Buchauszug: Unser Leben wird sich ändern – durch Design oder durch Desaster
Heute erscheint das neue Perspective-Daily-Buch »Globaler Klimanotstand«. Lies hier einen exklusiven Auszug.
Es gibt 2 Blickwinkel, aus denen man auf die ziemlich überraschende Entscheidung blicken kann, die der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte im Herbst 2019 verkündete: Auf niederländischen Autobahnen herrscht
Einerseits kann man diesen Beschluss als Schritt in die richtige Richtung werten, schließlich werden dadurch künftig deutlich weniger CO2-Emissionen im niederländischen Verkehrswesen anfallen. Es werden voraussichtlich weniger Menschen ihr Leben in Unfällen lassen. Es werden weniger giftige Stickoxide durch niederländische Städte wabern – und das Reisen wird wohl generell entspannter werden. Es ist ja auch nicht so, dass die Distanzen im kleinen Nachbarland besonders groß wären; etwas längere Fahrzeiten sind da nicht so dramatisch. Und im Zweifel gibt es außerdem ein zuverlässiges Bahnnetz.
Aus dieser Perspektive scheint das neue Gesetz eine kluge Designentscheidung zu sein. Design im Sinne einer smarten, pragmatischen Policy, die nicht einknickt vor dem Wachstumswahn der »Immer schneller, immer weiter, immer höher«-Fraktion, sondern ein achtsames Miteinander und einen respektvollen Umgang mit der Umwelt verkörpert. So

Was wäre, wenn alle politischen Entscheidungen auf ihren Beitrag zum Klimaschutz geprüft würden? Das ist die Prämisse des neuen Buches von Graeme Maxton, ehemaliger Generalsekretär des »Club of Rome«, an dem die »Perspective Daily«-Gründer Maren Urner und Felix Austen mitgewirkt haben.
Bildquelle: Komplett-MediaDoch natürlich gibt es auch die andere Seite. Die Beobachter, denen die Entscheidung für die Geschwindigkeitsbegrenzung wie eine bittere Pille schmeckt. Tempo 100 ist für sie ein zusätzliches Verbot, das die Menschen weiter in ihrer Freiheit einschränkt. Eine Belastung gerade für Pendler, für die der Arbeitsweg ohnehin einen hohen Stressfaktor darstellt. Sollen sie jetzt über den Asphalt kriechen, nur weil mit den Bürokraten mal wieder die Regulierungswut durchgeht?
Interessanterweise gehört auch der niederländische Premier Mark Rutte zur zweiten Fraktion. Er persönlich hat das Gesetz zu verantworten, und doch bezeichnete er es vor laufender Kamera als eine
Doch warum, in Gottes Namen, hat er es dann verabschiedet?
Weil ihn ein politisches Desaster dazu gezwungen hat!
Aber der Reihe nach: In vielen niederländischen Städten herrscht – wie in ganz Europa – dicke Luft. Die europäischen Grenzwerte für Stickoxide werden seit Jahren regelmäßig überschritten. Damit brechen die Niederlande europäisches Recht. Ein niederländisches Gericht hatte die eigene Regierung deshalb dazu verdonnert, Tausende Bauprojekte – darunter Flughäfen und Straßen – zu stoppen, denn auch Baustellen blasen jede Menge Stickoxide in die Luft. Der Baustopp wirkte auf die konservative Regierung um Mark Rutte wie eine Daumenschraube, die sich jeden Tag, an dem die Beton- und Asphaltmischer stillstanden, weiter zuzog. Ein politisches Desaster, das Rutte zum Handeln zwang.
Warum nun das Beispiel über das Tempolimit auf niederländischen Autobahnen? Weil es uns eine einfache Wahrheit über die Zukunft unserer Politik, unserer Wirtschaft und letztlich unseres Lebens verrät. Es läuft auf eine einfache Formel hinaus:
Die Dinge werden sich ändern – durch Design oder durch Desaster.
Das Prinzip »design or disaster« liegt in der Natur der Nachhaltigkeit
All die Wissenschaftler, Organisationen, Bürger und, ja, auch Politiker, die seit Jahren eine – Achtung, Wort-Ungetüm! – Nachhaltigkeitstransformation fordern, haben das erkannt. Klar, heute ist der Begriff Nachhaltigkeit ein wenig wie das schicke neue Restaurant in der Stadt, in dem jeder gern sitzen möchte, obwohl niemand so genau weiß, was auf der Speisekarte steht. Alle schmücken sich damit, der Inhalt ist zweitrangig. (Wer das nicht glaubt, möge im Netz einmal nach den Begriffen »Exxon Mobil«, »Nestlé«, »BMW« oder auch »Gazprom« zusammen mit dem Wort »Nachhaltigkeit« suchen.)
