestet. Dabei kommen dann zwar schon entsprechende Ergebnisse heraus, diese können aber nicht einfach so auf den Menschen übertragen werden. Das ist erstens kein Beweis und zweitens methodisch überhaupt nicht zulässig. Wenn man irgendwelche Krebszellen mit hochdosierten Extrakten behandelt, dann sieht man praktisch immer irgendwelche Effekte. Da braucht es aber kein Kurkuma, da kann man auch einen x-beliebigen anderen Stoff nehmen«, erklärt Smollich.
Auf lange Sicht können aber weder das Informationsportal der Verbraucherzentrale noch die EU-Liste in ihrer jetzigen Form (nur auf Englisch und wenig nutzerfreundlich) das zugrunde liegende Problem lösen: das lückenhafte gesetzliche Regelwerk über Nahrungsergänzungsmittel mit zweifelhaftem Nutzen. Solange sich daran nichts ändert, wird das millionenschwere Geschäft mit unserer Gesundheit ungebremst weitergehen.
So bleibt nur, bei hochtrabenden Gesundheitsversprechen und vermeintlich schnellen Lösungen in Pillenform generell misstrauisch zu sein.
Denn bei vielen steckt nicht mehr dahinter als bei unserem Konstruktivo forte.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily