Wie wir die Leistungsgesellschaft neu erfinden
Leistung muss sich lohnen. Aber wer leistet eigentlich was? Und wer bestimmt, wie viel das wert ist?
Der deutsche Normalzustand in den letzten Jahrzehnten sah in etwa so aus:
Krank? Ärzt:innen behandeln dich in der Praxis um die Ecke
Hungrig? Mitarbeiter:innen im Discounter füllen die Regale für dich mit Waren, die zum Teil lange Transportwege hinter sich haben – und unterwegs durch die Hände vieler anderer arbeitender Menschen gewandert sind.
Gelangweilt? Paketbot:innen hasten mit Sackkarren voller Kartons durch die Städte und liefern dir Bücher, Konsolen oder
In der Regel bekommst du davon nichts mit. Auch nicht von den Bedingungen, unter denen all diese Menschen arbeiten.
Dass diese Dinge nicht so selbstverständlich sind, wie sie uns immer erschienen, ist spätestens seit der Coronakrise klar. Dazu kommt, dass diese Dinge von Menschen ermöglicht werden,
Unbewusst übersehen wir alle leicht die Leistung hinter der Tätigkeit anderer, die wir als selbstverständlich hinnehmen. Genauso unbewusst gehen wir aber auch davon aus: In der Leistungsgesellschaft wird schon dafür gesorgt, dass jede:r den Wert ihrer oder seiner Leistung irgendwie ausgezahlt bekommt – in Geld, Status und/oder Möglichkeiten zur Teilhabe.
Doch in der jetzigen Krise wird überdeutlich: Da hängt etwas gründlich schief.
Wie rücken wir es wieder gerade? Nutzen wir die Krise, darüber nachzudenken, wer in dieser Gesellschaft eigentlich was leistet – um an einer Leistungsgesellschaft zu arbeiten, die den Namen auch verdient.
Um zu verstehen, wie elementar bestimmte Berufsgruppen für unser tägliches Leben sind, reicht es, wenn diese Menschen eines tun: nichts. Genau das lernten die Bürger:innen New Yorks schon vor über 50 Jahren.
Warum sich Bürgermeister:innen nicht mit der Müllabfuhr anlegen sollten
Der 2. Februar 1968 sollte zu einem folgenschweren Tag für die Stadt New York werden: Als der auf dem Dach eines Trucks stehende Gewerkschaftsführer John DeLury den versammelten 7.000 Beschäftigten der Müllabfuhr mitteilte, dass der Bürgermeister der Stadt ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen nicht entgegenkommen würde, trat die Truppe in den Streik. Dabei stand den Beschäftigten der Müllabfuhr laut Gesetz gar kein Streikrecht zu – ihre Aufgabe war schlicht zu wichtig.
Es brauchte nur 3 Tage und New York versank in seinem eigenen Müll,
In den Nachrichten berichteten einige New Yorker:innen von den Folgen.
In nur wenigen Tagen verwandelte sich eine der modernsten Städte der Welt in eine riesige Mülldeponie, weil 7.000 Menschen ihre unterbezahlte und wenig respektierte Arbeit einstellten und der amtierende Bürgermeister John Lindsay sich weigerte, ihnen mehr als 5% Lohnsteigerung anzubieten.
9 Tage und 100.000 Tonnen Müll später kam schließlich das Einsehen: Ohne die Leistung der Menschen, die ihn entsorgen, kann das Leben in der Stadt nicht seinen gewohnten Gang gehen. Die Streikenden siegten, ihr Lohn stieg, dazu gab es die Zusage regelmäßiger Gehaltsanpassungen.
Das war das Ende einer Eskalationsspirale, die sich nicht für alle Jobs gleich schnell dreht, wie der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman
Es geht auch (fast) ohne Banker:innen
Am 4. Mai 1970 stellten in Irland alle Bankangestellten von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit ein. Aufgrund ausbleibender Lohnerhöhungen und einer als generell bankenunfreundlich empfundenen Politik entschieden sie sich, in Streik zu treten.
Ohne die Geldhäuser und ihre Dienstleistungen wie Bargeldversorgung und Kreditvergabe würde das Land stillstehen, die Wirtschaft den Bach runtergehen und die Banker:innen somit ihre Unverzichtbarkeit unter Beweis stellen. So hatten sie es sich zumindest vorgestellt.
Doch es sollte anders kommen. Zwar stockte der Bargeldfluss für kurze Zeit – die Beschäftigtenquote blieb jedoch stabil.
Manchen fiel es kaum auf, dass etwas fehlte –
Der Hauptgrund dafür, dass ich mich nicht so recht an den Bankerstreik erinnern kann, ist, dass er keinen großen Einfluss auf meinen Alltag hatte. Dank der Irish Pubs.
Die lokalen Stammkneipen entwickelten sich schnell zu einer unkomplizierten Ersatzbank. Dort konnten Schecks eingelöst werden, die sich die Menschen fortan schlicht gegenseitig ausstellten: »In den Pubs wurden die Innenseiten von Zigarettenschachteln plötzlich zur Tauschwährung.
6 Monate überbrückte die irische Bevölkerung durch dieses
Dennoch wird in der Bankenbranche bis heute wesentlich besser verdient als bei der Müllabfuhr.