Doch die Idee von »design or disaster« ist im ursprünglichen Verständnis von Nachhaltigkeit bereits verwurzelt. Bei der ersten Nennung des Begriffs Nachhaltigkeit durch Hans Carl von Carlowitz im Jahr 1713 beschreibt der Oberberghauptmann es vereinfacht gesagt als ein Prinzip, nach dem einem Wald nur so viele Bäume entnommen werden sollten, wie im Wald im selben Zeitraum wieder nachwachsen können. Denn nur so kann der Wald seine Bewirtschafter dauerhaft mit Bäumen versorgen – bestechend einfach und logisch.
Das neue »Perspective Daily«-Buch »Globaler Klimanotstand« erscheint im »Komplett-Media«-Verlag und ist ab heute im Handel.
Der konsequente Schluss daraus: Wer in seinem Forst nicht nachhaltig wirtschaftet, in dessen Wald wird sich etwas ändern. Ob er das will oder nicht.
Entweder weil er rechtzeitig gegensteuert, Äxte und Sägen öfters mal ruhen lässt und dem Wald so eine Verschnaufpause gönnt, in der er sich regenerieren kann. Das wäre ein möglicher Designweg. Im Desaster-Fall hält der Bewirtschafter des Waldes hingegen stur an seiner Einschlagquote fest, erzielt noch für ein paar Jahre hohe Renditen im Holzverkauf, während sich die Reihen im Forst langsam, aber sicher lichten und er eines Tages keine »reifen« Stämme mehr vorfindet und das Geschäft vorbei ist.

Unsere Probleme sind komplizierter als ein Wald
Ohne den sehr komplexen Bäumen auf die Wurzeln treten zu wollen: Viele unserer heutigen Probleme sind komplizierter, als es in Carlowitz’ Wäldchen der Fall war. Wie schädlich etwa Stickoxide konkret sind, wo die Messstationen stehen sollten und aus welchen Quellen sie in welchen Mengen stammen, darüber diskutiert die Wissenschaft trotz modernster Methoden weiter.
Und mit diesen Fragen ist es ja nicht getan: Die reinen wissenschaftlichen Fakten zeigen allein noch nicht auf, welches Design das beste ist. Sie sind vielmehr die Rohdaten, aus denen die behäbige Rechenmaschine Demokratie mit ihren gesellschaftlichen und politischen Algorithmen eine Antwort kalkulieren muss.
Und als wäre das nicht genug, kommt mit der Klimakatastrophe – der Mutter all unserer Probleme – eine Herausforderung auf uns zu, mit der die Rechenmaschine völlig überfordert ist. Das ist kein Wunder, denn sie ist nicht konzipiert für Derartiges.
Was sie insbesondere überfordert, sind 2 Dinge: Zuerst ist es das globale Ausmaß. Während Carlowitz seinen Wald trotz lauter Bäumen recht klar vor sich sieht und auch die niederländischen Luftprobleme einigermaßen deutliche Grenzen haben, umspannt unser Klima die gesamte Erde. Unsere Emissionen können Zigtausende Kilometer von unserem Zuhause entfernt Desaster mit auslösen, und ebenso gehen Überschwemmungen in Bayern, Waldbrände in Brandenburg und orkanartige Stürme im Ruhrgebiet mit auf Kappe einer, sagen wir, SUV-fahrenden US-Amerikanerin oder eines um die Welt jettenden Japaners. Die Grönländer haben nur wenige Emissionen dazu beigetragen, dass ihnen das Eisschelf unter den Füßen davonschmilzt.
Die zweite Charaktereigenschaft des Klimawandels, die es uns so schwer macht, ihn richtig zu greifen, ist seine Trägheit. Unsere Emissionen werden noch in Jahrzehnten die Erde weiter aufheizen. Der Stein, den wir gerade ins Rollen bringen, wird noch lange nach uns weiterpoltern. Und uns heute aufzuraffen, um ein Problem in (nicht mehr ganz so) ferner Zukunft zu lösen – das ist nicht unsere beste Disziplin.
Wie ein wirklich nachhaltiges Design vor diesem Hintergrund aussieht, wissen wir schlicht noch nicht. E-Autos und erneuerbare Energien sind eine Vorstufe, ein Kompromiss – aber sicher nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wo endet das Desaster, wo beginnt das Design?
