Konstruktiver Journalismus

Kon·struk·tiv [Adjektiv]

  1. (bildungssprachlich) aufbauend, den sinnvollen Aufbau fördernd, entwickelnd. So, dass eine positive Entwicklung gefördert, eine Verbesserung erreicht wird.
  2. a) (besonders Technik) die Konstruktion betreffend, darauf beruhend b) (besonders Mathematik, Logik) operativ herleitend, begründend, in methodisch grundlegender Weise konstruierend, operativ verfahrend

»Und was jetzt?« Diese scheinbar unbedeutende Frage fasst den Kern des Konstruktiven Journalismus zusammen. Nicht immer nur »Was ist das Problem?«, sondern auch »Wie kann es weitergehen?« und »Was kann besser werden?«. Genau wie konstruktive Kritik versucht Konstruktiver Journalismus, Probleme zu beheben, indem Vorschläge für Alternativen gemacht werden.

International gewinnt dieses Konzept immer mehr Zuspruch. Doch wie sieht es in Deutschland aus? Die hiesige Debatte ist stark geprägt durch Missverständnisse und Verwechslungen mit anderen journalistischen Formaten. Da wir selbst bereits die Erfahrung gemacht haben, dass der Begriff gerne falsch verstanden und eingeordnet wird, geben wir hier eine ausführliche Erklärung des Konstruktiven Journalismus. Anhand von kritischen Fragen zeigen wir auch, was der Konstruktive Journalismus nicht ist.

Wir hoffen, dass diese Informationen unsere Motivation für die Gründung von Perspective Daily veranschaulichen: Die Idee, dass Konstruktiver Journalismus ein wesentlicher Bestandteil einer zukunftsfähigen Gesellschaft ist.

Konstruktiver Journalismus

Konstruktiver Journalismus gibt ein vollständigeres Bild der Welt: Er beschreibt nicht nur, was in der Welt schief läuft, sondern bemüht sich, Lösungen für bestehende Probleme aufzuzeigen und zu diskutieren. Die Idee ist vergleichbar mit konstruktiver Kritik: Dabei wird dem Gegenüber nicht nur mitgeteilt, welche Fehler gemacht wurden, sondern auch, was gut gelaufen ist und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt.

6 Eigenschaften des Konstruktiven Journalismus

1. Zukunftsorientiert

Konstruktive Beiträge enden nicht mit der Problembeschreibung, sondern stellen verstärkt auch Zukunftsfragen: Wie kann es weitergehen? Was jetzt? Gefragt wird also nicht nur nach Ursachen für den gegenwärtigen Zustand, dem Status Quo, sondern auch nach Plänen und Visionen für die Zukunft. Dies sind häufig Fragen, die Leser, Zuhörer und Zuschauer verstärkt interessieren, aber nur selten von Journalisten gestellt werden.

2. Lösungsorientiert

Beim Konstruktiven Journalismus geht es nicht nur darum, zu verstehen, welche Herausforderungen und Probleme zu bewältigen sind. Es werden auch mögliche Ansätze zur Milderung, Lösung und Vermeidung von Problemen diskutiert. Auf der Suche nach potentiellen Lösungen schaut Konstruktiver Journalismus nach links und rechts – in Forschungsinstitute, andere Länder und Kulturen oder auf einzelne Individuen, die für sich Mittel und Wege gefunden haben.

3. Nicht immer existieren fertige Lösungen

Es geht nicht um das Servieren von Einzellösungen, die als allgemeingültig präsentiert werden. Es geht vielmehr darum, die richtigen Fragen zu stellen und neue Perspektiven auszutesten, um so einen Schritt in Richtung möglicher Lösungen zu gehen. Natürlich existieren keine einfachen Rezepte, nach denen sich die großen Probleme der Menschheit lösen lassen – aber Wissenschaft, Zivilgesellschaft und kreative Köpfe bringen eine Fülle von Ansätzen und Teillösungen hervor, die erklärt, diskutiert und hinterfragt werden müssen.

4. Empirische Studien als Basis

Die Diskussion um und über Lösungsansätze sollte soweit möglich eine wissenschaftliche Basis haben. Nur so kann gezeigt werden, ob eine Maßnahme oder Methode wirklich sinnvoll ist. Statt Meinungsmache oder »PR« für Einzellösungen werden Forschungsergebnisse, empirische Berichte und gesellschaftswissenschaftliche Studien berücksichtigt. Auch wenn keine oder zweifelhafte Daten vorliegen, wird dies transparent erklärt.

5. Ursachenforschung

Auch wenn der Konstruktive Journalismus einen Fokus auf Lösungen legt, bedeutet das nicht, dass Missstände, Katastrophen und Fehlverhalten nicht thematisiert werden. Es geht nicht darum, die Berichterstattung »positiver« oder »netter« zu gestalten. Der Konstruktive Journalismus verschließt nicht die Augen vor den Problemen der Welt, sondern begibt sich auf Ursachenforschung und fragt verstärkt nach dem »Warum« hinter Problemen.

6. Zustände sind änderbar

Der Konstruktive Journalismus nutzt Erkenntnisse der positiven Psychologie. Durch das pausenlose Aufzeigen von ausweglosen Situationen in den Massenmedien wird dem Leser, Hörer und Zuschauer jede Antriebskraft genommen – er verfällt schließlich in einen Zustand gelernter Hilflosigkeit. Konstruktiver Journalismus vermeidet dies, indem er persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen (zu Recht) nicht als unabdingbare Tatsachen darstellt, sondern als temporäre, änderbare Zustände. Auch wenn in vielen Fällen keine direkte Lösung auf dem Tisch liegt, bieten neue Perspektiven auf ein Problem häufig Lösungsansätze.

Konstruktiver Journalismus ist nicht Positiver Journalismus

Positiver Journalismus berichtet über rein positive Ereignisse und Geschichten. Das primäre Ziel ist es, beim Empfänger positive Emotionen zu wecken. 2 Beispiele: »Katze vom Baum gerettet«, »Flüchtling trägt Hundewelpen durch Europa«. Meist erzählt Positiver Journalismus Geschichten von Helden und Einzelereignissen mit geringer gesellschaftlicher Relevanz. Mit anderen Worten: Die Kernaufgaben des Journalismus, wie die Funktion als vierte Macht, die Warnung vor potentiellen Gefahren für die Gesellschaft und die Verbreitung von wichtigen Informationen, um eine informierte Gesellschaft zu schaffen, werden vernachlässigt.

Der Konstruktive Journalismus hingegen erfüllt genau wie der »klassische Journalismus« die Kernaufgaben der Profession und berichtet über Themen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz. Dabei ist er kritisch und investigativ. Zusammenhänge und Hintergründe werden beleuchtet sowie mögliche Lösungen diskutiert. Ziel des Konstruktiven Journalismus ist es, der Gesellschaft zu ermöglichen, sich auf den Weg in eine bessere Zukunft zu machen.

Warum brauchen wir Konstruktiven Journalismus?

1. Unser falsches Weltbild

Kritiker werfen dem Konstruktiven Journalismus gern vor, ein einseitiges oder verzerrtes Weltbild zu erschaffen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Durch die Vorliebe der Medien für negative Schlagzeilen und Geschichten wird eine ausgewogene – und damit repräsentative – Berichterstattung verhindert. Das führt langfristig zu einem verzerrten, häufig zu negativen Weltbild, das sich in Zahlen zeigen lässt: Die Mehrheit der Deutschen schätzt den Zustand der Welt schlechter ein, als er in vielerlei Hinsicht ist. Fragen nach Zahlen zum globalen Alphabetisierungs-Grad, weltweiter Kindersterblichkeit, Armut und ähnlichen Themen werden von der Mehrheit zu negativ beantwortet. Ein Trend, der auch in anderen Ländern gezeigt wurde.

Interessanterweise zeigen Studien, dass die Sicht auf die direkte Lebensumgebung, also die eigene Stadt oder Gemeinde, deutlich realistischer ausfällt. Wie kommt es zu diesem scheinbaren Widerspruch?

Der Philosoph und Bestseller-Autor Alain de Botton begründet dies damit, dass viele Menschen das Bild ihrer direkten Lebensumgebung noch mit den eigenen Sinnen wahrnehmen, ihr Weltbild aber anhand der Informationen formen, die sie über Nachrichten-Kanäle aufnehmen. Das Problem: Journalisten haben eine Tendenz, Negativ-Nachrichten wie Katastrophen und Skandale den positiven Entwicklungen in der Welt vorzuziehen.

»Only bad news are good news« (deutsch: »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«) lautet das Credo der Branche. So ergab eine Untersuchung überregionaler Tageszeitungen zur wirtschaftlichen Berichterstattung, dass auf jeden Artikel, der positiv über den deutschen Arbeitsmarkt berichtete, 5 bis 10 negative Artikel folgen. Und das, obwohl sich die deutsche Wirtschaft im untersuchten Zeitraum verbessert hat!

2. News sind wie Puzzleteile

Ein weiteres Problem der Nachrichten-Branche ist die bruchstückweise Präsentation von Informationen. Einzelne »News« sind wie Teile verschiedener Puzzles, die wir nicht zu einem Gesamtbild der entsprechenden Thematik zusammensetzen können. Es fehlen schlichtweg die übrigen Teile des gleichen Puzzles.

Rob Wijnberg, Co-Gründer und Chefredakteur des niederländischen, konstruktiven Online-Mediums De Correspondent, beschreibt das Problem wie folgt: »Wenn du einen Computer reparieren willst, musst du die verschiedenen Komponenten kennen. Was du in den News bekommst, ist der Blue Screen, der dir mitteilt, dass deine Software fehlerhaft ist und du sie reparieren oder eine neue kaufen sollst. Sie erklären dir nicht die Funktionsweise im Inneren.«

Die Unvollständigkeit der Informationen in den Nachrichten-Medien, gepaart mit dem negativen Fokus, sorgt für ein lückenhaftes und einseitiges Weltbild der Medien-Konsumenten. Das wiederum beeinflusst nicht nur ihr Wohlbefinden, sondern auch ihre Lebens- und Wahlentscheidungen.

3. Psychische Folgen der negativen Berichterstattung

Welche Auswirkungen hat die vorwiegend negative Berichterstattung im Nachrichtenbereich auf die menschliche Psyche? Entsprechende Studien-Ergebnisse sind alarmierend: Stress, Zynismus, Hoffnungslosigkeit, Passivität und erlernte Hilflosigkeit sind nur einige der möglichen Folgen.

Die Nachrichten-Konsumenten fühlen sich von der Vielzahl der dargestellten Probleme überfordert. Sie verlieren den Glauben, selbst einen Beitrag zur Verbesserung leisten zu können (erlernte Hilflosigkeit), manche wenden sich sogar vollständig von den Medien und in letzter Konsequenz von gesellschaftlichen Herausforderungen ab, um den negativen Emotionen zu entgehen.

Diese Beobachtungen stehen im starken Gegensatz zu den Erwartungen vieler Journalisten: Sie glauben, dass sich die Handlungsbereitschaft der Empfänger erhöht, je emotional aufwühlender sie ein Problem präsentieren. Die Idee dahinter: Je mehr wir geschockt würden, desto eher würden wir Konsequenzen ziehen, aktiv werden und uns um Lösungen bemühen. Diese auf den ersten Blick schlüssige Erwartung ist jedoch grundlegend falsch. Studien belegen das Gegenteil: Je dramatischer und besorgter ein Problem präsentiert wird, desto geringer ist die Bereitschaft der Leser, sich näher mit einer Thematik auseinanderzusetzen und selbst aktiv zu werden.

Konstruktiver Journalismus breitet sich aus

In der Psychologie ist längst bekannt, dass Interesse besser über positive als über negative Reize geweckt wird. Zugespitzt bedeutet das: »Zuckerbrot statt Peitsche«. Damit nicht genug: Wir können Probleme besser lösen, wenn wir positiv gestimmt sind.

Dieser Zusammenhang funktioniert auch im Konstruktiven Journalismus: Erste Studien haben gezeigt, dass Texte, in denen neben einem Problem auch mögliche Lösungen vorgestellt werden, beim Leser positive Emotionen erzeugen und zu mehr Handlungsbereitschaft führen. Darüber hinaus fühlen sich die Leser lösungsorientierter Texte besser informiert, haben ein größeres Interesse, sich weiter über das Thema zu informieren und möchten auch anderen Menschen davon erzählen.

Zahlreiche internationale Journalisten und Medien-Projekte haben sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, um konstruktiver zu berichten. Dazu gehören Redaktionen in Schweden und Dänemark (auch Radio und Fernsehen), das Solutions Journalism Network und Ensia in den USA, De Correspondent in den Niederlanden, das Constructive Journalism Project und Positive News in Großbritannien, die Reporters d’Espoirs in Frankreich.

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Titelbild: Maren Urner - copyright

 

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