Wer bestimmt, was Leistung ist?
Wovon hängt es aber überhaupt ab, ob jemand im Büroturm einer Bank oder auf dem Trittbrett eines Müllwagens landet? Ob jemand 18.000 Euro im Monat oder im ganzen Jahr verdient?
Die Historikerin Nina Verheyen schreibt
Eigentlich logisch. Warum aber hält sich der Glaube, individuelle Leistung sei mess- und vergleichbar, trotzdem derart hartnäckig? Verheyen erklärt es für Deutschland aus historischer Perspektive und setzt
Der Staat bestimme, wie Leistung definiert sei, wie sie entlohnt werde – und auch, wer überhaupt zum »Kräftemessen« zugelassen ist. Frauen blieben lange außen vor. Noch bis in die 70er-Jahre
Immer wieder wirkten Leistungspraktiken sozial ausschließend – gegenüber Frauen, gegenüber jüdischen Personen und solchen aus anderen Ländern. Auf dieser Grundlage gelang es den nationalen Institutionen des Rechts- und Verfassungsstaats, zahlreiche Menschen beim Zugang zu Macht und Ressourcen gezielt zu benachteiligen, ein Mechanismus, der als Auslese nach Tüchtigkeit kaschiert und legitimiert wurde.
Es gibt viele Beispiele dafür, was Verheyen die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« nennt: vermeintlich objektive
Eine objektive Leistungsbewertung ist allerdings schlicht unmöglich. Wie wir sie bewerten, ist historisch gewachsen und hat immer damit zu tun, worauf wir uns als Gesellschaft verständigen – oder wer sich mit seiner Interpretation von Leistung durchsetzt, also letztlich mit Macht.
Wie kann ein Leistungsbegriff aussehen, der »gerecht« ist? Der diejenigen, die Grundlegendes für die Gesellschaft leisten, auch entsprechend entlohnt?
Dafür ist laut Verheyen noch ein Punkt entscheidend. Individuelle Leistung kann es gar nicht geben, selbst wenn volle Chancengleichheit erreicht wäre. Denn es gibt immer andere Menschen, die etwas zu dem beitragen, was schließlich als Leistung bewertet wird.
Ein aktuelles Beispiel: Ohne ein gutes Praxisteam, Pflegepersonal und konsequente Hygiene durch Reinigungskräfte
Mehr Anerkennung reicht nicht
Wie schwer wir uns damit tun, Leistung als kollektive Anstrengung zu begreifen, zeigt die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) entwickelte
Die systemrelevanten Berufe, also die,
Besonders deutlich wird das Ungleichgewicht tatsächlich im Bereich Gesundheit: Mediziner:innen erreichen hier mit 194 von 200 möglichen Punkten fast den Höchstwert an Prestigepunkten, während Arzt- und Praxishilfen mit lediglich 52 Punkten abschneiden. Reinigungskräfte belegen den letzten Platz der Skala.
Der Anteil von Frauen in systemrelevanten Berufen liegt bei über 70%
(Mangelndes) Prestige spiegelt sich dann in den meisten Fällen auch in der Entlohnung wider: Der mittlere Stundenlohn der systemrelevanten Berufe fällt mit 18 Euro pro Stunde im Durchschnitt um einen Euro geringer aus als der Gesamtdurchschnitt aller Berufe. Besonders weit fallen Jobs zurück, in denen nicht selten nur der
Eine Personengruppe ist von diesen Ungleichheiten besonders betroffen: Frauen – ihr Anteil liegt in systemrelevanten Berufen bei über 70%. Trotz der Tatsache, dass die »Herausforderungen der aktuellen Situation [der Coronapandemie] zu einem erheblichen Teil von Frauen getragen werden«, wie es im DIW-Bericht heißt, verdienen sie in diesen tendenziell ohnehin unterbezahlten Jobs noch mal 16% weniger als ihre Kollegen mit gleicher Tätigkeit. In den wenigen gut bezahlten, systemrelevanten Jobs wie in der Pharmazie und der Humanmedizin fällt
Leistung muss sich wieder lohnen!
Ob Leistung überhaupt das beste Ordnungsprinzip für eine Gesellschaft ist, darüber lässt sich streiten – tatsächlich spricht vieles dafür. Dass Leistung »sich (wieder) lohnen muss«, damit machte die CDU schon im Jahr 1982 Wahlkampf, es ist aber bis heute ein über alle Parteigrenzen hinweg beliebter politischer Sinnspruch. Er ist deshalb so beliebt, weil sich die meisten von uns wohl der Idee anschließen würden, dass Leistung belohnt werden sollte.
Dass in der Krise gerade sichtbar wird, wer wie viel leistet, ist der Startpunkt für einen neuen Aushandlungsprozess, der einen alten Mythos verabschiedet: dass harte Arbeit allein reicht, um es nach »oben« zu schaffen. Leistung zeigt sich nicht immer in der Konkurrenz mit anderen. Sie zeigt sich in jedem Fall durch Solidarität, Kooperation und in der Bereitschaft, unangenehme Tätigkeiten zu übernehmen, die überhaupt erst die Basis dafür schaffen, dass auch andere ihren Teil beitragen. Oder anders gesagt: etwas leisten können.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily