Kann Philosophie die Welt retten?
Ganz egal, ob du über Online-Dating, Coronavirus oder Klimawandel nachdenkst – unbewusst bist du ständig am Philosophieren. So nutzt du die besten Ideen der letzten 2.500 Jahre, um Probleme von heute zu lösen.
Der Philosoph
Dass dieses Bild des weltabgewandten und verträumten Philosophen zumindest einseitig ist, zeigt eine zweite Anekdote über Thales: Wegen seiner Armut musste er viel Spott erdulden. Doch eines Winters kaufte er sämtliche Olivenpressen in
Was niemand wusste: Aufgrund seiner »Sternenbeobachtungen« – möglicherweise meteorologische Studien – hatte er eine besonders reiche Olivenernte vorausgesagt. Als diese tatsächlich eintrat, konnte Thales die Pressen zu seinen Bedingungen weitervermieten und viel Geld verdienen. Damit demonstrierte er, was den Weisen gelingen kann, wenn sie das System durchdenken und die richtigen Schlüsse ziehen.
Wenn wir heute über wichtige gesellschaftliche Themen wie den Klimawandel, Migration oder künstliche Intelligenz diskutieren, denken die meisten Menschen wohl nicht zuerst daran, mit einer Philosophin darüber zu sprechen. Dabei sind diese Themen mit philosophischen Fragen gespickt.
Sprechen wir über den Klimawandel, geht es zwar einerseits um Fakten:
Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Thema künstliche Intelligenz (KI): Was zeichnet überhaupt »Intelligenz« aus, wie lässt sie sich von verwandten Konzepten wie »Verstand«, »Vernunft« oder »Geist« abgrenzen? Ab welchem Entwicklungsstadium sollten wir künstliche und menschliche Intelligenzen gleichbehandeln – und warum?
Und auch in der Debatte über Migration spielen philosophische Argumente eine Rolle: Wie lassen sich offene, wie geschlossene Grenzen rechtfertigen? Welche Instanzen sollten das Recht haben, Migration zu regulieren, und woraus lässt sich dieses Recht ableiten? Ist die Zahl potenziell Migrationswilliger oder -gezwungener für diese Überlegungen relevant oder nicht?
Aktuell wirft der Umgang mit dem Coronavirus ebenso moralische Fragen auf. Je nachdem, welche Antworten wir auf diese Fragen geben, bekennen wir uns implizit zu bestimmten philosophischen Überzeugungen.
Hinter deiner politischen Einstellung steckt immer auch eine philosophische Überzeugung
Wenn wir etwa Migration zulassen wollen, weil wir staatliche Grenzen für unnatürlich oder arbiträr halten, neigen wir möglicherweise
Aber nicht nur große gesellschaftliche, auch persönliche Fragen enthalten philosophische Überlegungen: Willst du lieber ein ausgeglichenes und möglichst schmerzfreies Leben führen, statt möglichst reich oder mächtig zu werden? Dann könntest du, auch ohne es zu wissen,
Auch dann, wenn wir nur über unsere eigene Lebensführung nachdenken, betreiben wir unbewusst schon Philosophie. Es gibt kaum etwas, das wir entscheiden oder tun können, ohne dadurch auch philosophisch Stellung zu beziehen. Wenn das so ist – könnte dann nicht ganz bewusstes Philosophieren dabei helfen, diese Probleme besser zu verstehen, und damit auch dabei, sie zu lösen?
Aber wie soll das gehen, würden wohl viele entgegnen, wenn sich die Philosophen in ihrem akademischen Elfenbeinturm verstecken? Dieses Klischee hält sich hartnäckig – dabei finden sich durchaus Beispiele von Philosophen, die sich einmischen.
Lukas Köhler: Der Klimaphilosoph
Lukas Köhler etwa ist promovierter Philosoph, Bundestagsabgeordneter und klimapolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. Er hat seine Dissertation über die Repräsentation sogenannter »Non-Voice-Partys« geschrieben, also Gruppen, die keine Möglichkeit haben, an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Eine Problematik, die besonders beim Klimaschutz eine Rolle spielt, schließlich sind die jüngeren oder noch ungeborenen Generationen, die unter dem Klimawandel besonders leiden könnten, normalerweise
Zwischen Philosophie und Politik betont er im persönlichen Gespräch weniger die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten: In beiden Feldern zähle die Kraft des guten Arguments. Auch sei es in beiden Bereichen unabdinglich, Probleme in ihrer Gesamtheit zu betrachten. »Es bringt zum Beispiel wenig,
In der Philosophie seien verschiedenste Themen auf ähnliche Weise miteinander verknüpft. Außerdem nutzen Politik und Philosophie ähnliche Werkzeuge, beispielsweise die Rhetorik, um andere von der eigenen Meinung zu überzeugen. Allerdings müsse die praktische Politik einen entscheidenden Schritt weitergehen als die Theorie: Sie muss Mehrheiten organisieren. »Und die Aushandlungsprozesse, die damit verbunden sind, sind extrem schwierig.«
Kritisch ließe sich einwenden: Dass das Klima schützenswert ist, zu diesem Schluss kann man letztlich auch ohne Ethik und ohne Philosophie kommen – allein aufgrund der naturwissenschaftlichen Faktenlage. Andererseits reicht diese Einsicht allein auch nicht, um das Problem zu lösen: Schließlich müssen andere Menschen und vor allem politische Entscheidungsträger dazu gebracht werden, auch tatsächlich aktiv zu handeln. Für diese Überzeugungsarbeit stellt die Philosophie viele wichtige Werkzeuge bereit, allen voran die Fähigkeit, stichhaltige Argumente zu entwickeln.
Aber ist das wirklich alles, was die Philosophie leisten kann – Argumentationshilfe?
Zwar verbinden heute die meisten Menschen mit Philosophie vor allem die Ethik – also Fragen dazu, wie die Moral begründet und reflektiert werden kann. Doch als die westliche Philosophie im alten Griechenland entstand, war »Philosophie« noch ein Sammelbegriff für Wissenschaft überhaupt.
Klassiker wie Aristoteles oder Thales waren aus heutiger Sicht genauso politische Theoretiker, Soziologen und Naturwissenschaftler, wie sie Philosophen waren – nur dass ihre naturwissenschaftlichen Thesen wesentlich stärker veraltet sind als ihre philosophischen. Zwar sind die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen heute stärker ausdifferenziert als in der Antike. Trotzdem gibt es Themen, die aus Sicht von mehr als nur einer Disziplin betrachtet werden können und im Sinne der Vollständigkeit auch müssen – etwa die künstliche Intelligenz. Anders als ein Rasenmäher oder eine neue Kamera wirft sie eben mehr Fragen auf als nur die, wie sie technisch zu verwirklichen ist. Kann da nicht die Philosophie helfen, die unterschiedlichen Disziplinen zu verbinden?
Eine Einrichtung, die sich genau diesem Ziel verschrieben hat, KI nicht nur aus technischer, sondern auch aus ökonomischer und philosophischer Perspektive zu betrachten, ist der Thinktank
Philosophie und künstliche Intelligenz
Im Jahr 2019 hat der Kairós-Gründer Julian Arndts mit Kalle Kappner ein erstes Paper herausgebracht. Das Thema: die Besteuerung von KI. Weil KI die Grenzen zwischen menschlicher Arbeit und Kapital verschwimmen lässt, stoßen vorhandene Regulierungen an ihre Grenzen.
Das Beispiel von Kairós zeigt, dass die Philosophie im Zusammenspiel mit anderen Wissenschaftsdisziplinen durchaus in der Lage ist, zu aktuellen und drängenden Themen etwas beizutragen. Aber auch, dass die Philosophie darauf angewiesen ist, sich in dieser Weise mit anderen Disziplinen zu verknüpfen, nicht nur um praktische Probleme zu lösen, sondern auch um in Zeiten eines ausdifferenzierten Wissenschaftssystems überhaupt noch relevante Aussagen über die Welt machen zu können.
So liegt es nahe, auch die philosophische Ausbildung so auszurichten, die Philosophie also grundsätzlich mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zu verbinden. Insbesondere im angelsächsischen Raum haben Studiengänge, die Philosophie etwa mit Politik oder Ökonomie verbinden, eine lange Tradition.
Dennoch bleibt eine andere Intuition bestehen: So wirklich praktisch ist es dann doch nicht, was die Philosophen tun. Oder?
Warum Philosophie die Praxis immer mitdenken muss
Philosophen bauen keine Brücken, heilen keine Kranken, erfinden keine neuen Technologien. Aber sie können dazu beitragen, dass andere Disziplinen – oder andere Menschen – ihre Probleme besser verstehen und besser lösen können, dass sie bessere Politiker, Ökonomen, Wissenschaftler werden – oder einfach ein besseres Leben führen können.
Weil viele praktische Fragen auch philosophische Fragen enthalten, ist es in gewisser Weise unausweichlich, dass sich auch Philosophen damit befassen. Dass sich aber Philosophinnen mit diesen Fragen beschäftigen, reicht allein nicht aus, sie müssen auch in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden.
Eine Institution mit diesem Ziel ist etwa
Auch außerhalb des politischen Kontexts existieren ähnliche Institutionen. So hat etwa der Fußballweltverband FIFA eine Ethikkommission einberufen, die Verstößen gegen das FIFA-Ethikreglement nachgehen soll. Sie verhängte Sperren unter anderem gegen den früheren FIFA-Präsidenten Sepp Blatter und den UEFA-Präsidenten Michel Platini,
Unternehmen beschäftigen sich unter dem Schlagwort Corporate Social Responsibility (CSR) mit Ethik. Dabei geht es um die Verantwortung privater Unternehmen gegenüber der Gesellschaft. So haben etwa Mitarbeiterinnen, Anwohner, Zulieferbetriebe oder NGOs jeweils bestimmte Ansprüche an die Unternehmen. Sie sollen etwa fair mit ihren Geschäftspartnern umgehen, Umweltverschmutzung vermeiden und die Menschenrechte achten, auch dann, wenn es (noch) keinen entsprechenden Rechtsrahmen gibt.
Wie diese Ansprüche im Einzelnen artikuliert und untereinander gewichtet werden und wie damit umzugehen ist, wenn die Konsequenzen den Unternehmensgewinn schmälern würden, das sind Fragen, mit denen sich die Wirtschaftsethik auseinandersetzt. Aber die theoretischen sind eng mit den praktischen Fragen verzahnt: Wie wird verhandelt? Wie können Lösungen aussehen? Wer stellt auf welche Weise sicher, dass einmal getroffene Vereinbarungen tatsächlich eingehalten werden? Um der Komplexität aktueller Themen gerecht zu werden, muss die Philosophie das Gespräch mit anderen Disziplinen suchen.
Und genau das kann die Philosophen von heute davor bewahren, sich in der Betrachtung des Sternenhimmels zu verlieren – und dabei in den sprichwörtlichen Brunnen zu fallen.
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert & Doğu Kaya für Perspective Daily