Natürlich wird ein einigermaßen vernünftiger Forstunternehmer, der von seinem Wald lebt, seine Lebensgrundlage in der Realität nicht blindlings auslöschen. Er wird vielleicht ein paar Jahre zu viel Holz verkaufen und in Anbetracht der darauffolgenden schlechten Jahre an seinen Bewirtschaftungsmethoden feilen, aus Fehlern lernen.
So lässt sich auch das Beispiel aus den Niederlanden lesen: Dass der Verkehr mit Stickoxiden auf die Lunge schlägt, ist längst bekannt. Doch erst ein mittelgroßes Desaster – der gerichtlich verordnete Baustopp – konnte die Regierung dazu bewegen, das Design in die Hand zu nehmen und Maßnahmen zu beschließen, die das Problem mit den Stickoxiden in »nachhaltige« Bahnen lenkten.
Die Realität ist grau. Sie liegt irgendwo zwischen dem weißen Pol, also dem perfekten Design, und dem schwarzen Pol, also dem kompletten Desaster. Kleinere Desaster führen zu kleineren Designkorrekturen, ausbleibende oder schlechte Korrekturen zu kleinen Desastern – ein ständiges Wechselspiel. Während der Waldbesitzer das Desaster jedoch schnell zu spüren bekommt und schnell korrigieren kann, bricht das Desaster beim Klimawandel so verzögert über uns herein, dass es viel zu spät sein wird, erst dann zu reagieren.
Warum Design, wenn doch auch das Desaster den Wandel bringt?
Für die Zukunft des Planeten könnte man sagen: Je heller der Grauton, desto besser. Soll heißen: Je früher wir als Gesellschaft im Allgemeinen und als Politik im Speziellen die bevorstehenden Veränderungen angehen und den Designprozess lostreten, desto besser ist es, denn desto mehr Designoptionen haben wir. Das hat 2 Gründe:
Erstens bleibt mehr Zeit, ein Design zu finden, das wirklich nachhaltig ist – wie auch immer dieses dann aussehen mag. Eines, das nicht an anderer Stelle, die wir im ersten Moment noch nicht auf dem Schirm haben, das nächste Desaster heraufbeschwört. Die Geschichte ist voller Beispiele derartiger Verschlimmbesserungen. Denken wir etwa an den praktischen Komfort, den uns Benzinautos und Plastiktüten anfangs beschert haben, und an das Desaster, das sie nun in der Atmosphäre und in den Ozeanen anrichten.
Und auch heute wieder stürzen wir uns auf Lösungen, die (noch) keine sind: Elektroautos, die mit schmutzigem Kohlestrom geladen werden, haben erst nach Zigtausenden Kilometern eine bessere Klimabilanz als Verbrenner.
Deshalb brauchen wir jeden einzelnen Tag, um Alternativen zu erproben. (Und ja, deshalb ist es vernünftig, nicht auf jeden neuen Zug sofort mit aufzuspringen, sondern Optionen zu prüfen. Was natürlich nicht bedeutet, jeglichen echten Wandel von vornherein kategorisch abzulehnen, wie das auf politischer Bühne leider auch oft fehlinterpretiert wird.) Auf dass wir ein Design finden, das uns möglichst gut in den Kram passt, Design darf und soll schließlich gefallen.
Hätten Rutte und seine Partei die Luftgrenzwerte schon früher ernst genommen, hätten sie auf Wissenschaftler und Juristen gehört, und hätten sie bereits vor Jahren damit angefangen, umweltfreundlichere Baumethoden zu fördern und biologischen Landbau voranzutreiben – beides kann den Ausstoß von Stickoxiden senken –, wäre das drastische Tempolimit 100 zur Luftreinhaltung vielleicht gar nicht erst notwendig geworden.
Der zweite Grund, warum wir keine Minute verlieren sollten, um mit dem Design anzufangen, ist, dass in jeder Minute unwiederbringlich Ressourcen verloren gehen, die wir für den Designprozess dringend brauchen. Und dass der Klimawandel in jeder Minute schlimmer wird, mehr Menschen und Tierleben fordert und die Natur unwiederbringlichen Schaden nimmt.
Doch erst ein Gericht brachte Rutte dazu, das Problem anzugehen. So könnte es auch bei Klimafragen kommen, weit über die Grenzen der Niederlande hinaus: Gerichte könnten die Regierungen mit den Notstandsgesetzen im Rücken dazu zwingen, ihre selbst gesteckten Ziele ernst zu nehmen und zu handeln. Schon heute testen die Opfer des Klimawandels und ihre Anwälte aus, wie das konkret funktionieren kann:
Beispiele gefällig?
In Zukunft wird sich vieles verändern, wenn nicht durch Design, dann durch Desaster. Viele der Veränderungen sind uns in Zeit und Raum näher, als wir es wahrhaben möchten. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein: Im Vergleich zu dem, was sich in Zukunft noch ändern werden muss, ist Tempo 100 nicht »beschissen«, sondern eher ein Mückenschiss. Doch für alle Veränderungen gilt: Es lohnt sich, sofort mit dem Design zu beginnen, bevor es zum Desaster kommt. Darum hier eine kleine Sammlung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. (Die Designvorschläge im Folgenden entstammen nicht meiner Fantasie, sondern sind bereits erprobt. Über die meisten der Ideen haben wir bei Perspective Daily bereits berichtet.)

Wir werden anders bauen!
Außerdem
- Desaster: Warten wir, bis das Klima kippt und es kein Grün mehr gibt? Bis die Preise explodieren und Krieg um Rohstoffe herrscht?
- Design: Oder fangen wir an,
Wir werden weniger Fische aus dem Meer ziehen!
Die
- Desaster: Warten wir, bis die Fischbestände zusammenbrechen und überhaupt nichts mehr »liefern«? Bis Fischer ihre Fanggründe aus Verzweiflung mit zerstörerischen Fangmethoden wie Dynamitfischen oder Fischereikonzerne aus Habgier mit Grundschleppnetzen abtöten? Bis ganze Länder über die Nutzung der Fangrechte in Konflikte verwickelt werden, wie etwa
- Design: Oder regeln wir, dass Fischerboote mit neu entwickelten Netzen ausgestattet werden, die den Beifang reduzieren? Berücksichtigen wir die Fischer, die auf ihren Fang existenziell angewiesen sind, in unseren Fangquoten? Und essen einfach wieder nur freitags ein Stück Fisch aus einem Gewässer in unserer Nähe?
Wir werden ein nachhaltiges Energiesystem aufbauen!
In den 90ern verbreitete die Kohlelobby in deutschen Medien die falsche Warnung, dass unsere Stromnetze nur geringe Mengen erneuerbarer Energien verkraften könnten.
- Desaster: Wollen wir unser verbleibendes CO2-Kontingent, das wir an anderer Stelle für kniffligere Aufgaben brauchen werden, mit ineffizienter Braunkohle verplempern? Warten, bis noch mehr Menschen in Deutschland an den giftigen Abgasen der Kohlekraftwerke sterben? Milliarden in Kohlesubventionen versenken? Und in Südafrika und Kolumbien durch unseren Steinkohleimport weiterhin Ökosysteme und Menschenrechte schänden?
- Design: Oder ziehen wir die Energiewende durch, auch von unten? Werden selbst zu Erzeugern, die durch kluge Investitionen weniger Geld für saubere Energie ausgeben? Die Technik- und Policy-Know-how entwickeln, das wir in die ganze Welt exportieren können? Die Strom an die Nachbarn exportieren, nicht weil sie Unmengen produzieren – sondern selbst so effizient damit umgehen, dass wir nur noch wenig brauchen? Und entwickeln wir Energiequellen, die wirklich nachhaltig sind, ohne kritische Rohstoffe auskommen und keine Berge von Sondermüll hinterlassen?
Wir werden uns von der intensiven Landwirtschaft verabschieden!
Kilometerweit schweift das Auge über hiesige Felder, und zu sehen ist – Mais. Oder Raps. Doch weil alles gleich ist, blüht und verblüht auch alles zugleich. Fliegen, Bienen und Käfer finden nichts zu fressen und werden von den Pflanzenschutzmitteln vergiftet; die reine
- Desaster: Warten wir, bis die Düngerlieferung ausbleibt? Bis mit den letzten Tieren auch ihr Erbgut für immer ausstirbt und es kein Zurück mehr gibt? Und die Böden nicht nur für die Käfer zu giftig zum Überleben sind, sondern auch für uns?
- Design: Oder führen wir Fruchtfolgen ein, mit denen weniger Dünger notwendig ist? Und fragen die Biobauern nach ihrem Geheimnis, deren Erträge genauso hoch sind wie die der konventionellen? Lassen auf dem Acker auch Abwechslung zu, damit die gesamte Ernte nicht mit einem Schädling steht und fällt? Und geben den Böden Zeit, Humus aufzubauen, in dem CO2 gebunden ist?
Dass sich etwas verändert, ist alternativlos. Die Frage ist, ob wir es dem Desaster überlassen – oder endlich selbst anfangen, unsere Zukunft zu gestalten, und den Designweg einschlagen.
Bestelle jetzt das neue Buch »Globaler Klimanotstand«!Titelbild: Perspective Daily - copyright