So kann jetzt eine völlig neue Arbeitskultur entstehen
Viele Unternehmen werden gerade gezwungen, ihre Arbeit neu zu organisieren. Homeoffice und digitale Kommunikation sind jetzt gefragt. Was bleibt davon, wenn die Krise vorbei ist?
Vor wenigen Wochen, in Coronazeiten also vor Ewigkeiten, hörte ich eine kleine Anekdote, mit der ich diesen Text beginnen möchte. Ein Freund erzählte mir von der täglichen Besprechung seiner Abteilung. Es handelt sich um ein größeres Unternehmen, das wie viele andere auch den digitalen Wandel bewältigen muss. Die Leiterin der Abteilung machte die Belegschaft darauf aufmerksam, dass es wegen des sich ausbreitenden Coronavirus bald notwendig werden könnte, im Homeoffice zu arbeiten.
Ihre Anregung stieß nicht bei allen Anwesenden auf Zustimmung. Es zeigte sich, so erzählte es mein Freund, dass nicht alle einen eigenen Computer und Internetzugang zu Hause hatten. Und wie man das denn zum Beispiel mit dem Ausdrucken regeln wolle, fragte ein Mitarbeiter. Er könne ja einen Stapel Papier mit nach Hause nehmen, schlug ein Kollege vor. Andere kamen zu dem Schluss, dass es wohl besser sei, wenn man sich weiterhin sehen würde.
Ich gehe nicht weiter ins Detail, zumal ich nicht dabei gewesen bin. Ich erzähle das auch nicht, um mich lustig zu machen über Unternehmen, die gerade mit der Tatsache überfordert sind, dass das Coronavirus ganze Branchen lahmlegt und jene Unternehmen, die weiterarbeiten, vor große Herausforderungen gestellt sind. Ich erzähle das aus einem anderen Grund.
Genauer gesagt, gibt es 3 Lehren, die man schon jetzt aus der Coronakrise ableiten kann und die ich in diesem Text erklären möchte:
- Viele Organisationen, die ihre Arbeit jetzt dezentral steuern müssen, sind darauf schlecht vorbereitet. Dass sie bisher zu wenig getan haben, um ihre Arbeitsplätze auf den digitalen Wandel einzustellen, fällt ihnen jetzt ebenso auf die Füße wie die Tatsache, dass in traditionellen, hierarchischen Strukturen bislang wenig Raum für Eigenverantwortung war.
- Die zweite Lehre ist eine bessere Nachricht: Zwar müssen Unternehmen und Beschäftigte jetzt improvisieren. Doch die Methoden, die nötig sind, werden in anderen Firmen bereits erfolgreich gelebt. Die technischen und kulturellen Lösungen existieren also.
- Daraus ergibt sich eine Chance: Viele Unternehmen lernen jetzt, digital, ortsunabhängig und zeitlich flexibel zu arbeiten. Dieser Lernprozess könnte die Arbeitskultur, vor allem die auf Präsenz ausgelegte deutsche Kultur, nachhaltig verändern.
Diese Blickwinkel können helfen, um ein wenig besser zu verstehen, wie es um die Gegenwart und die Zukunft der Arbeit, während und nach der Pandemie, bestellt ist.
Viele Unternehmen haben den digitalen Wandel bisher verschlafen
Fachleute sagen derzeit häufig, dass uns diese Krise zwingt zu improvisieren. Während die Wissenschaft nun in hohem Tempo nach Impfstoffen forscht, hätten die Unternehmen vorbereitet sein können. Sie mussten zwar nicht damit rechnen, dass eine Pandemie zu einem weitgehenden Stillstand des gesellschaftlichen Lebens führt. Doch die Tatsache, dass mobiles und dezentrales Arbeiten an Bedeutung gewinnt, ist lange bekannt.
Das Unternehmen, das ich am Anfang erwähnt habe, gehört zu den vielen Organisationen, deren Arbeit prinzipiell ortsunabhängig geleistet werden kann: im Homeoffice, im Coworking-Space, im Café oder wo auch immer eine WLAN-Verbindung vorhanden ist. Dafür gibt es auch den Begriff »Remote Work«, der für die freie Wahl des Arbeitsorts
Wegen der aktuellen Situation kommt hier im Moment nur das Homeoffice als Arbeitsort infrage. Auf den ersten Blick geht es dabei um nicht mehr als den Ortswechsel vom Büro an den heimischen Schreibtisch. Doch wer diesen Wechsel vollzogen hat, weiß, was alles dazugehört, damit die Zusammenarbeit mit dem Rest des Teams weiterhin gelingt.
Plötzlich müssen Unternehmen Cloud-basiert arbeiten, weil die Dateien auf dem Arbeitsrechner nicht mehr zugänglich sind. Es braucht digitale Kommunikationskanäle, weil der Flurfunk verstummt und im Nachbarraum nicht die Kollegin sitzt, sondern die Kinder vor dem Fernseher. Arbeitsprojekte können nicht mehr auf dem Whiteboard notiert werden, sondern irgendwo im digitalen Raum, wo sie für alle Beteiligten sichtbar werden.
Die Hälfte der Menschen, die normalerweise im Büro arbeiten, sind nicht darauf vorbereitet, ihren Job an einem anderen Ort auszuüben.
Es muss also gerade reichlich improvisiert werden, und das will gelernt sein. Manche Unternehmen sind darauf besser vorbereitet, andere weniger gut. Aus dem repräsentativen
Dabei fällt zusätzlich auf:
Dass beruflicher Erfolg voraussetzt, mit den Entwicklungen der Digitalisierung mithalten zu können, behauptet eine große Mehrheit der Befragten (78%). Doch nur rund 1/3 wird nach eigener Aussage genügend geschult, um mit digitalen Technologien kompetent umgehen zu können. Unter den Personen mit Bürojobs sind es immerhin 49%, die ausreichend weitergebildet und motiviert werden.
Das heißt aber auch: Etwa die Hälfte der Menschen, die normalerweise im Büro arbeiten, sind nicht gut darauf vorbereitet, an einem anderen Ort ihren Tätigkeiten nachzugehen.
»Es ist nicht nur eine Frage von Tools«
Während viele Firmen nun erst einmal Strukturen schaffen müssen, damit alle vom Homeoffice aus arbeiten können, verläuft der Umstieg anderswo leichter. Zum Beispiel bei der Agentur Comspace, die andere Firmen in Sachen Digitalisierung berät. Die rund 100 Angestellten sind schon per Jobbeschreibung Fachleute, wenn es um digitales Arbeiten geht.
Einer von ihnen ist Tilmann Mißfeldt, er ist zuständig für Talee, eine digitale Plattform für Unternehmen. Genau wie viele andere hat es ihn derzeit ins Homeoffice verschlagen. Keine ungewohnte Situation für ihn, allerdings findet die Arbeit auch bei Comspace normalerweise im Büro statt.
Jetzt ist also einiges anders. Tilmann Mißfeldt und das gesamte Team sind nun den gesamten Tag digital miteinander verbunden. Morgens loggt er sich als Erstes in den Firmenchat Slack ein. »Ich schaue erst mal, was in meiner Abwesenheit gelaufen ist«, sagt er. Um 10:10 Uhr findet dann die tägliche Besprechung mit allen anderen statt.
Erst gibt es einen kurzen »Check-In«, bei dem sich alle langsam zusammenfinden und über das austauschen, was sie privat gerade beschäftigt: Wie geht es? Klappt es mit der Kinderbetreuung? Gibt es neue Coronaverdachtsfälle? Dann beginnt die Videokonferenz, in der alle der Reihe nach über ihre aktuellen Aufgaben sprechen.
»Ich habe den Eindruck, dass wir gerade eine andere Zuhörkultur entwickeln.« – Tilmann Mißfeldt, »Product Owner« bei Talee
Dass alle füreinander erreichbar sind, versteht Tilmann Mißfeldt nicht als Ablenkung, sondern als wesentlichen Bestandteil der Zusammenarbeit. Kleinigkeiten kläre er meistens per Chat, für wichtige Angelegenheiten spreche er lieber per Videoanruf mit den anderen. Das sei zwar etwas anderes, als physisch mit jemandem im selben Raum zu sein. Doch er erlebe gerade, dass die Remote-Kommunikation nicht immer die schlechtere Version des miteinander Sprechens sein muss. »Ich habe den Eindruck, dass wir gerade eine andere Zuhörkultur entwickeln. Man kommt jetzt ganz anders zusammen.«
All die digitalen Werkzeuge vereinfachen die mobile Zusammenarbeit oder machen sie erst möglich. Doch Tilmann Mißfeldt betont auch: »Es ist nicht nur eine Frage von Tools.« Entscheidend für das Gelingen mobiler Arbeit sei die Kultur. »Wenn wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, ist die wichtigste Grundlage unserer Zusammenarbeit das gegenseitige Vertrauen«, sagt er.
Jetzt, wo sich die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr täglich auf dem Flur begegnen, bekommt Vertrauen eine besondere Bedeutung. Doch Vertrauen muss immer erst wachsen. Bei Comspace, sagt Tilmann Mißfeldt, sei diese Grundlage schon da. »Dass wir in der jetzigen Situation Vertrauen zueinander haben können, liegt daran, dass wir die Basis für eine Vertrauenskultur in der Vergangenheit entwickelt haben.« Und zwar auf analogem Wege, ergänzt er. »Durch soziale, direkte Interaktion weit über das Arbeiten hinaus.«
Dieses Beispiel zeigt: Unternehmen können auch dann gut zusammenarbeiten und erfolgreich sein, wenn man sich nicht täglich im Büro über den Weg läuft. Die passenden Lösungen dafür sind schon auf dem Markt und in den Köpfen.
Die Krise sei eine Chance, sagt Tilmann Mißfeldt. Nicht nur eine Chance, digitales Arbeiten voranzubringen, sondern auch die Chance, eine neue Arbeitskultur zu etablieren, die stärker von Vertrauen geprägt ist. »Ich hätte mir gewünscht, dass es nicht so eine Krise gebraucht hätte«, sagt er. Denn er sehe schließlich auch die Verlierer dieser Entwicklung: die Menschen, denen jetzt Aufträge wegbrechen oder die sogar ihre Jobs verlieren.
Warum diese Diskussion jetzt notwendig ist
Ist das jetzt also überhaupt der richtige Zeitpunkt, um über die Chancen des neuen Arbeitens zu sprechen? In diesem Augenblick bangen Menschen um den eigenen Job oder sogar die eigene Firma. Pfleger, Ärztinnen, Krankenschwestern, Supermarktmitarbeiter und viele andere, deren schwierige Arbeitsbedingungen jetzt offensichtlich werden, arbeiten an der Belastungsgrenze und darüber hinaus.
Vieles spricht dennoch dafür, dass diese Diskussion genau jetzt geführt werden muss. Es ist keine Nebensächlichkeit, dass sich alle, die weiter ins Büro gehen, untereinander anstecken können. Es ist auch nicht nebensächlich, wenn jemand, der im Homeoffice arbeiten und Arbeitszeiten flexibel gestalten kann, die Kinderbetreuung übernimmt und seiner Partnerin oder seinem Partner damit die Ausübung eines womöglich systemrelevanten Berufs ermöglicht. Nicht zuletzt für die Unternehmen selbst kann der Umstieg auf mobiles Arbeiten überlebenswichtig sein.
Hinzu kommt: Alles, was jetzt zu einer Beschleunigung der Digitalisierung führt, könnte helfen, Schulunterricht, Nachbarschaftshilfe und Sprechstunden mit der Hausärztin im digitalen Raum zu organisieren.
Wer die Einsamkeit am heimischen Arbeitsplatz einmal erlebt hat, wird das Homeoffice nicht ohne Weiteres als Privileg bezeichnen.
Es hilft weder jetzt noch zu anderen Zeiten, eine Berufsgruppe gegen die andere auszuspielen. Ja, von der Coronakrise profitieren aktuell Supermärkte, Toilettenpapierhersteller und Lieferdienste. Für Beschäftigte wie Tilmann Mißfeldt, die Remote-Arbeit gewöhnt sind, ändert sich kaum etwas. Andere hingegen kämpfen um ihre berufliche und wirtschaftliche Existenz sowie um ihre Gesundheit.
Dass jetzt nicht alle Beschäftigten zu Hause arbeiten können, ist aber kein Argument gegen das Homeoffice, sondern einfach eine Tatsache. Laut »D21-Digital-Index 2019/2020« ist es in rund 40% aller Berufe möglich, im Homeoffice zu arbeiten.
Wer aber einmal die Einsamkeit am heimischen Arbeitsplatz oder auch die Unruhe in einem Haushalt mit Kindern erlebt hat, wird das Homeoffice nicht ohne Weiteres als Privileg bezeichnen. Klare Grenzen, Bewegung, soziale Kontakte –
Kann ein Virus die Arbeitswelt erneuern?
Also noch einmal zurück zu der Chance, die sich gerade für die Arbeitskultur bietet. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Unternehmen, die derzeit dezentral arbeiten und den Einzelnen mehr Vertrauen und Eigenverantwortung schenken, dies auch nach der Krise fortsetzen?
Einer, der darauf schon eine mögliche Antwort gefunden hat, ist Mark Poppenborg, Gründer des Thinktanks Intrinsify. »Wir arbeiten aktuell unter anderen Vorzeichen«, sagt er. Aus praktikablen Gründen werden in vielen Organisationen nicht mehr alle Unterschriftenregelungen eingehalten, Zielvereinbarungen werden ignoriert und Arbeitszeiten nicht mehr kontrolliert. Offizielle Dienstwege können übergangen werden, man müsse nicht bei jeder Entscheidung seinen Chef fragen, sondern übernehme selbst Verantwortung. »Diese Coronakrise ist ein Sachzwang, der dazu führt, dass die Mitarbeiter mehr Freiheit haben«, sagt er.
»Diese Coronakrise ist ein Sachzwang, der dazu führt, dass die Mitarbeiter mehr Freiheit haben.« – Mark Poppenborg, Gründer von »Intrinsify«
Doch dass sich die aktuelle Arbeitsweise ganz von selbst als dauerhafte Arbeitsweise etabliere, bezweifelt er: »Nur wenn Unternehmen verstehen, dass strukturelle Veränderung etwas ist, das den Unterschied macht, kann sich die aktuelle Ausnahmesituation langfristig positiv auswirken.« Dabei komme es darauf an, die Strukturen zu identifizieren, die aktuell ausgesetzt sind, ignoriert oder abgeschafft werden. Das sei ein guter Hinweis darauf, was in Zukunft geändert werden könnte. Ansonsten drohe der Rückschritt in die Normalität, befürchtet Mark Poppenborg. Denn die Strukturen einer Organisation seien nun nicht einfach verschwunden, sondern jederzeit wieder abrufbar.
Andere sehen größere Chancen, dass die Art und Weise, wie Arbeit gerade neu organisiert wird, von Dauer sein kann. Lisa Herzog zum Beispiel. Sie ist Professorin für Philosophie an der Universität Groningen und Autorin des Buchs »Die Rettung der Arbeit«.
Dass Unternehmen, die Vorreiter in digitaler Arbeit sind, dazu beitragen können, dass auch traditionelle Firmen diese Arbeitsweisen übernehmen, sagte sie schon vor der Coronakrise
Ich glaube schon, dass solche Pionierunternehmen eine wichtige Rolle spielen, weil sie experimentieren können, was geht und was möglich ist; zum Beispiel, ob es funktionieren kann, wenn die Mitarbeiter nur einen geringen Teil der Zeit physisch anwesend sind oder wenn man Führung neu denkt.
Wir erleben eine Beschleunigung des sozialen Fortschritts
Es scheint, als könnten wir gerade dabei zusehen, wie eine Gesellschaft in Tagen Fortschritte erzielt, für die es sonst Jahre und Jahrzehnte braucht. Nicht nur das Coronavirus selbst verbreitet sich in rasender Geschwindigkeit. Sein exponentielles Wachstum trägt auch zu einer Beschleunigung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse bei. Von jetzt auf gleich verändert es lange eingeübte Alltagspraktiken und Verhaltensweisen. Es lässt Gesetze
Das alles passiert, während sich das soziale Leben immer weiter verlangsamt, während sich immer mehr Menschen in die heimische Quarantäne begeben, um die Erkrankung auszukurieren oder zu arbeiten. Plötzlich müssen Arbeitszeitmodelle flexibel sein, Familien brauchen Vereinbarkeitsmodelle. Unternehmen müssen jetzt agil, also anpassungsfähig sein und die Beschäftigten in die Lage versetzen, schnelle Veränderungen selbst zu gestalten.
Es schlägt die Stunde der Videokonferenzen, der Vertrauensarbeitszeit, der flachen Hierarchien und der Firmenchats. Weil Arbeiten so, wie wir es bisher kannten, in vielen Berufen nicht mehr möglich ist, steht ganz plötzlich die Zukunft der Arbeit vor der Tür. Viele Unternehmen werden jetzt wertvolle Erfahrungen sammeln. Davon können sie in Zukunft zehren. Ob sie nach der Krise in alte Muster zurückfallen oder aber sich die neuen Erfahrungen zunutze machen, hängt davon ab, ob sie sich bewusst dafür entscheiden. Dafür gibt es jetzt eine einmalige Gelegenheit.
Titelbild: Anastasia Kamil - CC0 1.0