So geht Wirtschaft, die mehr als nur den Profit im Kopf hat
Diese Idee finden in Berlin nicht nur Grüne gut: die Gemeinwohl-Ökonomie. Entsteht hier die Wirtschaft der Zukunft?
Die Nachrichten dazu klangen vor Kurzem so, als seien wir nur knapp einer gewaltigen Naturkatastrophe entkommen. Als hätte ein Hurrikan Deutschland im letzten Moment doch noch verschont. Als sei eine Sturmflut ausgeblieben. Vorbeigeschrammt ist Deutschland in Wirklichkeit aber an der
Ist eine Rezession nicht vielleicht sogar das, was wir dringend bräuchten? Weniger Produktion, weniger Abgase, weniger Müll? Denn: Trotz Fridays for Future und Extinction Rebellion hat sich in Summe doch bisher nichts verbessert. Der
Nicht nur Vertretern der
Neue Wirtschaft = neue Gesellschaft
Eine damit zusammenhängende Idee, die derzeit nicht nur bei den Grünen, sondern in Berlin auch jenseits von Parteigrenzen kursiert, ist die der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Annalena Baerbock schlug gleich auch noch vor, die Deutsche Bahn solle neben ihrer normalen Finanzbilanz eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen lassen, testweise. Und zwar basierend auf den Ideen der Gemeinwohl-Ökonomie, einer offenen sozialen Bewegung, die um das Jahr 2010 aus dem österreichischen
Ein rationaler Zugang wäre, zu messen, was uns wirklich wichtig ist: dass wir gesund sind, gut ernährt sind, gut schlafen, dass unsere Beziehungen von hoher Qualität und Stabilität sind, dass wir gebildet sind und demokratisch partizipieren dürfen, dass wir Frieden haben, die Umwelt intakt ist, dass die Bienen summen und die Geschlechter gleichgestellt sind. Dann haben wir Gewissheit, wie es uns geht. Und umgekehrt aber alles Negative, was das Bruttoinlandsprodukt steigen lässt, vom Verkehrsunfall bis zur Umweltzerstörung, das ist natürlich nicht drin.
Was das Gemeinwohl ist, sollen die Bürgerinnen und Bürger eines Landes letztlich selbst demokratisch bestimmen. In seinem Buch zur GWÖ orientiert sich Felber an klassischen Grundwerten und -rechten: Menschenwürde, Vertrauen, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung. Daraus sollen
Wirtschaft, die auf dem Kopf steht
Warum das Gemeinwohl zentral sein soll, leitet die Bewegung aus der griechischen Antike her.
Geld darf also nur Mittel zur Erreichung des wirklichen Ziels sein: des Gemeinwohls. Das sei auch in vielen Verfassungen niedergeschrieben. Auch im Grundgesetz, dort heißt es:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Die Argumentation der Gemeinwohl-Bewegung ist, dass die Wirtschaft so aber nicht funktioniere. Ziel des aktuell vorherrschenden Wirtschaftens sei der Profit, das Gemeinwohl jedoch höchstens willkommene Nebensache. Die Wirtschaft steht sozusagen derzeit auf dem Kopf. Christian Felber demonstriert das auch gern mal körperlich. Klingt absurd? Bei Vorträgen baut er dazu öfter einen Kopfstand ein und hört dabei nicht einmal auf zu sprechen. Die Wirtschaft müsse wieder auf die Füße gestellt werden – und die Lösung dazu soll die GWÖ sein. Szenenapplaus hat er dabei sicher.
Große Vision, umgesetzt in kleinen Schritten
Dieses Umdenken beginnt sehr pragmatisch dort, wo es die meisten Berührungspunkte von normalen Bürgern, Politik und Wirtschaft gibt: in den Gemeinden und Städten. Hier ist Mitwirkung meist recht leicht möglich. Nicht ein revolutionärer Umsturz von politischer Seite soll den Wandel bringen, sondern gezielte wirtschaftliche Anreize. Unternehmen müssten in die Pflicht genommen werden, sogenannte »Gemeinwohl-Bilanzen« zu erstellen. Wer nach dieser Bewertung dem Gemeinwohl dient, soll auch etwas davon haben.
»Die Gemeinwohl-Ökonomie wächst organisch von unten nach oben. Das heißt, wir beginnen bei der kommunalen Wirtschaftsförderung. Diese wird auf das Ergebnis der Gemeinwohl-Bilanzen der Unternehmen ausgerichtet. Dann erhalten nicht mehr die billigsten Dumper und Externalisierer den Zuschlag bei öffentlichen Ausschreibungen, sondern die menschen- und klimafreundlichsten«, sagt Christian Felber.
Die Gemeinwohl-Bilanz ist das Herzstück der Gesellschaftsvision. Unternehmen, aber auch Kommunen und Bildungseinrichtungen sollen so eine Bilanz erstellen. Welchen Stellenwert haben Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung in der Firma oder der Stadt in diesem Konzept? Werden die Werte gegenüber Lieferanten, Mitarbeitern, Kunden und dem gesellschaftlichen Umfeld eingehalten?
Wie so ein Gemeinwohl-Bericht aussehen kann, siehst du hier am Beispiel von Greenpeace.
Auf einer Skala von −3.600 bis 1.000 kommen die Umweltschützer auf
Kapitalismus an die Kette legen
Die Gemeinwohl-Bewegung möchte aber nicht auf der Unternehmensebene stecken bleiben, sondern die gesamte Gesellschaft verändern. Laut Felber liegt das größte Problem ohnehin dort, wo Spitzenpolitik auf Unternehmen und Medien trifft.
»Die Demokratie ist infolge dieser Bedingungen und Entwicklungen in einer progressiven Krise. Wenn wir die ökonomischen Ungleichheiten, Lobbyismus und Medienkonzentration unangetastet lassen und Demokratie auf ein Wahlkreuz für eine Partei alle 4 oder 5 Jahre reduzieren, dann wandelt sie sich schleichend in die berühmte
Deswegen will die GWÖ mehr Möglichkeiten zur direkten Einflussnahme der Bürger schaffen. Sogenannte Themenkonvente erarbeiten zu Beginn grobe Richtschnüre für das Parlament, etwa in den Bereichen Wirtschaft, Demokratie oder Bildung. Die Konvente werden gewählt oder per Los zusammengestellt und sollen den Startimpuls geben. Sie gehen danach wieder auseinander. Auch anschließend soll jeder Bürger noch Gesetze auf den Weg bringen können. Ein 3-stufiges Modell ebnet den Weg von einer Idee über das Bürgerbegehren bis zum Gesetz per Volksabstimmung.
Auch bei Unternehmen gibt es Eingriffe: Während Christian Felber bei kleinen Unternehmen keine Gefahr einer gefährlichen Geld- und Machtkonzentration sieht, möchte er größere Unternehmen demokratisieren. Los geht es bei einer Belegschaft von mehr als 250 Personen. Belegschaft und Gesellschaft bekommen laut seiner Idee Mitspracherechte, und zwar umso mehr, je größer das Unternehmen ist. Als Illustration sei an dieser Stelle nur die höchste Stufe genannt: Ab 5.000 Mitarbeiterinnen werden Entscheidungen zu jeweils 1/5 an Eigentümerinnen, Belegschaft, Kundinnen, Gender-Beauftragte und Umwelt-Anwältinnen übergeben. Die Mehrheit der Unternehmen würde diese Regelung jedoch nicht treffen: 89% der deutschen Unternehmen sind zu klein.
Abgesehen davon sollen auch Spitzengehälter gedeckelt werden und einem bestimmten Vielfachen des Mindestlohns entsprechen, das Privatvermögen insgesamt soll ebenso begrenzt werden wie Erbschaften. Wo der Deckel wäre, würde der Wirtschaftskonvent entscheiden. Daran, dass es Privateigentum gibt und dass auch Unternehmen in privatem Besitz sein können, ändert sich im Prinzip nichts. Die GWÖ will nicht den Kapitalismus an sich abschaffen – sie will ihn einfangen und an die Kette legen.
Kritik an der Gemeinwohl-Ökonomie
Und hier gibt es fundamentale Kritikpunkte vor allem von denjenigen, die diese unbegrenzte Freiheit des Einzelnen als wichtigstes Gut ansehen. Randolf Rodenstock, der früher den Brillenhersteller Rodenstock geleitet hat und nun Vorsitzender des unternehmer- und wirtschaftsnahen Thinktanks Roman-Herzog-Institut ist, attestierte der Gemeinwohl-Ökonomie einen »harten sozialistischen Kern«.
Die Wirtschaftskammer Österreich kritisierte in einer ausführlichen Stellungnahme, das Gemeinwohl könne nicht für alle bestimmt werden. Jeder solle selbst entscheiden können, was für ihn Wohlstand und Lebensqualität seien. Durch die Begrenzung von Einkommen fehlten Leistungsanreize, Unternehmer würden keine hohen Risiken mehr eingehen. Auch die Idee eines Wirtschaftskonventes lehnt die Kammer ab. Es sei nicht sichergestellt, dass die Teilnehmer nicht doch nur ihren Eigeninteressen folgten.
Diese Ansicht geht mit einer stark liberal oder neoliberal geprägten Weltsicht einher, nach der ein Staat möglichst keinen Einfluss auf die Wirtschaft ausüben soll und das Individuum und dessen Freiheit als zentral gelten. Der Einzelne gilt als gesteuert von Eigeninteressen und Konkurrenzdenken. Es prallen hier also 2 grundsätzlich unterschiedliche Weltbilder aufeinander.
Für Ökonom Niko Paech, einen bekannten Vertreter der Postwachstumsökonomie, funktioniert das Konzept nicht.
Eine Zukunftsvision nimmt Fahrt auf
Trotz allem wächst die GWÖ-Bewegung – vielleicht, weil jeder recht einfach mitmachen kann. Mehr als 6.000 Privatpersonen unterstützen den Verein laut
Christian Felber ist überzeugt davon, dass die Wirtschaft vor einem fundamentalen Wandel steht, vor allem mit Blick auf die großen Herausforderungen der Menschheit durch den Klimawandel. Die offene Frage ist, ob seine Idee den Sprung zum Wirtschaftssystem schafft. Es ist ebenso gut möglich, dass sie in einem freiwilligen Bilanzierungssystem für interessierte Unternehmen und Gemeinden stecken bleibt und politische Handlungen inspiriert, aber nicht verbindlich wird. Die größte Überzeugungsarbeit muss Felber wohl weiter in den Vorstandsetagen der großen Konzerne, bei liberalen Mittelständlern und den konservativeren Parteien leisten. Und wahrscheinlich wird er dafür auch noch den ein oder anderen Kopfstand vollbringen und danach sicher auf beiden Beinen landen müssen.
Titelbild: Daniel Funes Fuentes - CC0 1.0